IB-Aktivisten demonstrieren gegen das NetzDG, das das Grundrecht auf Meinungsfreiheit extrem bedroht (c) IB/Twitter

Die „Welt­of­fenheit“ möchte Zensor der Mei­nungs­freiheit sein

Von Roger Letsch | Lange kann es nicht mehr dauern, bis kom­mu­nis­tische Stu­den­ten­gruppen wieder Hörsäle besetzen, um Vor­träge im Namen der Welt­of­fenheit zu ver­bieten und die Mei­nungs­freiheit mit zahl­reichen Aus­nahmen zu ver­sehen. Doch im Unter­schied zu den Kom­mu­narden der 68er treiben die Bar­ri­kadler des Jahres 2018 nicht die Regierung und die unbe­wäl­tigte Ver­gan­genheit ihrer Eltern, sondern Regie­rungs­kri­tiker auf die Gesin­nungs­palme. Die „Carl von Ossietzky“ Uni­ver­sität Oldenburg besaß nämlich die Kühnheit, als Fest­redner zum Semes­ter­start aus­ge­rechnet Pro­fessor Hans-Werner Sinn ein­zu­laden, und der AStA, diverse Gewerk­schaften, die Arbeits­lo­sen­hilfe Oldenburg und wahr­scheinlich auch noch die Tau­ben­züchter aus Bux­tehude drehen voll­kommen durch! Wie konnte man nur! Aus­ge­rechnet Sinn! Ein Ökonom, der poli­tische Ent­schei­dungen im Licht öko­no­mi­scher Zweck­mä­ßigkeit und Mach­barkeit betrachtet – also im Grunde das tut, was seiner Pro­fession ent­spricht, anstatt einer poli­ti­schen Agenda das Wort zu reden – der soll an einer Uni­ver­sität sprechen dürfen, über welcher „der Geist Ossietzkys“ schwebt? Das hätte man doch gern ver­hindert, weil es der „Welt­of­fenheit“ der Uni Oldenburg schaden könnte. Ein Fest­vortrag des lang­jäh­rigen Direktors des Münchner IFO-Instituts stört also die Welt­of­fenheit – egal wie oft man diesen Satz auch liest, die Bor­niertheit ist einfach nicht zu fassen!

Der Geist Ossietzkys

Nun darf man sich fragen, worin dieser „Geist“ Ossietzkys, auf den sich die empörten Stu­denten, Gewerk­schaftler, Arbeitslose und andere gesell­schaft­liche Kräfte in Oldenburg berufen, denn eigentlich genau besteht. Denn klar ist, dass eben dieser Ossietzky ab 1927 Her­aus­geber der „Welt­bühne“ war. Einer Zeitung also, in der kri­tische und unan­ge­passte Autoren wie Kurt Tucholsky, Lion Feucht­wanger, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, Erich Mühsam, Arnold Zweig und viele andere dedi­ziert regie­rungs­kri­tisch schrieben und teil­weise auch pole­mi­sierten und der Nachwelt ein beredtes Pro­tokoll des poli­ti­schen Zeit­geistes hin­ter­ließen, der in den Nie­dergang der Wei­marer Republik und in den unheil­vollen Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lismus führte. Die Welt­bühne schrieb gegen den Gleich­schritt an, der sich all­mählich Bahn brach und den das teils konfuse Regie­rungs­handeln in der Wei­marer Zeit nicht auf­halten konnte. Die Stu­denten jedoch, die heute Sinns Vortrag ver­hindern wollten, sind hin­gegen voll auf Regie­rungs­linie und es ist schon ziemlich dreist, dass sie sich bei ihren Boy­kott­ver­suchen aus­ge­rechnet auf den „Geist Ossietzkys“ berufen.
Was genau wirft man Pro­fessor Sinn denn nun vor? „Sinns Posi­tionen“, so heißt es in der Erklärung, „bedeu­teten mehr öko­lo­gisch schäd­lichen Res­sour­cen­ver­brauch, soziale Aus­grenzung und mehr soziale Unge­rech­tigkeit.“ Dabei sollte den Stu­denten klar sein, dass Ihre Eltern es waren, die durch die Ent­scheidung, Kinder zu bekommen, selbst den öko­lo­gisch ver­hee­rendsten Weg ein­ge­schlagen haben. Weiß man doch mitt­ler­weile, dass man durch keinen Kon­sum­ver­zicht so viel zur Ver­meidung des ver­teu­felten CO2-Aus­stoßes bei­tragen kann, wie durch die Ver­wei­gerung der Fort­pflanzung. Die Kinder dieser Umwelt­sünder stecken ihre Nasen nun nicht etwa beschämt in die Acker­furche, um durch Aus­stieg aus der Zivi­li­sation und mit kleinem öko­lo­gi­schem Fuß­ab­druck den Pla­neten zu retten, sondern stu­dieren res­sour­cen­ver­schwen­dende Fächer wie Sozio­logie, Päd­agogik oder Umwelt­ma­nagement. Kon­se­quent ist man nur gegenüber Ideen, die nicht ins dog­ma­tische Weltbild passen.
Was die Posi­tionen Sinns angeht und welche genau die Adepten des Ver­zichts da im Auge haben mögen, so sind diese zunächst mal nichts anderes als Posi­tionen. Theorie, Gedanken, Ideen und Formeln. Wenn die frei­willige Gedan­ken­kon­trolle unserer künf­tigen Geis­tes­elite bereits die Emis­sionen von Gedanken bewertet, hat man die geistige Freiheit, die von der Mög­lichkeit der geis­tigen Beweg­lichkeit in alle Rich­tungen lebt, längst auf­ge­geben. Womöglich eine Folge der rück­sichts­losen Ver­ba­che­lorung der jungen Köpfe, die deshalb nicht mehr befähigt werden zu bemerken, wie glatt­ge­lutscht und ange­passt die Gedanken sind, die sie für die eigenen halten. Unan­ge­passtes, freies Denken wird kaum noch gefördert und ist uner­wünscht, weil es die im Gleich­schritt lau­fenden Wel­ten­retter aus dem Takt bringen könnte.

Ein glü­hender Vorwurf

Sinn sei außerdem „glü­hender Ver­fechter der Atom­energie und er will die Flücht­lings­si­tuation zum Anlass nehmen, Löhne abzu­senken.“ Ist es denn über­haupt noch erlaubt, Ver­fechter der Atom­energie zu sein? Hat nicht ein Tsunami in Japan überall in der Welt dieses Licht in den Köpfen aus­ge­blasen? Nein, nur in Deutschland schaltete das Zusam­men­spiel einer Natur­ka­ta­strophe und tech­ni­scher Schlam­perei in Japan alle Atom­kraft­werke ab, während in Japan selbst nur eines end­gültig vom Netz ging. Sinn ist auch kein „glü­hender Ver­fechter“ dieser Ener­gieform, was auch immer derlei Lei­den­schafts­vor­würfe über eine Ener­gieform aus­sagen sollen. „Glü­hende Ver­fechter“ der Erneu­er­baren Energien – und wer wollte bestreiten, dass es die gibt – müssen sich ja auch nicht per­manent auf ihren Geis­tes­zu­stand hin über­prüfen lassen, auch wenn ich das durchaus befür­worten würde. Frei sprechen dürfen diese „Ver­fechter” hin­gegen jederzeit, keine Gewerk­schaft und kein AStA, der irgendwo hemmend eingriffe.
Doch Sinn gehört zu denen, die im Gegensatz zu den Grünen, die das immer nur behaupten, die Ener­gie­wende tat­sächlich mal genau durch­ge­rechnet haben. Er kommt zu ver­hee­renden Ergeb­nissen, was die Mach­barkeit anbe­langt und seine Berech­nungen sind bis heute unwi­derlegt. Was liegt also näher, als ihm Kum­panei mit der Atom­energie vor­zu­werfen, um ihn dann in einem Akt der mora­li­schen Hygiene vom Diskurs aus­zu­schließen? In geradezu inqui­si­to­ri­scher Weise soll Sinn zum Schweigen gebracht werden, derweil an der Uni Oldenburg weiter fleißig an der Akzeptanz der Ener­gie­wende gestrickt wird.
Und was ist dran am Vorwurf, Sinn wolle „die Löhne absenken“? Ist er ein König? Ein Gewerk­schafts­führer gar? Oder legt er die Min­dest­löhne fest? Nein! Was er aller­dings mes­ser­scharf anmerkte, war, dass eine wie auch immer ein­zu­ord­nende Mas­sen­mi­gration gering bis gar nicht qua­li­fi­zierter Men­schen in ein Land, dass sich gerade in großen Teilen auf einen Min­destlohn ver­ständigt hat, Gift für den Arbeits­markt und damit auch für unsere Sozi­al­systeme ist. Der Preis der Über­re­gu­lierung unserer Wirt­schaft ist eben, dass sie immer neue und kom­plexere Regu­lie­rungen nach sich zieht. Man muss dem Onkel Pro­fessor schon mal richtig zuhören, liebe Kinder! Oder fürchtet ihr womöglich, bei der von Sinn gefor­derten „Immi­gration von Hoch­qua­li­fi­zierten“ auf­grund eurer Stu­di­en­fächer keinen Stich sehen zu können, weshalb euch die Immi­gration Unqua­li­fi­zierter zweck­mä­ßiger erscheint? Wie dem auch sei, liebe Stu­denten, Gewerk­schaftler, Trotz­kisten, Chè-Fans, Tau­ben­züchter und Sonstige Olden­burger, von einem derart lar­moy­anten und pein­lichen Aufruf zur vor­aus­ei­lenden Zensur wie dem euren hört man selbst dieser Tage nicht oft. Die Tat­sache, dass die Ver­an­staltung aus­ge­bucht ist, es also offen­sichtlich Men­schen gibt, die Pro­fessor Sinn zuhören möchten, sollte euch jedoch zu denken geben.

Übrigens…

Die letzte Ausgabe von Ossietzkys „Welt­bühne“ vor dem Verbot erschien am 7. März 1933 und endete mit den Worten „Denn der Geist setzt sich doch durch“ – ob der Olden­burger Protest, der sich aus­ge­rechnet gegen einen Vortrag eines der renom­mier­testen Volks­wirt­schaftler Deutsch­lands richtet, sich also wirklich aus­ge­rechnet auf den Geist Ossietzkys berufen kann, wage ich zu bezweifeln! Denn wenn es bereits ein Problem für die „Welt­of­fenheit“ einer Uni­ver­sität dar­stellt, einen deut­schen Pro­fessor für Volks­wirt­schaft unge­hindert sprechen zu lassen, ist es mit der Welt­of­fenheit in den Köpfen der Kri­tiker nicht weit her. Diese Mei­nungs­hy­gie­niker handeln wohl eher im Geist eines Diederich Heßling aus Manns Roman „Der Untertan“: als obrig­keits­hörige Mit­läufer, Kon­for­misten, die bar jeder Zivil­courage sind und Angst vor Ideen haben, die sie nicht verstehen.


Quelle: unbesorgt.de