Rom hält die Absicht Wiens, Südtirolern, die dies wünschen, die österreichische Staatsbürgerschaft zu gewähren, für eine „unangebrachte und grundsätzlich feindliche Initiative“. Dies ging unlängst aus einer Verlautbarung des Ministers für Parlamentsbeziehungen, Riccardo Fraccaro, als Reaktion auf Agentur- und Presseberichte hervor, wonach der die Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler ermöglichende österreichische Gesetzesentwurf „bis auf wenige textliche Präzisierungen“ bereits ausgearbeitet sei und schon zur nächsten Sitzung der die gesetzlichen Grundlagen erarbeitenden Strategie-Gruppe (Rechtswissenschaftler, Anwälte, Juristen der beteiligten österreichischen Ministerien) vorgelegt werden könne. Außenminister Enzo Moavero Milanesi, der mit den Worten „Der Doppelpass für Südtiroler ist mehr als ein feindseliger, ein kurioser Akt, über dessen Sinnhaftigkeit wir uns befragen“ zitiert wurde, wies den italienischen Botschafter in Wien an, von der österreichischen Regierung eine Stellungnahme zu verlangen und ersuchte die österreichische Botschaft in Rom um „Erklärung“. Botschafter René Pollitzer pflegte daraufhin einen „freundschaftlichen Meinungsaustausch zum Thema Doppelpass für Südtiroler“ mit Milanesi. Dabei dürfte er ihn mit der Wiederholung der von seiner Außenministerin Karin Kneissl vorgegebenen Formel – welche auch die offizielle Position der türkis-blauen Wiener Regierung ist — beruhigt haben, die sinngemäß und stereotyp wie folgt lautet: Das „im EUropäischen Geiste“ angelegte Vorhaben solle „im permanenten Dialog mit Rom und in enger Abstimmung mit Bozen” verwirklicht werden.
Maxime eines Seitenwechslers
Sollte es bei einer anderen öffentlichen Festlegung Wiens bleiben, den Südtirolern die österreichische Staatsbürgerschaft nur im „Einvernehmen mit Italien“ zu erteilen, so liefe dies unweigerlich auf eine politische Selbstfesselung Österreichs hinaus. Warum? Italien lässt wohl kaum von seiner unverrückbar scheinenden Verweigerungshaltung ab, welche Politik und Diplomatie am Tiber in wohllautende Formeln zu kleiden vermögen, in denen Österreich sozusagen als Störenfried der – übrigens längst nicht mehr existenten – „gemeinsamen staatsbürgerschaftsrechtlichen Verfahrensweise“ und also der (auch in anderen Angelegenheiten ins Wanken geratenen) EUropäischen „Ordnung“ erscheinen soll. Seit der Annexion des südlichen Landesteils Tirols und der durch den (Un-)Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye 1919 legitimierten Einverleibung dieser mittels 1915 vollzogenen Seitenwechsels erlangten Kriegsbeute gilt für Rom die vom einstigen Ministerpräsidenten Antonio Salandra (1853–1931) geprägte national(istisch)e Maxime vom „heiligen Eigennutz“ („sacro egoismo“).
Römische Anmaßungen
Schon als bekannt geworden war, dass sich die österreichischen Koalitionäre ÖVP und FPÖ im Regierungsabkommen auf die antragsgebundene Erteilung der Staatsbürgerschaft für berechtigte Südtiroler geeinigt hatten – für die „Türkisen“ eine eher lustlos (und wider einige dagegen Stimmung machende ÖVP-„Granden“ sowie das Duo Achammer und Kompatscher an der Spitze der SVP) eingegangene Angelegenheit; für die „Blauen“ ein junktimierend vorgetragenes Verlangen – reagierte Rom demonstrativ abweisend. Als Außenministerin Kneissl sowie Innenminister Herbert Kickl im März 2018 Südtiroler Landtagsabgeordnete zu Gesprächen über die österreichische Initiative nach Wien eingeladen hatten, erhob der damalige Außenminister Angelino Alfano (Chef der von Berlusconis „Forza Italia“ abgespaltenen „Nuovo Centrodestra“) in der Regierung des Paolo Gentiloni (PD): „Ein Dialog über Südtirol kann nur zwischen Rom und Wien stattfinden, nicht auf gleichberechtigter Basis mit Südtirol, das eine Provinz der Republik Italien ist“.
Ganz gleich, wer nach 1945 in Rom die Regierung bildet(e) — stets betrachtet(e) Italien trotz der auf UN-Resolutionen beruhenden, international gültigen Verträge sowie allen seinen (in Wien, Innsbruck und Bozen meist dankbar aufgenommenen) Bekundungen, wonach die zwischen Brenner und Salurner Klause geltende Autonomie ein beispielhaftes Vorzeige-Modell sei und damit zusammenhängende Fragen stets „im europäischen Geiste“ beantwortet würden, Südtirol als inneritalienische Angelegenheit. Die derzeit amtierende, aus Lega Nord (LN) und Movimento 5 Stelle (M5S; Fünf-Sterne-Bewegung) gebildete Regierung dürfte das wohl kaum anders sehen. Darauf weisen erste, die Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler betreffende kritische bis ablehnende Bekundungen von Südtiroler und Trientiner Funktionären beider Parteien hin.
Staatsoberhaupt Mattarella heuchelt
Umso mehr als sich die „starken Männer“ in der Regierung des (formell parteilosen) Giuseppe Conte, Innenminister Matteo Salvini (LN) sowie Arbeits- und Sozialminister Luigi Di Maio (M5S) nicht klar zu dieser bilateralen Angelegenheit äußern, hat das Wort des italienischen Staatspräsidenten Gewicht. Sergio Mattarella nannte das österreichische Vorhaben unverblümt eine „ohne Bedacht gefasste Initiative“, welche ein Jahrhundert nach Ende des Ersten Weltkriegs sozusagen das „Rad der Geschichte“ zurückzudrehen beabsichtige. Das könne — „nach „Überwindung der Grenzen, der großen Errungenschaft der Geschichte und der Menschheit“ – zu neuerlicher Abgrenzung führen.
Doch diese Position des italienischen Staatsoberhaupts ist pure Heuchelei. Natürlich weiß Mattarella, dass sein Land italienischstämmigen Bürgern überall auf der Welt auf Antrag die italienische Staatsbürgerschaft erteilt. Davon machten mehr als eine Million Menschen (insbesondere in Süd- und Nordamerika) Gebrauch. Italien hat übrigens das 1975 getroffene Europaratsabkommen zur „Verringerung von Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit“ eigens aufgekündigt und mit dem Gesetz Nr. 91 (1992) nicht nur sein (aus dem Jahre 1912 stammendes) Staatsbürgerschaftsgesetz entsprechend geändert, sondern mit Gesetz Nr. 124 (2006) den im slowenischen Küstenland sowie in Kroatien (Istrien, Fiume, Dalmatien) ansässigen ethnischen Italienern die Möglichkeit des Erwerbs seiner Staatsbürgerschaft eröffnet. Davon wiederum machten 37.000 Personen Gebrauch.
Italien hat allen Auslandsitalienern auch das aktive und passive Wahlrecht sowie feste Parlamentssitze (12 Vertreter in der Abgeordnetenkammer und 6 Vertreter im Senat) zugestanden. Kein anderer Staat, um dessen primäre Staatsbürger es dabei ja ging, ist um sein Einverständnis ersucht worden; Italien hat in seinem nationalen Interesse die Voraussetzungen und kraft eigener Souveränität die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen.
„Quod licet ….“
Österreich hingegen soll nicht Gleichartiges für den deutsch-österreichischen und ladinisch-österreichischen Bevölkerungsteil Südtirols tun dürfen, deren Vorfahren Staatsbürger Österreichs waren wie die Istrianer, Fiumener und Dalmatiner (respektive die Nachfahren der nach Brasilien, Argentinien bzw. in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Italiener) Staatsbürger Italiens? Soll also gelten, worauf die italienische Haltung – so etwa in der Selbstbestimmungsfrage, die es 1945/46 hinsichtlich Südtirols gegenüber Österreich verweigerte, 1954 aber für Triest und das Hinterland gegenüber Jugoslawien beanspruchte — hindeutet, nämlich die altrömische Maxime „Quod licet Iovi non licet bovi“ („Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt“)?.
Vorgesehener Personenkreis
Keineswegs. Niemand, auch Rom nicht, kann Wien untersagen, im eigenen nationalen Interesse zu handeln und kraft eigener Souveränität die rechtliche Grundlage für die im Koalitionsvertrag/Regierungsübereinkommen von ÖVP und FPÖ (vom 19. Dezember 2017) vorgesehene Erteilung der österreichischen Staatsbürgerschaft zu schaffen, welche für „die Angehörigen der Volksgruppen deutscher und ladinischer Muttersprache in Südtirol, für die Österreich auf der Grundlage des Pariser Vertrages und der nachfolgenden späteren Praxis die Schutzfunktion ausübt“, gelten soll. Besagter Personenkreis bliebe, sofern von den 528.379 Südtirolern (Wohnbevölkerung im 1. Quartal 2018 laut Landesstatistik-Institut ASTA) alle gemäß dieser Definition Anspruchsberechtigten (62,3 % deutschösterreichischer Ethnizität = 329.180 Personen; 4,1% ladinischösterreichischer Ethnizität = 21.663 Personen) tatsächlich den österreichischen Pass beantragten und annähmen, weit unter der Zahl der gut 1,2 Millionen Auslandsitaliener, denen Rom aufgrund seines Staatsbürgerschaftsrecht den italienischen Paß zuerkannte.
Im Übrigen hätten, wenn Österreich den Kreis der Anspruchsberechtigten nach Art Italiens festlegen wollte, auch die Nachfahren aller vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Trentino Ausgewanderten ein Anrecht auf die österreichische Staatsbürgerschaft; denn die ausgewanderten Trentiner, formell zuvor Staatsbürger Österreich(-Ungarn)s, konnten sich seinerzeit gemäß Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye entweder für die österreichische oder für die italienische Staatsbürgerschaft entscheiden. Dieses Faktum wurde in Süd- und Nordamerika, wohin sie einst emigrierten, entweder nicht bekannt, oder sie machten nicht davon Gebrauch. Mit dem Gesetz 91/1992 schuf Rom ihren Nachkommen die Möglichkeit der „Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft“. Faktum ist, dass nach übereinstimmenden italienischen Zeitungsberichten „mehr als eine Million Auslandsitaliener“ an der vorgezogenen Parlamentswahl am 4. März 2018 teilnahmen.
Und Trentiner?
Sofern Wien darin eine historisch-politische Verpflichtung sähe, müsste es – nach italienischem Vorbild; siehe Ethno-Italiener in Slowenien und Kroatien – eigentlich weitere Personengruppen zum Kreis der Anspruchsberechtigten zulassen. So wurden im Trentino erste Stimmen laut, die das Recht, wie es den Südtirolern zuteilwerden soll, auch für jene Trentiner einfordern, die „in der k.u.k.-Monarchie wurzeln“. Die Trentiner Autonomistenpartei PATT mahnte, Österreichs Regierung möge beim Thema Doppelpass „die im Trentino lebenden Nachkommen ehemaliger Bürger der k.u.k.-Monarchie nicht vergessen. Auch unsere Vorfahren waren Bürger von Österreich-Ungarn. Auch unsere Großväter sind im Ersten Weltkrieg zu Tausenden in den Reihen des Heeres Kaiser Franz Josefs gestorben“, schrieben PATT-Vorsitzender Federico Masera und sein Vize Simone Marchiori in ihrer Verlautbarung.
Drei exkorporierte ladinische Gemeinden
Darüber hinaus wäre es nur folgerichtig, auch die Ladiner der Gemeinden Cortina d’Ampezzo (ladinisch Anpezo, deutsch Haiden), Colle Santa Lucia (ladinisch Col, deutsch Verseil) und Livinallongo del Col di Lana (ladinisch Fodom, deutsch Buchenstein) in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufzunehmen, deren unbestreitbare Tiroler bzw. altösterreichische Geschichte in nichts von den übrigen Gemeinden Südtirols abweicht – außer dass sie unter dem Faschismus gegen den Willen der Bevölkerung der Provinz Belluno inkorporiert wurden. Die drei Gemeinden haben just im „demokratischen Italien“ immer wieder vergeblich versucht, die 1923 erzwungene Exkorporierung aus (Süd-)Tirol zu revidieren. Selbst einem Referendum, in dem sich 2007 mehr als 70 Prozent der Abstimmungsberechtigten für die Rückgliederung an die Region Trentino-Südtirol aussprachen, ist von Rom nicht entsprochen worden.
Kanaltal und Sprachinseln?
Darüber hinaus wären gewiss auch die Bewohner des Kanaltals (Gebiet Tarvisio, deutsch Tarvis, in der Provinz Udine) historisch-politisch anspruchsberechtigt. Das Kanaltal gehörte bis 1919 zu Kärnten. In Saint-Germain wurde es Italien zugesprochen, obwohl 79,1 Prozent der Bevölkerung Deutsch, 20,8 Prozent Slowenisch und nur 0,1 Prozent (oder zehn Personen) Italienisch als Umgangssprache angegeben hatten. Auch die Bewohner der eine Sonderstellung einnehmenden deutschen Sprachinseln Tischlwang (Timau/Tamau; 520 Einwohner; Gemeinde Paluzza; Provinz Udine), Zahre (Sauris; 410 Einwohner; Provinz Udine), Bladen/Plodn (Sappada, 1320 Einwohner; Provinz Udine), des Fersentals (kam im Vertrag von Saint-Germain an Italien) und Luserns (Luserna; 273 Einwohner; Provinz Trient), sowie die der Sieben Gemeinden (Sette Comuni; auf der Hochebene von Asiago; ca. 21.000 Bewohner; Provinz Vicenza) und der Dreizehn Gemeinden (Tredici Comuni; am Südabhang der Lessinischen Alpen; ca. 14.000 Einwohner; Provinz Verona) hätten eigentlich ein Anrecht auf gewissenhafte Prüfung der Anspruchsberechtigung für die österreichische Staatsbürgerschaft.
Im nationalen Interesse Österreichs
Würden letztgenannte Personenkreise Berücksichtigung finden – was nach der im Wiener Koalitionsabkommen enthaltenen Vorgabe und den aus der sogenannten Strategie-Gruppe durchgesickerten spärlichen Informationen auszuschließen ist – so wäre unter dem von Regierungsseite bekundeten Aspekt unbedingter Einvernahme mit (dem ohnedies sperrigen bis unwilligen) Italien das Vorhaben überfrachtet und höchstwahrscheinlich chancenlos. Angesichts dessen fragt man sich unwillkürlich, wieso niemand aus der österreichischen Regierung den Schneid besitzt, dem italienischen Gegenüber und der internationalen Öffentlichkeit nicht nur dessen eigenes Verhalten in Staatsbürgerschaftsangelegenheiten vorzuhalten, sondern auch auf das alleinige Recht des souveränen Österreich hinweisend zu bestehend, seine Staatsbürgerschaft zu verleihen wem immer es will.
Es gibt schließlich sowohl im nachbarschaftlichen Verhältnis als auch in der internationalen Politik nicht nur Partner, sondern auch (und vor allem nationale) Interessen. Wien hat es nicht nötig, in Rom zu antichambrieren. Hasenfüßigkeit zahlt sich schon gar nicht aus. Außenministerin Kneissl sollte sich daher beim Wort nehmen und ihre absolut zutreffende Sentenz, welche sie unlängst — auf die Außen- und Energiepolitik der EU bezogen — in einem Beitrag für die Zeitung „Die Presse“, verwandt hat, als Handlungsmaxime vorgab: Es sei „hoch an der Zeit“ für „eine von eigenen Interessen geleitete Politik“, schrieb sie. In der „Causa Staatsbürgerschaft für Südtiroler“ wird sie ebenso daran gemessen werden, wie die gesamte österreichische Bundesregierung.