von Roger Letsch | Was genau konnte man dem Artikel „Der gefühlte Jude“ im Spiegel 43/2018 denn nun entnehmen? Wolfgang Seibert, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Pinneberg, sei ein Hochstapler, so die Autoren Martin Doerry und Moritz Gerlach. Die abenteuerliche Geschichte seiner Herkunft und die angebliche jüdische Mutter wollten so gar nicht zu dem passen, was die Nachforschungen der Autoren ergaben. Ergebnis des mehrseitigen Spiegel-Berichtes ist, dass Seibert, der unmittelbar nach dem Erscheinen des Artikels noch eine Stellungnahme ankündigte, von seinem Amt zurücktrat und um Entschuldigung bat.
Soweit die Fakten. Der Image-Schaden, den die betrogene jüdische Gemeinde Pinneberg erlitt, dürfte beträchtlich sein. Ob der jahrelange Betrug rechtliche Konsequenzen haben wird, ist noch nicht abzusehen. Die nachgeschickte Erklärung von Seiberts Anwalt könnte gut als Fortschreibung des Spiegel-Artikels durchgehen. Denn immer dann, wenn eine der Lügen Seiberts aufflog, rettete er sich in die nächste, noch abenteuerlichere. Nun behauptet er, jüdische Pflegeeltern gehabt zu haben, nachdem seine erste Geschichte aufgeflogen war — der Mann kann einem nur leidtun! Doch das alles ist nicht Gegenstand dieses Artikels, sondern nur das Faktengerüst für zwei Fragen.
Erste Frage
Wozu die Maskerade? Warum legt man sich heute überhaupt eine andere Identität zu? Ich rede ja nicht von der Manie, Julius Caesar oder Napoleon I. zu sein, sondern von Gruppen-Identitäten. Der Spiegel sprach im Fall Seibert von dessen „geradezu unangreifbarer jüdischen Identität“ und liegt damit womöglich nahe an der Wahrheit. Ob eine Affinität für jüdische Religion und Kultur dabei für Seibert eine Rolle spielte, sei mal dahingestellt. Aber die Tendenz, sich im heutigen Diskurs besser in einer möglichst klar definierten und gefühlt oder tatsächlich diskriminierten Minderheit zu verorten, um den eigenen Ansichten und Zielen Nachdruck zu verleihen, liegt auf der Hand. Die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland sei, so raunt es in „progressiven linken Kreisen”, weiß, alt, christlich, rechts, irgendwie männlich und chauvinistisch by nature. Man sollte also möglichst bunt, jung, religiös, nicht christlich, links, weiblich und feministisch sein, um gesellschaftliche Relevanz zu haben. Dass sich ein Deutscher dabei als Jude ausgibt, hat angesichts der Geschichte aber schon ein besonderes G’schmäckle, wenn es auch kein neues Phänomen ist, wie der Fall Wachendorff vor wenigen Jahren zeigte.
Zweite Frage
Wozu jedoch die Verteidigung des geständigen Seibert? Es gab nämlich eine solche, die den Spiegel-Artikel mit einer Breitseite an Vorwürfen und Anschuldigungen angriff. Und zwar von Rosa Fava auf „Belltower“, der Medien- und Meldeplattform der Amadeu-Antonio-Stiftung. Fava eröffnet gleich mit der Frage „Bestimmt der Spiegel nun, was jüdisch ist?“ und antwortet gleich selbst und richtig: „Nein, das tun die jüdischen Gemeinden“. Nur wurden die im Fall Seibert aber auch getäuscht, was den Spiegel in diesem Fall zumindest zu dem Spielverderber macht, der er nach eigenem Dafürhalten als Pressemedium sein will und auch sein sollte. Man mag es kaum glauben, weil es schon so lange nicht mehr so ist in diesem Land, aber die Aufgabe der Presse ist es, durch gründliche Recherche Missständen auf die Spur zu kommen, die von öffentlichem Interesse sind, weil zum Beispiel öffentliche Gelder im Feuer stehen oder Betrug vorliegt. Wenn Menschen getäuscht, Behörden und Öffentlichkeit hinters Licht geführt werden, liegt es ausdrücklich im öffentlichen Interesse, die Ergebnisse dieser Recherchen in Druck zu geben. Frau Fava fordert stattdessen folgendes:
„Anstatt sich mit den Unterlagen, die zu belegen scheinen, dass Seibert sich nicht vorhandene jüdische Vorfahren erdacht hat, vertraulich an den Landesverband oder andere jüdische Instanzen zu wenden und ihnen den Umgang mit den Informationen zu überlassen, ließen die Autoren unter dem Titel „Der gefühlte Jude“ die Bombe platzen.“
Vorab: Sie scheinen nicht zu belegen, sie belegen! Außerdem hatten sich schon andere Zweifler Jahre zuvor an Seiberts Vorgesetzte gewandt, deren Nachfragen Seibert jedoch stets zerstreuen konnte und mit eilig herbeigeschafften Dokumenten unterlief. Und seit wann ist es Aufgabe der Presse, sich vertraulich mit den Unterlagen an irgendwen zu wenden, außer an den Leser? Die Argumentation Favas erinnert stark an Franz-Josef Strauß, der Vergleichbares 1962 ebenfalls vom Spiegel forderte. Was ist das bitte für ein Verständnis von Journalismus? Seiberts Tätigkeit für die Gemeinde kam aufgrund eines Betruges zustande, Punkt! Statt sich nun mit diesem unfassbaren Fall zu beschäftigen, geht Fava auf die Autoren des Artikels los und spricht von „Generalabrechnung“, „Jews are news“ und fragt sich, ob es wohl beabsichtigt sei, in diesem Fall einfach die „Wahrheit“ zu schreiben (nicht meine Anführungszeichen).
Ich zähle mich selbst zu denen, die Antisemitismus eine Meile gegen den Wind riechen und diese Geisteshaltung verurteilen und gegen sie anschreiben, wo es nur geht. Aber all die antisemitischen Anfeindungen, die Rosa Fava den Autoren des Spiegel-Artikels in diesem Fall um die Ohren schlägt, gehen komplett ins Leere. Die von ihr aufgefundenen „Antisemitischen Topoi“ Geld (Vorwurf der Habgier), Raffinesse (Konspiration, Vorwurf der Verschwörung) treffen ja keinen Juden, sondern Seibert, der sich als Jude ausgab! Es gibt keinen Antisemitismus, der sich nicht gegen Juden richtet – es sei denn, die Amadeu-Antonio-Stiftung hat ihn erfunden. Was zurückbleibt, ist die jüdische Gemeinde Pinneberg, die einem Betrüger aufgesessen ist. Diesen Betrüger nun ausgerechnet gegen angeblichen Antisemitismus in Schutz zu nehmen, wie es Frau Fava tut, ist ein Bärendienst für die geprellten Gemeindemitglieder!
Mit dem Wissen, dass Wolfgang Seibert seinen Betrug zugegeben hat und um Entschuldigung bat, erscheint der vorletzte Absatz des Belltower-Artikels besonders peinlich: „Der Spiegel betreibt mit dem Artikel eine Selbstermächtigung nichtjüdischer Deutscher gegenüber einer gefühlten jüdischen Autorität als Widerstand gegen Handlungsmaxime, die sich aus der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ergeben würden und als Unfreiheit empfunden werden. Quintessenz des Ganzen ist: Wir trotzen den (gefühlten!) Beschränkungen nach Auschwitz und wer Jude ist, entscheiden wir. Die Welt soll das wissen.“
Mit „Selbstermächtigung nichtjüdischer Deutscher” meint Fava nicht etwa Seibert, der diese Bezeichnung verdient hätte, sondern die Spiegel-Autoren. Die Quintessenz ist, dass die Amadeu-Antonio-Stiftung einer freundlichen Aufforderung, im Lichte der neuesten Ereignisse ihren Artikel besser zu löschen, also ihr den richtigen „Umgang mit den Informationen“ zu überlassen, nicht nachkam. Dabei postete Frau Kahane auf ihrer Facebook-Seite noch vor einigen Tagen selbst Folgendes: „Liebe Leute, ich sehe es ähnlich wie ihr. Ich diskutiere das mit der Kollegin.“
Geschehen ist nichts. Der faktenfremde Artikel von Frau Fava steht immer noch auf der Seite der Amadeu-Antonio-Stiftung. Eine Stiftung, deren erklärte Aufgabe es ist, gegen Hate-Speech anzutreten, hat also offenbar kein Problem damit, auf ihren eigenen Seiten gegen Journalisten zu hetzen und ihnen Nähe zu Nazimethoden vorzuwerfen.
Lieber trotzt man durch Selbstermächtigung den Fakten und ignoriert sie, wenn sie nicht zur eigenen Handlungsmaxime passen. Zu dieser Maxime gehört, dass Seibert seit Jahren gut und laut vernetzt ist im linken bis ganzweitlinken Milieu und gern gesehener Gast in der „Roten Flora” sowie gern zitierter Antisemitismusexperte zum Beispiel in der TAZ war. Das nun ausgerechnet er durch Betrug als Gewährsmann auch für die Kahane-Stiftung ausfällt, die in Sachen Antisemitismus nur nach rechts blickt, auf dem linken Auge jedoch erstaunlich blind ist (ganz zu schweigen von der Blindheit gegenüber muslimischem Antisemitismus), muss schmerzhaft sein. Der fällige Schrei sollte aber sinnvoller nach innen gehen, anstatt sich auf zwei Redakteure zu stürzen, die einfach nur ihre Arbeit machten.
Deshalb kann ich mir den Schlusssatz Frau Favas auch nicht zueigen machen, in welchem sie dazu auffordert, Nachforschungen doch besser bleiben zu lassen und auf das zu hören, was von ihrem „Belltower” als Wahrheit verkündet wird: „Besser ist: Lassen Sie die Kirchenbücher ungeöffnet, wenden Sie sich an die nächstgelegene jüdische Autorität und das sollten Sie, ja genau, wegen jener zwölf Jahre tun.“
Ich hab’s nämlich nicht so mit Autoritäten, egal, wie diese sich zu legitimieren versuchen!, denen nicht grundsätzlich zu trauen ist — auch eine Lehre aus „jenen zwölf Jahren“ und den vierzig Jahren danach.