Der Geist Ossietzkys
Nun darf man sich fragen, worin dieser „Geist“ Ossietzkys, auf den sich die empörten Studenten, Gewerkschaftler, Arbeitslose und andere gesellschaftliche Kräfte in Oldenburg berufen, denn eigentlich genau besteht. Denn klar ist, dass eben dieser Ossietzky ab 1927 Herausgeber der „Weltbühne“ war. Einer Zeitung also, in der kritische und unangepasste Autoren wie Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, Erich Mühsam, Arnold Zweig und viele andere dediziert regierungskritisch schrieben und teilweise auch polemisierten und der Nachwelt ein beredtes Protokoll des politischen Zeitgeistes hinterließen, der in den Niedergang der Weimarer Republik und in den unheilvollen Aufstieg des Nationalsozialismus führte. Die Weltbühne schrieb gegen den Gleichschritt an, der sich allmählich Bahn brach und den das teils konfuse Regierungshandeln in der Weimarer Zeit nicht aufhalten konnte. Die Studenten jedoch, die heute Sinns Vortrag verhindern wollten, sind hingegen voll auf Regierungslinie und es ist schon ziemlich dreist, dass sie sich bei ihren Boykottversuchen ausgerechnet auf den „Geist Ossietzkys“ berufen.
Was genau wirft man Professor Sinn denn nun vor? „Sinns Positionen“, so heißt es in der Erklärung, „bedeuteten mehr ökologisch schädlichen Ressourcenverbrauch, soziale Ausgrenzung und mehr soziale Ungerechtigkeit.“ Dabei sollte den Studenten klar sein, dass Ihre Eltern es waren, die durch die Entscheidung, Kinder zu bekommen, selbst den ökologisch verheerendsten Weg eingeschlagen haben. Weiß man doch mittlerweile, dass man durch keinen Konsumverzicht so viel zur Vermeidung des verteufelten CO2-Ausstoßes beitragen kann, wie durch die Verweigerung der Fortpflanzung. Die Kinder dieser Umweltsünder stecken ihre Nasen nun nicht etwa beschämt in die Ackerfurche, um durch Ausstieg aus der Zivilisation und mit kleinem ökologischem Fußabdruck den Planeten zu retten, sondern studieren ressourcenverschwendende Fächer wie Soziologie, Pädagogik oder Umweltmanagement. Konsequent ist man nur gegenüber Ideen, die nicht ins dogmatische Weltbild passen.
Was die Positionen Sinns angeht und welche genau die Adepten des Verzichts da im Auge haben mögen, so sind diese zunächst mal nichts anderes als Positionen. Theorie, Gedanken, Ideen und Formeln. Wenn die freiwillige Gedankenkontrolle unserer künftigen Geisteselite bereits die Emissionen von Gedanken bewertet, hat man die geistige Freiheit, die von der Möglichkeit der geistigen Beweglichkeit in alle Richtungen lebt, längst aufgegeben. Womöglich eine Folge der rücksichtslosen Verbachelorung der jungen Köpfe, die deshalb nicht mehr befähigt werden zu bemerken, wie glattgelutscht und angepasst die Gedanken sind, die sie für die eigenen halten. Unangepasstes, freies Denken wird kaum noch gefördert und ist unerwünscht, weil es die im Gleichschritt laufenden Weltenretter aus dem Takt bringen könnte.
Ein glühender Vorwurf
Sinn sei außerdem „glühender Verfechter der Atomenergie und er will die Flüchtlingssituation zum Anlass nehmen, Löhne abzusenken.“ Ist es denn überhaupt noch erlaubt, Verfechter der Atomenergie zu sein? Hat nicht ein Tsunami in Japan überall in der Welt dieses Licht in den Köpfen ausgeblasen? Nein, nur in Deutschland schaltete das Zusammenspiel einer Naturkatastrophe und technischer Schlamperei in Japan alle Atomkraftwerke ab, während in Japan selbst nur eines endgültig vom Netz ging. Sinn ist auch kein „glühender Verfechter“ dieser Energieform, was auch immer derlei Leidenschaftsvorwürfe über eine Energieform aussagen sollen. „Glühende Verfechter“ der Erneuerbaren Energien – und wer wollte bestreiten, dass es die gibt – müssen sich ja auch nicht permanent auf ihren Geisteszustand hin überprüfen lassen, auch wenn ich das durchaus befürworten würde. Frei sprechen dürfen diese „Verfechter” hingegen jederzeit, keine Gewerkschaft und kein AStA, der irgendwo hemmend eingriffe.
Doch Sinn gehört zu denen, die im Gegensatz zu den Grünen, die das immer nur behaupten, die Energiewende tatsächlich mal genau durchgerechnet haben. Er kommt zu verheerenden Ergebnissen, was die Machbarkeit anbelangt und seine Berechnungen sind bis heute unwiderlegt. Was liegt also näher, als ihm Kumpanei mit der Atomenergie vorzuwerfen, um ihn dann in einem Akt der moralischen Hygiene vom Diskurs auszuschließen? In geradezu inquisitorischer Weise soll Sinn zum Schweigen gebracht werden, derweil an der Uni Oldenburg weiter fleißig an der Akzeptanz der Energiewende gestrickt wird.
Und was ist dran am Vorwurf, Sinn wolle „die Löhne absenken“? Ist er ein König? Ein Gewerkschaftsführer gar? Oder legt er die Mindestlöhne fest? Nein! Was er allerdings messerscharf anmerkte, war, dass eine wie auch immer einzuordnende Massenmigration gering bis gar nicht qualifizierter Menschen in ein Land, dass sich gerade in großen Teilen auf einen Mindestlohn verständigt hat, Gift für den Arbeitsmarkt und damit auch für unsere Sozialsysteme ist. Der Preis der Überregulierung unserer Wirtschaft ist eben, dass sie immer neue und komplexere Regulierungen nach sich zieht. Man muss dem Onkel Professor schon mal richtig zuhören, liebe Kinder! Oder fürchtet ihr womöglich, bei der von Sinn geforderten „Immigration von Hochqualifizierten“ aufgrund eurer Studienfächer keinen Stich sehen zu können, weshalb euch die Immigration Unqualifizierter zweckmäßiger erscheint? Wie dem auch sei, liebe Studenten, Gewerkschaftler, Trotzkisten, Chè-Fans, Taubenzüchter und Sonstige Oldenburger, von einem derart larmoyanten und peinlichen Aufruf zur vorauseilenden Zensur wie dem euren hört man selbst dieser Tage nicht oft. Die Tatsache, dass die Veranstaltung ausgebucht ist, es also offensichtlich Menschen gibt, die Professor Sinn zuhören möchten, sollte euch jedoch zu denken geben.
Übrigens…
Die letzte Ausgabe von Ossietzkys „Weltbühne“ vor dem Verbot erschien am 7. März 1933 und endete mit den Worten „Denn der Geist setzt sich doch durch“ – ob der Oldenburger Protest, der sich ausgerechnet gegen einen Vortrag eines der renommiertesten Volkswirtschaftler Deutschlands richtet, sich also wirklich ausgerechnet auf den Geist Ossietzkys berufen kann, wage ich zu bezweifeln! Denn wenn es bereits ein Problem für die „Weltoffenheit“ einer Universität darstellt, einen deutschen Professor für Volkswirtschaft ungehindert sprechen zu lassen, ist es mit der Weltoffenheit in den Köpfen der Kritiker nicht weit her. Diese Meinungshygieniker handeln wohl eher im Geist eines Diederich Heßling aus Manns Roman „Der Untertan“: als obrigkeitshörige Mitläufer, Konformisten, die bar jeder Zivilcourage sind und Angst vor Ideen haben, die sie nicht verstehen.