Ganz Europa hat wieder die Uhren umgestellt. Und Deutschland kennt seither nur noch ein Thema. Ausgelöst wurde die hitzige Debatte durch ein in den sozialen Netzwerken verbreitetes Bild, das einen Mann zeigt, der auf seine Uhr schaut. In Anlehnung an einen Werbeslogan der 1980er war darunter zu lesen: „Ich mag die Sommerzeit unheimlich gerne. Ich steh´ sogar manchmal nachts auf und stell´ die Uhren um.“ Schmunzelnd erinnert sich die Generation Ü40 an die Fernsehwerbung eines bekannten Süßwarenherstellers, in der eine tennisspielende Blondine kichernd von ihrem „Geheimnis“ berichtet, vor lauter Verlangen nach ihrer Lieblingsschokolade nachts zum Kühlschrank zu schleichen. Der Spot dürfte heute wohl nicht mehr gesendet werden, zu groß wäre der Aufschrei über die frauenfeindliche Bedienung plumper Stereotype. Und seit sich das Europäische Parlament für die baldige Abschaffung der Zeitumstellung ausgesprochen hat, gilt auch die satirische Reminiszenz ans Uhrenverdrehen als unpassend. Während Facebook das Foto wegen eines Verstoßes gegen die Gemeinschaftsstandards umgehend löschte, dauerte es bei Twitter mehr als eine Stunde. Nach massiven Beschwerden der Netzgemeinde wurde der Uhren-Tweet schließlich entfernt. Aus den Reihen der deutschen Politik meldete sich Bundestagsvizepräsidentin Roth als eine der Ersten zu Wort. Zwar wurde sie von der Nachricht auf einer türkischen Hochzeitsfeier überrascht, doch hielt sie dies nicht davon ab, sich in einer improvisierten Pressekonferenz gegen jede Form der Diskriminierung zu wenden. „Hetze darf nirgendwo im Internet einen Platz haben“, so Roth.
Mit der Zurschaustellung von Menschen, „die gerne um kurz vor zwei mal zur Uhr schauen“, sieht Bundeskanzlerin Merkel eine Grenze überschritten
Ähnlich äußerte sich auch Grünen-Chefin Baerbock, die außerdem davor warnte, mit der Sommerzeit-Debatte von der Klimakrise abzulenken: „Uns bleiben nur noch 12 Jahre, wie wir erst am Wochenende von Greta Thunberg lernen mussten. Wir werden das Ende der Menschheit nicht verhindern, aber wir können es einige Jahre hinauszögern.“ In den Vorfall schaltete sich auch Bundeskanzlerin Merkel ein. Sie ließ durch Regierungssprecher Seibert ausrichten, mit der Zurschaustellung von Menschen, „die gerne um kurz vor zwei mal zur Uhr sehen, damit sie den Beginn der Sommerzeit miterleben“, sei eine Grenze überschritten worden. Sie werde nicht zulassen, dass die Diskussion um die Zeitumstellung „von rechten Gruppierungen ausgeschlachtet wird, die Hetzjagden veranstalten“. Auf Schloss Bellevue mahnte Bundespräsident Steinmeier zu mehr Wachsamkeit. Es sei gut, dass die Plattformbetreiber umgehend reagiert hätten, doch sei es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich „dieser hässlichen Form des Populismus“ entschieden entgegenzustellen. Das „Bündnis gegen Rechtsextremismus“ lud daraufhin für den kommenden Samstag spontan zu einer Lichterkette vor dem Brandenburger Tor ein. Neben führenden Gewerkschaftern riefen auch die Bundestagsfraktionen der SPD und der Linkspartei sowie eine Reihe kirchlicher und karitativer Organisationen zur Teilnahme auf. Die Musikband „Die Toten Hosen“ kündigte ein „Gratiskonzert gegen rechts“ an. Bundesinnenminister Seehofer stellte den Besuchern der Kundgebung die Erstattung der Reisekosten aus Bundesmitteln in Aussicht. Allerdings forderten die „Fridays for Future“-Organisatoren eine Verlegung auf Freitagvormittag.
Die EU-Parlamentarier zeigen sich stolz darauf, mit ihrem Votum gegen die Zeitumstellung eines der drängendsten Probleme Europas gelöst zu haben
Für den Fraktionsvorsitzenden der europäischen Liberalen, Verhofstadt, hat der Fall „bei allem Ekel“ auch etwas Gutes: „Wir sehen daran, wie wichtig es war, dass das Europäische Parlament für die Urheberrechtsreform gestimmt hat. Nur mit dieser Richtlinie können wir in Zukunft die Upload-Filter vorschreiben, die uns erlauben zu entscheiden, was in den sozialen Netzwerken auftauchen darf“, so der frühere Premierminister Belgiens. Andere Parlamentarier verwiesen darauf, dass der „unschöne und durch nichts zu rechtfertigende Akt der Hetze“ zwar äußerst bedrückend sei, immerhin aber den Fokus auf „eine der Sternstunden der Demokratie“ lenke. Erst durch die Diskussion der letzten beiden Tage sei die Tatsache ins Bewusstsein der Europäer gerückt, „dass wir mit der Entscheidung für die Abschaffung der Zeitumstellung eines der drängendsten Probleme Europas gelöst haben“. Dies sei „ein Musterbeispiel an Handlungsfähigkeit und Bürgernähe“, so Parlamentspräsident Tarjani, der sich nach der Bewältigung „der größten Herausforderung der Legislaturperiode“ zuversichtlich zeigte, dass dies von Europas Wählern honoriert werde. Aufhorchen ließ hingegen die Stellungnahme des EU-Kommissionspräsidenten: „Machen wir uns nichts vor, das Parlament hat doch gar nichts zu sagen“, so Juncker am Rande einer Whisky-Verkostung in Edinburgh aus Anlass bilateraler Gespräche mit Schottlands Erster Ministerin Sturgeon zum weiteren Vorgehen im Brexit-Chaos. Nüchtern betrachtet, dürfen wir also gespannt sein, ob der Abschied von der Zeitumstellung wirklich gelingt. Es käme auch einem Wunder gleich, könnte ein so komplexer Sachverhalt in so kurzer Zeit aufgelöst werden.
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