Ver­eintes Tirol als „Euro­pa­region“ – eine Schimäre

Niemand fasste die Malaise in tref­fendere Worte als der Lan­des­kom­mandant der Süd­ti­roler Schützen: Dass er seit nunmehr hundert Jahren zum ita­lie­ni­schen Staat gehöre, sei für den süd­lichen Teil Tirols negativ. Dem­ge­genüber müsse, wer einen unge­trübten Blick auf die Geschichte werfe, das Positive darin erkennen, dass „wir nicht von ita­lie­ni­schen Poli­tikern, ita­lie­ni­scher Ver­waltung und ita­lie­ni­schen Gewohn­heiten, die wir uns ange­eignet haben, abhängig waren, als Tirol noch eins war“. Major Elmar Thaler nahm die all­jährlich statt­fin­dende Lan­des­ge­denk­feier für den Volks­helden Andreas Hofer in Meran zum Anlass, um „über­bor­dende Gesetze, aus­ufernde Büro­kratie, Schi­kanen gegenüber Betrieben, Beschlag­nahme von Autos, nur weil ein aus­län­di­sches Kenn­zeichen drauf ist“, zu kri­ti­sieren, denen seine Lands­leute unter­worfen seien.
Nicht allein das – als unlängst 30 Zen­ti­meter Neu­schnee und einige Lawinen den Verkehr über den Brenner lahm­gelegt hatten, sodass zwi­schen Inns­bruck und Trient (vice versa) für nahezu 30 Stunden so gut wie nichts mehr ging, habe „jeder, egal ob in Nord- oder Süd­tirol, dem anderen die Schuld gegeben“, sagte Thaler. Zurecht fragte der rang­höchste Reprä­sentant des nach wie vor unein­ge­schränkt für die Tiroler Lan­des­einheit ein­ste­henden Süd­ti­roler Schüt­zen­bundes (SSB), wo denn in dieser win­ter­lichen Not­si­tuation die angeb­lichen Seg­nungen der seit einem Vier­tel­jahr­hundert in Sonn­tags­reden viel­be­schwo­renen „Euro­pa­region Tirol“ ihren Nie­der­schlag gefunden hätten. Fehl­an­zeige – dieses Gebilde exis­tiere lediglich auf dem Papier; es sei bei den Poli­tikern, die stets davon sprächen, noch nicht ange­kommen, und beim Volk schon gar nicht, resü­mierte Thaler.

Ein nie­der­schmet­ternder Befund

Das ist ein nie­der­schmet­ternder Befund, der von der über­wie­genden Mehrheit aller Tiroler zwi­schen Kuf­stein und Salurn sowie aller Welsch­ti­roler (Bewohner des Trentino) zwi­schen Kronmetz (Mez­zo­corona) und Bor­ghetto geteilt werden dürfte, sofern diese über­haupt etwas mit diesem Begriff respektive dessen schlag­wort­ar­tiger Ver­kürzung „Euregio Tirol“ anzu­fangen wissen. Diese Skepsis sieht sich in der Umfrage „Jugend und Politik“ des Süd­ti­roler Sta­tistik-Instituts ASTAT vom August 2017 bestätigt, welche ergab, dass sich lediglich 17,1 Prozent der Per­sonen im Alter bis zum 30. Lebensjahr für die „Euregio-Ebene“ interessier(t)en. Dies wie­derum ist Beleg genug dafür, dass besagtes Gebilde ohne inhalt­liche Tiefe ist und offen­kundig weit unter dem bleibt, wofür es stehen und was es eigentlich erbringen soll(te).
Am 1. Januar 1995 war Öster­reich der Euro­päi­schen Union (EU) bei­getreten. Damit eröff­neten sich neue Chancen und Mög­lich­keiten in der Süd­tirol-Politik. Die Teilhabe am EU-Bin­nen­markt sowie der 1997 voll­zogene Bei­tritt zum Schen­gener Abkommen been­deten trotz for­mellen Erhalts der Staats­grenze zwi­schen den beiden Tiroler Lan­des­teilen das zuvor gängige Grenz­regime, womit die his­to­risch stets als „Schand­grenze“ emp­fundene Tei­lungs­kon­se­quenz aus der aus dem ita­lie­ni­schen Sei­ten­wechsel im Ersten Welt­krieg erlangten Kriegs­beute in ihrer Wirkung erheblich an Trenn­schärfe verlor. Wenn­gleich der insti­tu­tio­nelle Abbau der Grenze eine erheb­liche Erleich­terung des All­tags­lebens auf beiden Seiten sowie eine Inten­si­vierung des grenz­über­schrei­tenden Ver­kehrs zur Folge hatte, ist das damit von der Politik beid­seits des Brenners wie im Mantra beschworene „Zusam­men­wachsen“ der Lan­des­teile bisher allen­falls ein frommer Wunsch geblieben.

Zusam­men­wachsen der Landesteile?

Par­allel zu den grund­stür­zenden Ver­än­de­rungen, welche nach dem Kollaps des Kom­mu­nismus, dem Fall der Mauer in Berlin und der Besei­tigung des Draht­verhaus quer durch Europa sowie dem Untergang der Sowjet­union und der Auf­lösung Jugo­sla­wiens die poli­tische Geo­graphie neu zeich­neten, stellte man in den Land­tagen Tirols und Vor­arl­bergs sowie Süd­tirols und des Trentino Über­le­gungen an, wie man sich mög­lichst in insti­tu­tio­na­li­sierter Form zunutze machen könnte, was sich – über die nach dem Pariser Vertrag von 1946 zwi­schen Öster­reich und Italien müh­samen errun­genen soge­nannten Accordino-Ver­ein­ba­rungen (geltend für Tirol, Süd- und Welsch­tirol) hinaus — an „regio­naler Sub­si­dia­rität“ bot, wie sie schon EG-Europa begrenzt zuließ. Ins­be­sondere der 1992 errichtete Vertrag von Maas­tricht (aus der EG wurde die EU) schuf mit seinem inkor­po­rierten – aber nie poli­tisch kon­se­quent ver­wirk­lichten — Konzept eines „Europas der Regionen“ die Vor­aus­set­zungen für das inhaltlich und insti­tu­tionell nur rudi­mentär aus­ge­füllte Projekt der „Euregio Tirol“.
Die Idee dazu war am 21. Mai 1991 im Rahmen einer gemein­samen Sitzung der Landtage der öster­rei­chi­schen Bun­des­länder Tirol und Vor­arlberg sowie der beiden (seit De Gas­peris Ver­wäs­serung des Pariser Ver­trags von 1946 im 1. Auto­no­mie­statut 1948 in einer Region zwangs­ver­ei­nigten) ita­lie­ni­schen Pro­vinzen Süd­tirol und Trient geboren worden. Obwohl sich Vor­arlberg nach der zweiten gemein­samen Sitzung am 2. Juni 1993 daraus zurückzog, begannen die ent­sandten Dele­gierten, das Konzept suk­zessiv wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Im Mit­tel­punkt stand dabei ins­be­sondere die weitere Aus­ge­staltung der grenz­über­schrei­tenden Zusam­men­arbeit. Dies schlug sich im 1996 vor­ge­stellten Statut über die künftige poli­tische Marsch­route sowie die insti­tu­tio­nelle Aus­ge­staltung der Euro­pa­region Tirol nieder.

Rom legt sich quer

Um den von Beginn an vor­herr­schenden römi­schen Vorwurf der Sezession zu ent­kräften, bewegte sich die insti­tu­tio­nelle Aus­ge­staltung strikt innerhalb gel­tender ver­fas­sungs­recht­licher Rah­men­be­din­gungen sowie auf dem völ­ker­recht­lichen Grundsatz des am 21. Mai 1980 getrof­fenen Madrider Rah­men­über­ein­kommens bezüglich grenz­über­schrei­tender Zusam­men­arbeit von Gebiets­kör­per­schaften. Zur Ver­meidung von Pro­blemen mit der ita­lie­ni­schen Regierung nahm man – zunächst – Abstand von der ursprüng­lichen Idee, die Euro­pa­region als öffent­liche Kör­per­schaft mit eigener finan­zi­eller Aus­stattung und Völ­ker­rechts­sub­jek­ti­vität einzurichten.
Die Initia­toren erhofften, dass durch die grenz­über­schrei­tende Zusam­men­arbeit in Wirt­schaft und Politik nicht nur die wirt­schaft­liche Pro­spe­rität der Regionen, sondern damit auch eine Stärkung des Auto­nomie- und Föde­ra­lis­mus­prinzips auf natio­naler und EU-Ebene ein­her­gehen würde. Und ins­be­sondere in Inns­bruck und Bozen verband man mit der Euro­pa­region die Hoffnung, dass die Koope­ration nicht nur dem sozio­kul­tu­rellen „Aus­ein­an­der­driften“ der Lan­des­teile Einhalt gebieten würde, sondern sogar das Gefühl der gemein­samen Iden­tität wie­der­auf­leben ließe. So beriefen sich füh­rende Poli­tiker beider Lan­des­teile ver­stärkt auf gemeinsame Her­kunft sowie Iden­tität und begrüßten zugleich den fak­ti­schen Abbau der tren­nenden „Unrechts­grenze“ im Rahmen der Europaregion.

„Sezes­sio­nismus, Irre­den­tismus, Pangermanismus“

Dies führte sogleich dazu, dass von den dama­ligen ita­lie­ni­schen Regie­rungs­par­teien nicht etwa nur die – aus dem neo­fa­schis­ti­schen MSI her­vor­ge­gangene — Alleanza Nazionale (AN) unter Fini, sondern auch die von Minis­ter­prä­sident Silvio Ber­lusconi geführte Forza Italia (FI) immer wieder den reflex­ar­tigen Vorwurf des Sezes­sio­nismus / Irre­den­tismus erhoben. Aus anfangs ver­ein­zelten Vor­würfen ent­wi­ckelte sich ein breiter Pro­test­sturm in Rom, der 1995 in einen hand­festen poli­ti­schen Kon­flikt mündete. Aus­löser war die Absicht der drei Europa-Regio­nisten, ein gemein­sames Ver­bin­dungsbüro in Brüssel ein­zu­richten, um selb­ständig und über­zeug­ter­maßen effek­tiver die eigenen regio­nalen Inter­essen gegenüber den EU-Insti­tu­tionen ver­treten zu können. Obwohl Inns­bruck ebenso wie Bozen und Trient ver­si­cherten, dass man allein föde­ra­lis­tische Absichten ver­folge, da das Büro auf aus­schließ­licher Grundlage von EU-Rechts­be­stim­mungen geschaffen werde, geriet ins­be­sondere die Süd­ti­roler Lan­des­re­gierung ins Kreuz­feuer Roms.
Selbst von höchster Ebene wurden offene Vor­würfe oder gar Dro­hungen gegenüber der Lan­des­re­gierung geäußert. So etwa von der Gene­ral­staats­an­walt­schaft in Trient, die die Süd­ti­roler der „zuneh­menden Staats­feind­lichkeit“ bezich­tigte. Auch Staats­prä­sident Luigi Scalfaro drohte Bozen offen an, etwaige Sezes­si­ons­ab­sichten stellten einen evi­denten Verstoß gegen die Ver­fassung dar und zögen schwer­wie­gende Kon­se­quenzen nach sich. Im internen Jah­res­be­richt des ita­lie­ni­schen Innen­mi­nis­te­riums wurde das Ver­bin­dungsbüro als „pro­vo­zierend“ und „sub­versiv“ ein­ge­stuft, und zufolge von Anzeigen meh­rerer rechter ita­lie­ni­scher Par­teien, besonders aus deren Süd­ti­roler Depen­dancen, wonach mit der Euro­pa­region die „Zer­störung der Einheit Ita­liens“ oder „die Rück­glie­derung Süd­tirols nach Öster­reich“ ange­strebt werde, wies Minis­ter­prä­sident Lam­berto Dini die Staats­an­walt­schaft in Rom an, den Vor­würfen nach­zu­gehen. Wenn­gleich selbst Büros von SVP-Abge­ord­neten durch­sucht wurden, konnten die ermit­telnden Staats­an­wälte keine Indizien für den Vorwurf des Sezes­sio­nismus finden. Schließlich musste der ita­lie­nische Ver­fas­sungs­ge­richtshof anno 1997 die Recht­mä­ßigkeit des Büros anerkennen.

Wien ver­harrt in Passivität

Trotz dieses zwi­schen 1995 und 1997 das poli­tische Klima zwi­schen Rom, Trient, Bozen und Inns­bruck ver­gif­tenden Kon­flikts vermied es die öster­rei­chische Regierung, zugunsten der Euro­pa­region Tirol Partei zu ergreifen, sondern ver­harrte am Ball­haus­platz in Pas­si­vität. In internen Akten­ver­merken der Regie­rungen Vranitzky/Mock bzw. Vranitzky/Schüssel wurde kri­ti­siert, Bozen und Inns­bruck hätten es ver­ab­säumt, Wien in aus­rei­chendem Maße über das Vor­haben in Kenntnis zu setzen. Außen­mi­nister Alois Mock sowie sein Nach­folger Wolfgang Schüssel ver­mieden es, öffentlich Stellung zu nehmen. Ihre Partei ÖVP beflei­ßigte sich der Zurück­haltung, wohin­gegen Grüne und Teile der in großer Koalition mit der ÖVP ver­bun­denen Kanz­ler­partei SPÖ sogar offen vor angeb­lichen Gefahren eines Wie­der­erstarkens des „pan­ger­ma­nis­ti­schen Natio­na­lismus“ warnen zu müssen glaubten. Lediglich die FPÖ sowie die Schüt­zen­ver­bände Tirols, Süd­tirols und Welsch­tirols sprachen sich geschlossen und ein­deutig zugunsten der Euro­pa­region aus. Die öster­rei­chi­schen Par­teien spielten Italien fak­tisch in die Hände, indem Rom das Projekt mit dem Hinweis darauf, dass FPÖ wie Schützen zuvor offen das Recht auf Selbst­be­stimmung für Süd­tirol ein­ge­fordert hätten, als „Föde­ra­lis­mus­projekt von Rechts­außen“ zu stig­ma­ti­sieren trachtete, das dem „sezes­sio­nis­ti­schen Pan­ger­ma­nismus“ diene.

„Auf­stand gegen Gleichgültigkeit“

Da es seit der Initi­ierung eher durch Kon­flikte mit Rom denn durch signi­fi­kante poli­tische Erfolge auf­ge­fallen war, erlangte das Projekt erst mit der nomen­kla­to­ri­schen Prägung „Euro­pa­region Tirol Süd­tirol Trentino” wieder ein wenig Auf­trieb, zumal da sich die drei Lan­des­re­gie­rungen ver­stärkt seiner Erwe­ckung aus dem „Dorn­rös­chen­schlaf” wid­meten. Ziel war die Stärkung der „Achse Inns­bruck-Bozen-Trient“ auf kul­tu­reller Ebene sowie der grenz­über­schrei­tenden Zusam­men­arbeit in Politik und Wirt­schaft. Im Kul­tu­rellen erhoffte man sich, den seit Jahr­zehnten doch recht weit fort­ge­schrit­tenen Ent­frem­dungs­prozess südlich und nördlich des Brenners zu stoppen. Obwohl das pos­tu­lierte Ziel eines „Auf­stands gegen die Gleich­gül­tigkeit“ – am 21. Februar 2009 auf Schloss Tirol begrifflich geprägt vom dama­ligen Tren­tiner Lan­des­hauptmann Lorenzo Dellai während einer gemein­samen Sitzung der Lan­des­haupt­leute — an sich nicht neu war, erfuhr es in Bozen eine besondere Aus­formung. In Anbe­tracht des Wäh­ler­zu­laufs zum oppo­si­tio­nellen Lager der Selbst­be­stim­mungs­be­für­worter, welcher sich nicht allein in Wahl­er­folgen von Süd-Tiroler Freiheit (STF) und Frei­heit­licher Partei Süd­tirols (FPS) abzeichnete, wollte man mit dem Ausbau der Euregio ein alter­na­tives Modell schaffen und mög­lichst attraktiv machen. So gaben ins­be­sondere SVP und Nord­ti­roler ÖVP vor, mit der Inten­si­vierung der grenz­über­schrei­tenden Zusam­men­arbeit werde die poli­tische Unab­hän­gigkeit der Lan­des­teile gegenüber Rom, Wien und Brüssel gestärkt, was dazu bei­trage, dass die Teilung Tirols im „euro­päi­schen Geiste“ über­wunden werde.

Außen­mi­nister Kurz: „Ewig­gestrige“

Das Werben mit der poli­ti­schen „Nord-Süd-Achse“ pos­tu­lierten die Regie­rungs­par­teien in Bozen (SVP), Inns­bruck (ÖVP) und Wien als „einzige real­po­li­tische Alter­native“ zur Frei­staats­lösung, wie sie die oppo­si­tio­nelle FPS ver­tritt, und zur Wie­der­ver­ei­nigung mit Tirol, mithin der Rück­glie­derung zu Öster­reich nach erfolg­reicher Aus­übung des Selbst­be­stim­mungs­rechts, wie sie die eben­falls oppo­si­tio­nelle STF auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zugleich erhoben die Regie­rungs­ver­treter gegenüber den Selbst­be­stim­mungs­par­teien und ‑befür­wortern scharfe Kritik. Diese nannte der damalige öster­rei­chische Außen­mi­nister Sebastian Kurz (ÖVP) sei­nerzeit „Ewig­gestrige“, die vom „Auf­ziehen neuer Grenzen“ träumten. Zugleich ver­störten er und seine ÖVP mit der fak­tisch die Aufgabe des Selbst­be­stim­mungs­ver­langens mar­kie­renden (und von der neuen SVP-Führung unter Philipp Achammer sowie Lan­des­hauptmann Arno Kom­patscher still­schweigend-freudig gut­ge­hei­ßenen) Position alle patrio­ti­schen Kräfte, wonach mit der Süd­tirol-Auto­nomie „eine besondere Form der Selbst­be­stimmung ver­wirk­licht“ sei.
Hin­sichtlich einer bes­seren funk­tio­nellen Zusam­men­arbeit in der „Euregio“ ver­ein­barten nunmehr die drei Lan­des­re­gie­rungen, die bis dato als „träge“ gel­tenden Ent­schei­dungs­pro­zesse, wie sie etwa im Rahmen der Drei­er­landtage gang und gäbe waren, durch neue effek­tivere und stärker insti­tu­tio­na­li­sierte Mecha­nismen zu ersetzen. Wenn­gleich die Treffen der Landtage — trotz ihres gemein­samen Zusam­men­tretens im Zwei-Jahres-Rhythmus – durchaus einen poli­ti­schen Fort­schritt dar­stellten, war durch das dort gel­tende Ein­stim­mig­keits­prinzip die Ent­schei­dungs­findung erschwert. Daher vermied man es, im Rahmen dieses Gre­miums strikt, poli­tisch heikle Themen auf die Tages­ordnung zu setzen. Dies wie­derum führte dazu, dass die real­po­li­tische Bedeutung der gemein­samen Land­tags­sit­zungen als sehr gering ein­zu­schätzen war und lediglich einen sym­bo­li­schen Zweck erfüllte. Daher ent­schieden sich die Lan­des­re­gie­rungen am 15. Oktober 2009 zur Ein­richtung des soge­nannten „Euro­päi­schen Ver­bunds ter­ri­to­rialer Zusam­men­arbeit“ (EVTZ), um die Euro­pa­region mit eigener Rechts­per­sön­lichkeit und damit auch grö­ßerer poli­ti­scher Selb­stän­digkeit auszustatten.

Die „Euregio“ als „EVTZ“

Das Konzept fußt auf der Ver­ordnung 1082/2006 des Euro­päi­schen Par­la­ments und ver­folgt dabei Ziel und Zweck, „[…] regio­nalen und kom­mu­nalen Behörden (und auch natio­nalen Behörden in klei­neren oder zen­tra­li­sierten Ländern) sowie öffent­lichen Unter­nehmen aus unter­schied­lichen Mit­glied­staaten die Ein­richtung von Ver­bünden mit eigener Rechts­per­sön­lichkeit zur Lie­ferung gemein­samer Leis­tungen“ im Rahmen der grenz­über­schrei­tenden Zusam­men­arbeit zu ermög­lichen. Die Gründung der EVTZ rief zwar neu­erlich Ein­spruch seitens der ita­lie­ni­schen Regierung hervor; der Protest fiel jedoch weitaus „gemä­ßigter“ aus als beim ersten Anlauf (s.o.). So trug Rom jetzt lediglich „for­melle Bedenken“ vor und zeigte sich zudem bereit, über das Projekt am Ver­hand­lungs­tisch zu dis­ku­tieren. Bereits nach einigen Kon­sul­ta­tionen zog sie ihre anfäng­lichen Vor­be­halte zurück und stimmte schlu­ßendlich zu, sodaß der Eröffnung des EVTZ-Büros in Bozen nichts mehr im Wege stand.
Die Auf­ga­ben­felder der Euro­pa­region à la EVTZ sollten nunmehr eine umfas­sende poli­tische, wirt­schaft­liche und soziale Band­breite abdecken. Dies führte aller­dings bereits nach kurzer Zeit zu Bedenken. So befürchtete man sogar in den jewei­ligen Lan­des­re­gie­rungen, man könne sich dabei, wie schon einmal, poli­tisch über­nehmen. Der Süd­ti­roler Lan­des­hauptmann Arno Kom­patscher, sonst eher ein glü­hender EVTZ-Akteur, befand sogar zu Beginn seiner Amtszeit 2014 nüchtern, dass es der Euro­pa­region — mit Aus­nahme des im Bau befind­lichen Brenner-Basis­tunnels — an großen „poli­ti­schen Leucht­turm­pro­jekten“ fehle und mahnte, die EVTZ dürfe „nicht wieder nur zu einem Schlag­wort­projekt“ ver­kommen. Daher stufte die Süd­ti­roler Lan­des­re­gierung die EVTZ als „Projekt her­aus­ge­ho­bener poli­ti­scher Prio­rität” ein und stellte dafür zusätz­liche Mittel bereit.

Natio­nal­staat­liche Interessen

Nichts­des­to­trotz bleibt abzu­warten, welche Ent­wicklung die Euregio Tirol-Süd­tirol-Trentino in Zukunft tat­sächlich nimmt, und es muß sich auch erst noch her­aus­stellen, ob damit tat­sächlich das Wie­der­zu­sam­men­wachsen der seit hundert Jahren getrennten Lan­des­teile begünstigt werden kann. Skepsis ist ange­sichts des ein­gangs (mit Bezug auf das win­terlich bedingte Ver­kehrs­chaos) geschil­derten Zustän­dig­keits­pro­blems schon im Kleinen ange­bracht. Und wenn es um größere Bedürf­nisse geht, welche natio­nal­staat­liche Inter­essen unmit­telbar berühren, bleibt von der hehren Euregio wenig mehr als ein matter Schein.
Das zeigte sich 2016 in aller Deut­lichkeit, als Öster­reich im Zuge der soge­nannten „Flücht­lings­krise”, die infolge poli­ti­schen Fehl­ver­haltens und selbst­zer­stö­re­ri­scher Will­kommens-Signale in Wahrheit einer Mas­sen­in­vasion über­wiegend junger Männer aus zuvor­derst mus­li­misch geprägten nah- und fern­öst­lichen sowie afri­ka­ni­schen Ländern glich, ernstlich erwog, nach der vom dama­ligen Außen­mi­nister Kurz maß­geblich zustande gebrachten Unter­bindung des Zustroms über die Balkan-Route auch jenen über die stark fre­quen­tierte Italien-Route durch Wie­der­ein­führung von (auch mit mili­tä­ri­schen Mitteln unter­stützten) Brenner-Kon­trollen zu stoppen. Was jedoch unter­bleiben konnte, da sich Rom tat­sächlich zur Abkehr von zuvor eher laxem „Durchwinke”-Verhalten bequemte. Und seit dem mit der vor­ge­zo­genen Par­la­mentswahl 2018 voll­zo­genen Macht­wechsel hin zu der von der Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord gebil­deten Regierung betreibt Rom – eben im natio­nalen Interesse des vom eins­tigen könig­lichen Regie­rungschef Antonio Salandra 1915 beim Kriegs­ein­tritt Ita­liens auf der Seite der Entente-Mächte Frank­reich und Groß­bri­tannien geprägten Prinzips des „Sacro egoismo” – neben den Visegrad-Vier Ungarn, Slo­wakei, Tsche­chien und Polen die weitaus strengste Flüchtlings(abweisungs)politik im Rahmen der EU.
Insti­tu­tionell funk­tio­nie­rende „Euregios”, jeweils aus­ge­stattet mit poli­ti­scher Selbst­ver­waltung, Regio­nal­par­lament und ‑regierung, welche tat­sächlich die vielen ursächlich von der ohne Beachtung der his­to­risch-kul­tu­rellen Iden­tität und Volks­zu­sam­men­ge­hö­rigkeit sowie der Ver­wei­gerung des Selbst­be­stim­mungs­rechts gezo­genen) Grenzen ver­schwinden ließen und damit auch die dadurch erst ent­stan­denen und bis heute fort­wir­kenden Pro­bleme natio­naler Min­der­heiten auf einen Schlag besei­tigten, würden wohl nur durch Auf­hebung des Natio­nal­staats­prinzips und dem­zu­folge mit der her­bei­zu­füh­renden Meta­mor­phose der Natio­nal­staaten zu einer wirklich poli­ti­schen EUnion möglich. Deren Par­lament müsste sich aus gewählten Abge­ord­neten aller Euro­pa­re­gionen kon­sti­tu­ieren und aus dessen Mitte die EU-Regierung her­vor­gehen. Der­ar­tigen Träumen, wie sie viel­leicht in den 1990er Jahren von einigen in der Min­der­heiten- und Volks­grup­pen­po­litik Enga­gierten geträumt worden sein mochten, stehen Ent­wicklung, Zustand und Lage, in der/dem sich EUropa befindet, dia­metral ent­gegen. Es domi­nieren natio­nal­staat­liche Inter­essen, um nicht zu sagen Ego­ismen, und es gewinnen auf Los­lösung und Eigen­staat­lichkeit bedachte Flieh­kräfte – just auch innerhalb der Natio­nal­staaten (bei­spiels­weise in Spanien, Italien, Belgien, Groß­bri­tannien) – ebenso an Attrak­ti­vität wie poli­ti­sches Handeln in natio­nal­staat­licher Fasson.

Lan­des­einheit durch Euregio – ein Wunschbild

Wider den in der Europa-Frage gleichsam mis­sio­na­risch agie­renden öster­rei­chi­schen Schrift­steller Menasse ruft der tür­kisch-deutsche Literat Zafer Senocak ernüch­ternd den „Abschied vom Fetisch eines poli­tisch ver­einten Europa” aus und stellt fest, Europas Zukunft könne nur in der wert­ge­bun­denen Zusam­men­arbeit sou­ve­räner Natio­nal­staaten liegen. Wie diese „wert­ge­bundene Zusam­men­arbeit“ in Bezug auf die Euro­pa­region Tirol-Süd­tirol-Trentino funk­tio­niert, geht aus dem auf den ein­leitend erwähnten Meraner Andreas-Hofer-Fei­er­lich­keiten getrof­fenen Befund des Schützen-Kom­man­danten Elmar Thaler hervor. Dem stellte der in Mailand ange­sie­delte öster­rei­chische Gene­ral­konsul Wolfgang Spa­dinger im Beisein von Schüt­zen­for­ma­tionen aus besagter Euregio auf der Gedenk­feier in Mantua am Denkmal des dort vor 209 Jahren füsi­lierten Tiroler Volks­helden ent­gegen, Andreas Hofer sei ein „früher Ver­treter der Euro­pa­region Tirol-Süd­tirol-Trentino“ gewesen, die heute gut funk­tio­niere. Wie dem auch sei – unter dem Aspekt der Auf­hebung der Teilung des Landes und des nach wie vor nicht aus den Augen zu ver­lie­renden Ziels des Wie­der­ge­winnens seiner Einheit reicht sie kaum über die Wunsch­bild­kontur einer Schimäre hinaus.