Interview mit Rahim Taghizadegan zum neuen Buch „Die Nullzinsfalle. Wie die Wirtschaft zombifiziert und die Gesellschaft gespalten wird“, das er gemeinsam mit Ronald Stöferle und Gregor Hochreiter geschrieben hat.
Die Autoren analysieren in ihrem Buch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Nullzinspolitik. Das nachfolgende Interview behandelt vor allem die Auswirkungen auf das menschliche Verhalten.
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Herr Taghizadegan, im Buch ‚Die Nullzinsfalle‘ haben Sie sich mit Ihren Mitautoren unter anderem den gesellschaftlichen Folgen der Nullzinspolitik gewidmet. Sie hat demnach Einfluss auf die menschliche ‚Zeitpräferenz‘. Vielleicht erläutern Sie unseren Leser zunächst diesen Begriff…
Zeitpräferenz bezeichnet den Umstand, dass Kapitalaufbau nicht automatisch funktioniert, sondern gegen menschliche Intuitionen und Neigungen der Welt abgerungen wird. Niedrige Zeitpräferenz ist die dafür nötige Haltung und bedeutet, dass es einem Menschen möglich ist, über gegenwärtige Bedürfnisse hinweg zu abstrahieren und diese zugunsten der Zukunft zurückzustellen. Da die Zukunft ungewiss ist, kann man sich dabei irren – und hat dann die Gegenwart umsonst verpasst. Darum ist höhere Zeitpräferenz nachvollziehbar und legitim. Problematisch wird sie individuell erst, wenn sie den Konsum fremder Mittel bedeutet: wenn Ungeduld, mangelnde Voraussicht und niedriges Abstraktionsvermögen zur kriminellen Aneignung von Wohlstand führen. Mangelnder Kapitalaufbau bis hin zum Kapitalkonsum ist allerdings – wenngleich individuell legitim – gesellschaftlich problematisch.
Verändert sich die Zeitpräferenz eines Menschen im Laufe des Erwachsenwerdens natürlicherweise bzw. im Laufe des Lebens?
Der Mensch ist im Geistigen nicht durch Gesetzmäßigkeiten determiniert, aber es gibt Tendenzen. Das berühmte Marshmallow-Experiment illustriert ganz gut, dass die Abstraktionserfordernis niedrigerer Zeitpräferenz erst im Laufe der Kindheitsentwicklung ausgebildet wird. Gegen Ende des Lebens kann dann aus legitimen Gründen eine Erhöhung stattfinden: um die Freuden des Lebens noch einmal auszukosten. Individualpsychologisch betrachtet ist Zeitpräferenz ein viel zu simpler Indikator für eine Fülle komplexer psychischer und geistiger Aspekte – z.B. Jenseits- und Diesseitsorientierung. Ökonomisch ist Zeitpräferenz aber ein wichtiges Konzept, um die Dynamiken von Kapitalbildung versus Kapitalkonsum besser zu verstehen.
Bleiben wir bei der Ökonomie und kommen wir auf den Zins zusprechen. Wie hängen Zeitpräferenz und Zins zusammen?
Eine wichtige Erkenntnis der frühen Vertreter der Wiener Schule war, dass Zins kein monetäres Phänomen ist, sondern spontanes Ergebnis unterschiedlicher Bewertungen von gegenwärtigen im Vergleich zu zukünftigen Gütern – ergänzt durch unterschiedliche Bewertungen von Risiken, Kaufkraftveränderung und Handelsbedingungen. Insofern Bewertungsunterschiede der ersten Art die ökonomisch kausal wichtigsten (nicht notwendig wertanteilsmäßig größten) sind, und sie auf Zeitpräferenzunterschiede zurückzuführen sind, kann man sagen: Niedrigere Zeitpräferenz bedeutet ceteris paribus niedrigere Zinsen. Wahrscheinlich ist die Realität noch eine Spur komplizierter, Guido Hülsmann etwa hält die Bewertungsunterschiede zwischen Mitteln und Zielen für grundlegender, ich selbst vermute eine größere Bedeutung der wachsenden Ungewissheit entfernterer Zukunft als der Zeit an sich als bloß verstrichene Dauer.
Durch die Systematik unseres Geldsystems, in dem das Geldangebot aus dem Nichts erhöht wird, und durch die von den Notenbanken erzeugte Geldschwemme werden die Zinsen nach unten gedrückt. Wie ist das im Zusammenhang mit der Zeitpräferenz zu beurteilen?
Der Nullzins stellt eine symbolische und ökonomische Schwelle der Geldschöpfung dar. Er bedeutet, dass die Geldschöpfung das Phänomen der Zeitpräferenz völlig überlagert hat, nicht bloß abgeschwächt. Im Nullzinsumfeld erscheint die Zukunft materiell der Gegenwart gleichwertig: die Opportunitätskosten gegenwärtigen Konsums verschwinden. Diese Opportunitätskosten – versäumte Zinserlöse – helfen Menschen, ihre Zeitpräferenz niedrig zu halten. Nullzins bedeutet eine Verstärkung der Kurzfristigkeit, doch paradoxerweise nicht in Richtung eines Genießens des Augenblicks. Die Geldschöpfung macht einen vorübergehenden Eindruck von Wohlstandsmehrung möglich, ohne dass dafür in der Gegenwart die Beschränkung der Ersparnisbildung nötig ist. Ohne Beschränkung bleibt diese Geldschöpfung aber freilich nicht. Über das Anziehen der Güterpreise, insbesondere der Anlagegüter, sorgt sie für ein „Zwangssparen“, allerdings nicht mehr nach den Präferenzen der Menschen, sondern entgegen diesen.
Würden Sie das Phänomen des „Zwangssparens“ bitte noch etwas näher erläutern?
Der Begriff wurde 1931 von Hayek an der London School of Economics in diesem Sinne geprägt: Durch die Kaufkraftveränderungen kommt es zur Konsumeinschränkung. Heute wirkt dies eher indirekt als direkt über Konsumgüter: Der Nullzins ermöglicht niedrige Hypothekarzinsen und damit den extrem weiten Vorgriff auf späteres Einkommen. Andererseits bläht er die Immobilienpreise auf und erhöht dadurch insgesamt die Kreditbelastung. Die durchschnittliche bürgerliche Existenz ist somit durch immer höhere Verschuldung zur Sparsamkeit genötigt, diese wird aber nicht mehr als Ausdruck der eigenen Zeitpräferenz empfunden, sondern als Existenzdruck der zunehmend alternativlosen Verschuldung, denn ohne diese ist das Eigenheim im urbanen Raum – wo sich die Einkommensmöglichkeiten auch aufgrund des Nullzinses immer stärker konzentrieren – längst dem Durchschnittseinkommen entrückt.
Sie schreiben im Buch, dass dieses „Zwangssparen“ die Wirtschaft wie ein Gift durchdringt. In welcher Form äußert sich das?
Es handelt sich um einen Entwertungsdruck, der dem Cantilloneffekt überlagert ist – durch die Wechselwirkung mit unterschiedlichen Präferenzen, unternehmerischen Möglichkeiten und Hebeln wirkt er aber viel ungleichmäßiger, eher wie ein Umwertungsdruck. Der Nullzins ist mehr als bloß Ausdruck von schrankenloser Geldschöpfung. Es kommt zu Überdehnungen und Kontraktionen, die erst in ihrer Gegensätzlichkeit so giftig sind. Paradoxerweise wirken unsere Gesellschaften trotz Kapitalkonsum nicht wie solche, in denen die Zeitpräferenz schlicht erhöht ist. Genuss steht nicht im Mittelpunkt, sondern auf der einen Seite forcierte Produktivität – Renditedruck, burn-out, Mitläufertum – auf der anderen Seite Produktivitätsflucht – Eskapismus, binge-watching, „Selbstverwirklichung“.
Gerade ‚Renditedruck‘ und ‚burn-out‘ sind Phänomene, deren Entstehen man dann dem Kapitalismus in die Schuhe schiebt …
Kapitalismus war immer schon ein Kampfbegriff, um alle Dynamiken zu kritisieren, die an der Moderne missfallen. Leider ist die Wohlstandsexplosion, die erst seit dem 18. Jahrhundert sichtbar wird, aber im Abendland schon eine viel längere Vorlaufzeit hat, ausgerechnet seit dem 18. Jahrhundert von jener Finanzalchemie begleitet, die auf der Grundlage von Steuerschulden den Kapitalmarkt aushebelt. Man muss also den pathologischen Antikapitalismus neiderfüllter Intellektueller und verlotterter Reichenkinder unterscheiden vom bürgerlichen „Antikapitalismus“, der bloß Reaktion auf unverstandene monetäre Dynamiken ist. Noch nie war der materielle Wohlstand so groß wie heute, doch Güterquantität ist kein Selbstzweck. Die Nullzinsfalle kann zum Hamsterrad werden: Wenn steigender Wohlstand als selbstverständlich angesehen wird, weil immer weniger Menschen aufgrund der monetären Schieflagen direkten Bezug zur Wertschöpfung haben, dann sehen die Menschen nur noch Entfremdung, Beschleunigung, „Gentrifizierung“, „land grabbing“ – allesamt Phänomene, die Überdehnungen an sich positiver Marktprozesse darstellen. Das ist die große Gefahr des Nullzinses: Je weniger diese Prozesse aus autonomen Spar‑, Konsum- und Produktionsentscheidungen folgen, desto größer die Ablehnung der Marktwirtschaft, desto mehr fühlen sich die Menschen als Getriebene und nicht mehr als Akteure der Wirtschaftsentwicklung.
Lassen Sie uns auf den Staat zu sprechen kommen, quasi als der Strippenzieher des ganzen Geschehens. Die Dynamik des Nullzinses führt zu einer stärkeren Legitimierung des Staates, so schreiben Sie. Würden Sie das erläutern?
Aktuell können wir beobachten, dass steigende Staatsverschuldung – in den USA auch steigende Verschuldung über Unternehmensanleihen – stagnierende Haushaltsverschuldung wettmacht. Die Zombifizierung der Unternehmen lässt die marginale Wertschöpfung durch Neuverschuldung gegen null gehen. Damit das Geldmengenwachstum nicht rückläufig wird – die vielgefürchtete „Deflation“ – muss der Staat einspringen. Ist das Mittel des Stimulus durch Zinssenkung einmal ausgeschöpft, wird der Druck zunehmen, dass der Staat direkte Ankurbelung durch Ausgaben vornimmt. Den Weg dahin weist etwa die Modern Monetary Theory – eine Neuauflage der Staatlichen Theorie des Geldes von Georg Friedrich Knapp, die heute näher an der Realität ist als damals, also gewissermaßen eine selbsterfüllende Prophezeiung war. Die wachsende Ablehnung der Marktwirtschaft aufgrund der wachsenden monetären Verzerrungen wird das Übrige dazu tun.
Erwartet uns in der nächsten Krise also das berühmte „Helikoptergeld“?
Das ist nur eine Möglichkeit. Als Fiat-„Airdrop“, als gleichverteilte Liquidität, wird Helikoptergeld die wohl populärste monetäre Intervention, aber vom Volumen her wahrscheinlich nicht die gewichtigste werden. Keynesianische Ausgabenprogramme, direkt über Geldschöpfung finanziert, werden dem politischen System genehmer sein – die Finanzierung von „Bildung“, „Klimaschutz“, „Entwicklung“ ermöglicht mehr Posten für Akademiker, „Experten“, „Berater“ etc. und damit einen größeren Anteil am Kuchen für die politischen Entscheider.
Noch eine schwierige Frage zum Schluss, wohlwissend, dass eine Antwort mit vielen Unsicherheiten verbunden ist: Werden wir in den kommenden Jahren einen Systemwechsel sehen bzw. werden sich die durch die Nullzinspolitik entstandenen Verwerfungen noch weiter verschärfen?
Ein totaler Systemumbruch in wenigen Jahren ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher sind viele kleine Umbrüche, Bruchstellen im Zuge der Auseinanderbewegung zwischen künstlich belebter Zombiewirtschaft und den realen Menschen. Diese wird sich beschleunigen, wenn Geld- und Fiskalpolitik verbunden werden, um aus der Nullzinsfalle zu entkommen.
Vielen Dank, Herr Taghizadegan.
Rahim Taghizadegan ist als Baader- und Hoppe-Schüler der letzte österreichische Vertreter der Österreichischen Schule in direkter Tradition und Rektor des scholarium (www.scholarium.at) in Wien. Er lehrte unter anderem an der Universität Liechtenstein, der Wirtschaftsuniversität Wien und der Universität Halle, aktuell wirkt er an der IMC University in Krems und der IAP Universität in Liechtenstein. Er ist mehrfacher Bestsellerautor und gefragter Redner.
Quelle: misesde.org