Vor zehn Jahren erreichte die Panik an den Finanzmärkten ihren Höhepunkt. Die Notenbanken haben damals die Kernschmelze verhindert. Der Preis war allerdings hoch.
Am 6. März 2009 musste man Mut haben. Die Stimmung war schlecht, das Szenario einer neuen großen Depression real und die Börsenkurse im freien Fall. Dennoch war genau an diesem Freitagnachmittag der Tiefpunkt an der Wall Street erreicht. Bei 666 Punkten drehte der S&P 500 wieder nach oben. Wer damals zugriff und bis heute an den Aktien festgehalten hat, darf sich über Gewinne von mehr als 300 Prozent freuen.
Einmal mehr waren es die Notenbanken, die die Finanzmärkte und auch die Realwirtschaft gerettet haben. Mit einer wahren Flut an Liquidität gelang es, das völlig überschuldete Finanzsystem zu stabilisieren und den Märkten das Vertrauen zurückzugeben. Steigende Vermögenspreise waren die zwingende Voraussetzung, da nur so die Abwärtsspirale gestoppt werden konnte. Sonst wäre es zu einer weiteren Welle an Zwangsliquidationen, verfallenden Vermögenspreisen und Konkursen gekommen. Der gefürchtete Margin Call hätte zur Kernschmelze geführt.
Fortsetzung der falschen Politik
Die Notenbanken, als Retter gefeiert, tragen in Wahrheit erhebliche Mitschuld an der Krise. Immer, wenn es an den Finanzmärkten oder in der Wirtschaft zu Turbulenzen kam, haben die Notenbanken der westlichen Welt schnell gehandelt. Zinsen wurden gesenkt und mehr Liquidität in die Märkte gepumpt. Anschließend wurden die Zinsen allerdings nie wieder auf das vorherige Niveau erhöht. So sanken die Zinsen über die Jahrzehnte immer tiefer. In Europa wurde dies durch die Einführung des Euro noch verstärkt, weil die EZB die Zinsen – aus Rücksicht auf das damals kränkelnde Deutschland – jahrelang zu tief hielt und erst den Schulden- und Immobilienboom in den heutigen Krisenländern ermöglichte.
Damit wurde es immer attraktiver, auf Kredit zu spekulieren. Je höher verschuldet das System ist, desto größer ist die Krisenanfälligkeit und umso bedrohlicher auch jede Krise. Deshalb mussten die Notenbanken immer heftiger intervenieren, was wiederum einen Anreiz gab, noch mehr Schulden zu machen, weil es nochmals deutlich billiger wurde. Das Medikament, das die Notenbanken geben, verstärkt die Krankheit.
Nach 2009 wurde die Dosis auf ein zuvor undenkbares Niveau gesteigert. Für über 11.000 Milliarden US-Dollar kauften die Notenbanken der USA, der Eurozone und Japan vorhandene Wertpapiere – überwiegend Staats- und Unternehmensschulden. Mit der bekannten Nebenwirkung: Statt ein Sinken der Schuldenlast zu bewirken, haben die Notenbanken den Schuldenberg weiter aufgebläht. Die Welt ist mit über 325 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet, 75 Prozentpunkte mehr als 2007. Waren es vor 2009 vor allem die privaten Haushalte, steig in den letzten Jahren vor allem die Unternehmensverschuldung deutlich. In den USA trieben die Unternehmen den schuldenfinanzierten Rückkauf eigener Aktien so weit, dass sogar der IWF hier einen möglichen Auslöser für eine erneute Finanzkrise sieht.
Zinsen müssen immer weiter sinken
Diese steigende Schuldenlast ist dabei kein Zufall, sondern zwingende Voraussetzung, um die Illusion der Bedienung der bestehenden Schulden aufrechtzuerhalten. Die Nebenwirkung gehört also dazu, wenn man unser Schuldgeldsystem eine Runde weiter bekommen möchte. Genauso wie die Nebenwirkung immer höherer Assetpreise, da Geld, das zunehmend weniger kostet, zwangsläufig die Besitzer von Vermögenswerten begünstigt. Nichts anderes steht hinter der von Piketty und Co. kritisierten Abkopplung der Vermögen von den Einkommen. Ohne zunehmenden Leverage (also Verschuldungsgrad) gibt es keine weiter steigenden Vermögenspreise. Blasen sind so gesehen keine zufälligen Ereignisse, sondern gehören zwangsläufig dazu.
Wie auch die andere Nebenwirkung: die zunehmende Zombifizierung der Wirtschaft. Immer mehr Unternehmen und Banken existieren nur noch, weil Geld (fast) nichts kostet. Diese Unternehmen sind zwar nicht offiziell insolvent, sie tragen jedoch nicht zum Wachstum der Wirtschaft bei, sondern belasten die gesunden Unternehmen zusätzlich. In der Folge sinken die Produktivitätsfortschritte und damit das Wirtschaftswachstum. Zugleich wächst der deflationäre Druck. Überkapazitäten, Fehlinvestitionen und der wachsende Anteil neuer Schulden, der nur dazu dient, die Zinsen auf den Altschulden zu bedienen, erdrücken die Realwirtschaft immer mehr. Bewirkte ein US-Dollar neue Schulden in den 1960er-Jahren noch rund 80 Cent mehr BIP, so sank der Wert auf 30 Cent in den 1990er-Jahren und auf rund zehn Cent seit dem Jahr 2000. Heute ist die Wirkung nahe null. Dies gilt überall. Auch in China hat der realwirtschaftliche Effekt neuer Schulden dramatisch abgenommen.
Damit werden die Schulden noch weniger tragbar. Immer geringer ist der Risikopuffer, den wir haben. Damit ist aber auch klar, dass ein Schock die gesamte Konstruktion zum Einsturz bringen kann. Diese Sorge ist berechtigt, wie die Fülle an Krisen an den Finanzmärkten in den letzten 30 Jahren unterstreicht: Crash 1987, Sparkassenkrise in den USA, Blase in Japan, Krise in Südamerika, Asienkrise, Dotcom-Blase, Finanzkrise. In jedem dieser Fälle kam es vor dem Einbruch zu einem Anstieg der Zinsen.
Allerdings kam der Einbruch, als die Zinsen mehr und mehr sanken. Das kann nicht verwundern, denn die immer höhere Verschuldung ist nur mit tieferen Zinsen tragbar. Schon vor Jahren warnte deshalb die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, dass wir Gefangene der Verschuldung sind. Tiefe Zinsen heute regen die Verschuldung weiter an, weshalb wir morgen noch tiefere Zinsen brauchen, um die Last überhaupt tragen zu können. Präziser: um weiterhin die Illusion aufrechtzuerhalten, die Schulden zu bedienen.
Die Notenbanken in der Ecke
Die Notenbanken haben sich in eine ausweglose Situation manövriert. Die Angelsachsen würden sagen: „They painted themselves into a corner.”
- Sie haben es mit einer Rekordbewertung der Assetmärkte zu tun. Ursache sind tiefe Zinsen und ein Rekord-Leverage. Die Börsen dürften relativ zum BIP nicht nur in den USA den höchsten Stand der Geschichte erreicht haben, sondern weltweit.
- Sie haben es mit einer Rekordverschuldung der Realwirtschaft zu tun.
- Sie befinden sich in einem Währungskrieg miteinander. Immer darauf achtend, dass der Wert der eigenen Währung nicht zu stark steigt.
- Sie stecken im Dilemma, Inflation nicht zulassen zu dürfen, sie eigentlich aber anzustreben, um die Schulden real zu entwerten.
- Sie müssten eigentlich die Zinsen deutlich erhöhen, um sie in der nächsten Krise ausreichend senken zu können, wissen aber, dass es eine überschuldete Weltwirtschaft und ein auf Leverage gebautes Kartenhaus schlecht verkraften, wenn die Zinsen steigen.
- Sie haben es mit einer weitgehend dysfunktionalen Politik zu tun. In den USA beschließt man am Höhepunkt des Aufschwungs Steuersenkungen und Infrastrukturprogramme auf Kredit und bricht zugleich einen globalen Handelskrieg vom Zaun. In Europa veranstaltet die EU eine Strafaktion gegen Großbritannien, um andere Länder von ähnlichen Ausstiegsüberlegungen abzuhalten. Gleichzeitig wird eine wirkliche Lösung der Eurokrise verschleppt, was daran liegt, dass man sich mit Scheinlösungen beschäftigt.
Die Notenbanken sind nicht unschuldig an dieser Situation. Sie ist die Folge einer Politik, die dreißig Jahre einseitig daraufgesetzt hat, die Verschuldung nach oben zu treiben. Mitleid ist deshalb nicht angezeigt.
Endspiel oder nächste Runde?
Das führt zu der spannenden Frage, ob die nächste Krise schon das Endspiel einleitet. Oder fällt den Notenbanken gar noch etwas ein, um das System eine Runde weiter zu bekommen und allen ein paar weitere angenehme Jahre steigender Vermögenspreise, stabiler Konjunktur und Wohlstandsillusion auf Pump zu ermöglichen?
Dass Notenbanker und Politiker über dieses Thema intensiv nachdenken, zeigt die Flut an Testballons, die in den letzten Jahren aus der akademischen Welt lanciert wurden. Glaubt jemand ernsthaft, dass Institutionen wie der IWF nur theoretische Fingerübungen machen, wenn sie Studien und Arbeitspapiere veröffentlichen? Ich nicht.
Die Liste der in die Diskussion gebrachten Ideen ist durchaus in sich konsistent. Es geht darum, den Notenbanken den Weg zu noch negativeren Zinsen und weiteren umfangreichen Liquiditätsspritzen zu ermöglichen und zugleich die Fluchtmöglichkeiten aus dem System zu begrenzen:
- Kampf gegen das Bargeld: Schon seit Jahren läuft eine Kampagne gegen die Nutzung von Bargeld. Zunächst haben Ökonomen wie der ehemalige Chefvolkswirt des IWF, Kenneth Rogoff, dafür plädiert, Bargeld möglichst weitgehend abzuschaffen, vordergründig, um Schattenwirtschaft und Kriminalität zu bekämpfen. Dann wurde der 500-Euro-Schein abgeschafft, was die Lagerkosten für Bargeld deutlich erhöht. Nun kam der IWF mit der Idee, Bargeld zu versteuern für den Fall, dass es auf dem Bankkonto Negativzinsen gibt. All dies passt zu dem Szenario einer geplanten Entwertung von Geld und damit von Forderungen und Schulden.
- Kampf gegen das Gold: Passend dazu erklärt der IWF in einem weiteren Arbeitspapier, dass Gold ein destabilisierender Faktor für die Wirtschaft ist. Dies ist natürlich richtig, wenn man ein System unterstützt, in dem beliebig viel Liquidität geschaffen werden kann und soll, um die Wirtschaft zu beleben. Da nirgendwo eine Rückkehr zum Goldstandard erkennbar ist, fragt man sich schon, wieso der IWF gerade heute mit diesem Thema kommt. Ein Grund könnte sein, damit eine solide Finanz- und Geldpolitik (wie sie in der guten alten Zeit von Deutschland betrieben und gefordert wurde) zu diskreditieren. Ein anderer, die moralische Argumentation für eine Einschränkung privaten Goldbesitzes zu liefern. Denn Gold ist das ultimative Geld, in das man flüchten kann und sollte — angesichts dessen, was uns bevorsteht. Wer denkt, ein Verbot privaten Goldbesitzes sei undenkbar, der sei an die deutsche, aber auch US-amerikanische Geschichte erinnert!
- Kapitalverkehrsbeschränkungen: Passend dazu werden Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs in Abhängigkeit vom Umfeld als geeignetes Instrument gesehen, um Krisen vorzubeugen und Finanzmärkte zu stabilisieren. Dabei sind sie unvermeidbar, wenn man die Flucht der Sparer verhindern will. Fallen Bargeld und Gold als Ausweichmöglichkeiten weg, muss nur noch die Flucht in ausländische Währungen abgewendet werden, um die Sparer unter Kontrolle zu bekommen.
- Monetarisierung der Schulden: Sind Ausweichreaktionen unter Kontrolle gebracht, kann man sich auf die „Lösung“ des Schuldenproblems konzentrieren. Da ist zunächst die schon länger diskutierte „Monetarisierung“ der Schulden. Gemeint ist, dass die Notenbanken die aufgekauften Schulden von Staaten und Privaten einfach annullieren. Sie könnten sie auch einfach für hundert Jahre zins- und tilgungsfrei stellen, was ökonomisch auf das Gleiche hinausliefe. Beobachter gehen davon aus, dass eine solche Maßnahme, so sie denn einmalig bleibt, keine Gefährdung für den Geldwert darstellte. Was wirklich passiert, wird man sehen. In Japan, das uns auf dem Weg der Monetarisierung einige Jahre voraus ist, dürfte es schon in wenigen Jahren dazu kommen.
- Helikopter-Geld: Das Entsorgen der Altschulden über die Bilanzen der Notenbanken dürfte zur Lösung der Probleme nicht genügen. Die Zombies wären weiter da, die ungedeckten Verbindlichkeiten der Staaten blieben ungedeckt, die Produktivitätsfortschritte wären immer noch schwach und die Erwerbsbevölkerungen würden deutlich zurückgehen. Das Wachstum bliebe also zu gering, um soziale Spannungen zu
mindern. Die Antwort darauf liegt in staatlichen Konjunkturprogrammen, direkt von den Notenbanken finanziert. In Anlehnung an Milton Friedman spricht man von „Helikopter-Geld“. Das wird in diesem Fall nicht aus Helikoptern abgeworfen, sondern dem Staat geschenkt, damit der es unter die Leute bringt, zum Beispiel, indem er investiert. Auch hier mehren sich die Stimmen in der Wissenschaft, die in diesem Vorgehen das Normalste aller Dinge sehen. - Modern Monetary Theory (MMT): Doch warum eigentlich nur im Krisenfall den Staat direkt von der Notenbank finanzieren lassen? Wäre es nicht ohnehin besser, wenn man den Staat dauerhaft und großzügig direkt von der Notenbank finanzierte, anstatt wie heute den Umweg über die Geschäftsbanken zu gehen? Vorreiter dieser Überlegungen, bezeichnen es als „Modern Monetary Theory“. Als Skeptiker müsste man anführen, dass es so „modern“ nicht ist, wurde es doch schon in der Weimarer Republik ausprobiert. Die Befürworter sehen das natürlich ganz anders. Ihnen zufolge können Staaten, die die Kontrolle über die eigene Notenbank haben (also z. B. die USA, aber eben nicht Italien) so viel neu geschaffenes Geld ausgeben, wie sie wollen, solange die Wirtschaft unausgelastete Kapazitäten hat sowie innovativ und produktiv genug ist, um alle Wünsche zu erfüllen! Und sollte dennoch Inflation drohen, müsste der Staat über Steuern nur einen größeren Teil des Geldes, das er in den Kreislauf gebracht hat, wieder entziehen. So gesehen, waren Zimbabwe, Venezuela und Weimar-Deutschland auf dem richtigen Weg und haben nur bei der Beststeuerung nicht richtig aufgepasst. Sogar der nicht gerade staatskritische Nobelpreisträger Paul Krugman steht der Idee skeptisch gegenüber. Egal, was man von der Idee hält, sie zeigt ganz klar, in welche Richtung es geht.
Nachdem sie sich selbst in die Ecke manövriert haben, werden die Notenbanken in der nächsten Krise – die nicht eine Frage des „Ob“, sondern nur des „Wann“ ist – alles auf eine Karte setzen. Das Endspiel der bestehenden Geldordnung steht bevor. Schwer vorstellbar, dass sie das übersteht.
Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com
→ manager-magazin.de: „Das monetäre Endspiel steht bevor“, 5. März 2019