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Pul­verfass Libyen – Spielball poli­ti­scher und wirt­schaft­licher Interessen

Und jetzt singen wir alle mal das Lied vom bösen Gaddafi! 
Keine Sorge, ich bin kein Ver­tei­diger des frü­heren liby­schen Dik­tators. Aber wie so oft unter Dik­ta­turen – Titos Jugo­slawien lässt grüßen – wird ein Land meist mit eiserner Hand zusam­men­ge­halten, werden Stammes-Wurzeln nie­der­ge­trampelt und das Bestehen einer „Nation“ vor­ge­gaukelt, die nie eine war. Denn auch Libyen – man beachte die höchst will­kür­liche Grenz­ziehung – ist als „Nation“ ein Kunst­produkt der Alliierten.
Libyen, das Land der Stämme, wurde bis 2011 von Gaddafi, einem bru­talen Dik­tator, zusam­men­ge­halten und nach dem inter­na­tio­nalen Mili­tär­einsatz fata­ler­weise allein­ge­lassen. Ver­gessen wird oft, dass die Libyer nach dem Staats­zerfall größ­ten­teils gezwungen waren, auf ihre Stam­mes­struk­turen zurück­zu­greifen. Sie in einen föde­ralen Staat ein­zu­binden, klingt derzeit wie ein ferner Traum. Sie aber unter einer neuen Dik­tatur zu ver­ei­nigen, dürfte über kurz oder lang erneut viel Gewalt nach sich ziehen.
Mitten durch das Nach-Gaddafi-Chaos zieht jetzt General Haftar. Ziel: Tri­polis – und die Eroberung der Macht im Land. Und prompt treten die Ver­einten Nationen auf den Plan, wohl in der Meinung, man habe auf sie gewartet. Jeden­falls hält die UNO trotz der Eska­lation der Lage an der für Mitte des Monats geplanten Ver­söh­nungs­kon­ferenz fest.
Der UNO-Son­der­be­auf­tragte für Libyen, Salamé, sagte in Tri­polis, man arbeite weiter an einer poli­ti­schen Lösung. Vom 14. bis 16. April sollen mehr als 100 Dele­gierte aus allen Kon­flikt­par­teien in der Stadt Gha­dames unter anderem Termine für eine Par­la­ments- und Prä­si­dent­schaftswahl fest­legen. Die Außen­mi­nister der G7-Staaten for­derten den liby­schen General Haftar auf, den Vor­marsch auf die Haupt­stadt Tri­polis zu stoppen. Die Situation sei besorg­nis­er­regend. Auch der UNO-Sicher­heitsrat hatte in dieser Woche für ein Ende der mili­tä­ri­schen Eska­lation plä­diert. Wie sehr der Appell der UNO General Haftar beein­druckt, zeigt die aktuelle Entwicklung:
Noch am Don­nerstag wurden wieder Gefechte zwi­schen regie­rungs­treuen Milizen und Ein­heiten Haftars südlich der Haupt­stadt gemeldet. Dessen Truppen rücken seit Wochen auf Tri­polis vor. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Libyens Krise und Europas Rat­lo­sigkeit – Mili­tä­rische Eskalation
Hun­derte Milizen und Gangs­ter­banden wechseln ständig Alli­anzen, womit sich ständig auch die Fronten ver­schieben. Das ist seit 2011 so – seit Langzeit-Dik­tator Muammar al-Gaddafi mit Hilfe aus dem Westen gestürzt wurde. Seit einigen Monaten stehen ein­ander vor allem zwei Seiten unver­söhnlich gegenüber: auf der einen die Kämpfer um General Khalifa Haftar. Der domi­nierte bisher – ver­ein­facht gesagt – vor allem Ost-Libyen. Auf der anderen Seite: die Kämpfer um Fayez al-Sarraj in West-Libyen, mit der Haupt­stadt Tri­polis. Haftar will Libyen unter seine Kon­trolle bringen – wofür er Sarraj los­werden muss. Aber Sarraj steht einer Regierung vor, die von der inter­na­tio­nalen Staa­ten­ge­mein­schaft aner­kannt ist. Nominell steht die auch geschlossen hinter Sarraj, de facto ist sie jedoch so uneins wie die Libyer.
Jetzt hat Haftar zum Sturm auf die Haupt­stadt Tri­polis auf­ge­rufen. Die inter­na­tionale Gemein­schaft fordert Waf­fenruhe und ist ansonsten ratlos – weil sie auch nicht einig ist.
„Von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Person zu Person“ solle Libyen gereinigt werden: Das ver­langt Muammar al-Gaddafi in einer berühmt gewor­denen Rede im Februar 2011. In eine braune Berber-Tracht gekleidet, fordert er seine Lands­leute dazu auf, gegen Wider­sacher vorzugehen.
Stam­mes­prägung
Bis zum Jahr 2011 regierte Gaddafi Libyen 42 Jahre lang mit eiserner Hand; schweißte das Land zusammen. Es ist ein großes Land, fünf Mal größer als Deutschland, mit drei tra­di­ti­ons­reichen Regionen: Der Cyre­naika im Osten, dem Fezzan im Süden, und Tri­po­li­tanien im Westen, mit der Haupt­stadt Tri­polis. Die Bevöl­kerung Libyens zählt nur etwas mehr als sechs Mil­lionen Menschen.

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Seit Jahr­hun­derten prägten Stämme die Gesell­schaft; Familien, die wenig Loya­lität zu dem emp­fanden, was die Kolo­ni­al­macht Italien 1951 als „Staat“ in die Unab­hän­gigkeit ent­lassen hatte. Vielmehr regelten die Clans ihre Inter­essen unter sich – und setzten sie gegen­ein­ander durch.
Gaddafi presste sie, nachdem er 1969 König Idris ent­machtet hatte, mit den Instru­menten der Dik­tatur in ein poli­ti­sches System, das er aus seiner „Grünen Revo­lution“ ableitete: Ein System, das angeblich auf kom­mu­naler Ebene von Räten regiert wurde; tat­sächlich jedoch von Gad­dafis Geheim­diensten und seinen Söld­ner­ein­heiten. Der Kitt dieser Gesell­schaft: Das Geld, das Gaddafi aus den reichen Ölvor­räten Libyens schöpfte.
Doch 2011, als große Teile der ara­bi­schen Welt von Unruhen erfasst wurden, stellten Gad­dafis Gegner seine Herr­schaft infrage. Gingen auf die Straße, demons­trierten zunächst friedlich, stürmten dann Kasernen, plün­derten Waf­fen­ar­senale. Aus Clans wurden Milizen, die für Gad­dafis Sturz kämpften; ein Auf­stand, dem der Dik­tator mit Waffen begegnete.
Gedeckt von einer UN-Reso­lution, begannen die USA, Frank­reich und Groß­bri­tannien im März 2011, Angriffe auf Gad­dafis Regie­rungs­ein­heiten und Mili­tär­ein­rich­tungen zu fliegen. Offi­ziell zum Schutz der Zivil­be­völ­kerung; tat­sächlich zur Unter­stützung der Oppo­sition. Im Oktober wurde Gaddafi gefangen und ermordet – und das offi­zielle Ende des Krieges verkündet.
Dabei hatte der Bür­ger­krieg längst begonnen. Gegen Gaddafi kämpften 2011 viele Milizen – gemeinsam. Jetzt war dieser gemeinsame Gegner weg. Die Clans begannen wieder, ihre jewei­ligen Inter­essen zu ver­folgen: Manche bil­deten Gangs­ter­banden, die mit Men­schen, Drogen oder Waffen han­delten; manche Milizen ver­traten eine der ver­schie­denen isla­mis­ti­schen Ideo­logien; andere waren sozia­lis­tisch-pan­ara­bisch, wieder andere eher bürgerlich.
Aber weil Gaddafi nie echte, das ganze Land erfas­sende staat­liche Struk­turen geschaffen hatte, agieren alle bis heute in einer Art rechts­freiem Raum. Das System Gaddafi funk­tio­nierte mit Gaddafi – ohne ihn brach alles zusammen.
Sturm auf Tripolis
In diesem Chaos schaffen es im Dezember 2015 ver­schiedene Gruppen – unter Ver­mittlung der UN – das „Libysche Poli­tische Abkommen“ zu schließen. Aus dem geht die „Ein­heits­re­gierung“ hervor. Fayaz al-Sarraj sitzt ihr als Vor­sit­zender des Prä­si­dent­schafts­rates und Regie­rungschef vor. Sarraj, der in West-Libyen, in der Haupt­stadt Tri­polis seinen Sitz hat, stehen ver­schiedene Milizen zur Seite – und die inter­na­tionale Staa­ten­ge­mein­schaft, die ihn und seine Regierung offi­ziell aner­kannt hat. Sein Haupt-Gegen­spieler ist General Khalifa Haftar.
Haftar, ein Mitt­sieb­ziger, der gerne staats­tra­gende Reden hält und wie Gaddafi oft Phan­ta­sie­uni­formen trägt, hat in den 1960er-Jahren zunächst an der Seite des Dik­tators gekämpft, sich dann jedoch gegen Gaddafi gewandt. Unter anderem koope­rierte er mit dem US-Aus­lands­ge­heim­dienst, um 1996 gegen Gaddafi zu put­schen. Nach dessen tat­säch­lichem Sturz 2011 begann Haftars Auf­stieg: Er sam­melte ver­schiedene Milizen um sich, machte aus ihnen die soge­nannte „Libysche Nationale Armee“. Sein Ziel: Das Land unter seine Kon­trolle zu bringen. Dafür musste er Sarraj loswerden.
Inzwi­schen befahl er den Sturm auf Tri­polis. Er sagte, der Westen des Landes müsse von „Ter­ror­gruppen gesäubert“ werden. Der Boden unter den Füßen der – so wörtlich – „Unter­drücker in Tri­polis“ werde nun erbeben.
„Helden, die Zeit ist gekommen. Es ist Zeit, nach Tri­polis vor­zu­rücken – mit kräf­tigem Schritt – und die Stadt friedlich zu betreten.“
Der Sturm­befehl könnte der Auftakt zu grö­ßeren Kämpfen sein, auch wenn Haftar sich zurück­haltend gab.
„Richtet eure Waffen nur gegen die, die beschlossen haben zu kämpfen. Schießt nur auf die, die beschlossen haben zu schießen, und die Blut ver­gießen wollen. Die­je­nigen, die ihre Waffen nie­der­legen, werden geschont.“
Regie­rungschef Sarraj ist dafür bekannt, ruhig und zurück­haltend auf­zu­treten, besonnen – so ganz anders jeden­falls als Haftar und die meisten füh­renden Poli­tiker im Nahen Osten und Nord-Afrika. Und selbst der Angriff Haftars scheint den stu­dierten Archi­tekten Sarraj nicht aus der Ruhe zu bringen, obwohl er in einer Fern­seh­an­sprache klare Worte wählt:
An eine Waf­fenruhe glaubt niemand
„Wir hatten unsere Hände zum Frieden aus­ge­streckt. Aber dem Angriff der Kräfte Haftars, seiner Kriegs­er­klärung gegen unsere Haupt­stadt sowie seinem Putsch-Versuch gegen den Prä­si­dent­schaftsrat wird mit Ent­schlos­senheit und Stärke begegnet. Wir haben den liby­schen Streit- und Sicher­heits­kräften Befehle erteilt – den gene­rellen Befehl, der Bedrohung durch die­je­nigen, die desta­bi­li­sieren wollen und Zivi­listen ein­schüchtern, zu begegnen.“
Aber: Was helfen Zurück­haltung im Auf­treten und Beson­nenheit, wenn man in einem Schlan­gennest bestehen will – zumal die inter­na­tionale Staa­ten­ge­mein­schaft wenig hilf­reich wirkt? Nominell steht sie hinter Sarraj, in Wirk­lichkeit ist sie jedoch so uneins wie die Libyer.
Nur nach außen gibt sich etwa die Euro­päische Union geschlossen. Nach dem Treffen der euro­päi­schen Außen­mi­nister in Luxemburg am Montag beschwor die EU-Außen­be­auf­tragte Federica Mog­herini regel­recht die Einigkeit der Europäer.
„Wir haben den Mit­glieds­staaten erklärt, wie not­wendig es ist, eine ein­heit­liche euro­päische Position zu ver­treten. Und tat­sächlich sind die Mit­glieds­staaten sich einig: Sie fordern alle Par­teien und ihre Unter­stützer zu einer sofor­tigen Waf­fenruhe auf, auch aus huma­ni­tären Gründen.“
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Doch an eine solche Waf­fenruhe glaubt niemand, wohl auch kein euro­päi­scher Außen­mi­nister – zumal jede Droh­ku­lisse fehlt. Für Wolfram Lacher, den Libyen-Experten der Stiftung Wis­sen­schaft und Politik in Berlin, belegt Mog­herinis dünne Erklärung vor allem eines: Die anhal­tende Unei­nigkeit der EU.
„Dieser Appell an eine Waf­fenruhe steht ja in über­haupt keinem Ver­hältnis zu der Dreis­tigkeit und auch zu dem Ausmaß der Eska­lation, die gerade von Haftar uni­la­teral ver­ur­sacht wurde. Und das liegt unter anderem daran, dass Frank­reich Haftar immer noch poli­tisch deckt. Frank­reich hat Haftar schon mehrere Jahre poli­tisch und auch mili­tä­risch unter­stützt, und deckt Haftar immer noch, indem es ver­hindert, dass es inter­na­tional zu stär­keren State­ments, geschweige denn zu Maß­nahmen kommt.“
Diplo­ma­tische Bemü­hungen müssten wieder bei Null ansetzen
Auch bei den Ver­einten Nationen in New York ist die Reaktion auf den ein­sei­tigen Vor­marsch Haftars erstaunlich ver­halten. Im Sicher­heitsrat war es Russland, das eine ein­seitige Ver­ur­teilung Haftars ver­hin­derte. Deutsch­lands UN-Bot­schafter Christoph Heusgen ist im April Vor­sit­zender des höchsten UN-Gre­miums. Nach einer Son­der­sitzung konnte er aber kaum mehr ver­künden als Mogherini.
„Die Mit­glieder des Sicher­heitsrats sind sehr besorgt über die Gefechte in der Nähe von Tri­polis, die die Sta­bi­lität Libyens bedrohen. Sie fordern die Truppen Haftars auf, jede mili­tä­rische Bewegung ein­zu­stellen und alle bewaff­neten Ein­heiten, die Kämpfe zu beenden und zur Dees­ka­lation bei­zu­tragen. Es kann keine mili­tä­rische Lösung des Kon­flikts geben.“
Das ist das Mantra des UN-Son­der­ge­sandten Ghassan Salamé, der seit fast zwei Jahren ver­sucht, die liby­schen War­lords an einen Tisch zu bekommen. Selbst als Haftars Luft­waffe am Montag den ein­zigen Flug­hafen von Tri­polis bom­bar­dierte, hielt Salamé zunächst noch an der Aus­richtung einer großen Natio­nal­kon­ferenz am nächsten Wochenende fest.
Doch in der Nacht zum Mittwoch ver­kündete UN-Sprecher Ste­phane Dujarric in New York die unver­meid­liche Ver­schiebung der Frie­dens­ge­spräche durch Salamé – auf bessere Zeiten.
„Er betont noch einmal sein Bekenntnis, diese Kon­ferenz abzu­halten; aber ver­ständ­li­cher­weise wäre es wohl schwierig, zu ver­handeln, während einem Kugeln um die Ohren fliegen.“
Für den UN-Ver­mittler Salamé ist die Eska­lation auch eine per­sön­liche Nie­derlage. Noch Ende März hatte der liba­ne­sische Diplomat im Sicher­heitsrat erklärt, dass Haftar und Sarraj sich bei einem Treffen auf Wahlen bis zum Jah­resende ver­ständigt hätten. Die geplante Natio­nal­kon­ferenz hätte dafür den Grund­stein legen sollen. Jetzt aber stehen sich die Armeen beider Männer gegenüber; Alli­anzen ver­ändern, ver­schieben sich – und diplo­ma­tische Bemü­hungen müssten wieder bei Null ansetzen. In der aktu­ellen Situation hätten weder Sarraj noch Haftar Interesse an einem Deal, sagt auch der Libyen-Experte Wolfram Lacher.
Offi­ziell ist Libyen mit einem Waf­fen­em­bargo belegt
„Die Gegner Haftars gehen jetzt in die Gegen­of­fensive, sie sehen sich klar im Vorteil, das heißt: Die einzige Mög­lichkeit, diesen Kon­flikt jetzt zu stoppen, wäre, dass Haftar sich zurück­zieht – min­destens zu den Posi­tionen, die seine Ver­bände vor der Offensive ein­nahmen, eher aber darüber hinaus. Und das ist äußerst unwahr­scheinlich. Das würde für ihn eine große Nie­derlage bedeuten, mög­li­cher­weise auch bedeuten, daß seine Position im Osten ins Wanken kommt.“
Solange die Welt­ge­mein­schaft gespalten ist und keinen ernst­haften Druck auf den Kriegs­treiber Haftar ausübt, werden die Kämpfe wohl weitergehen.
Russland etwa steht formal hinter der inter­na­tional aner­kannten Regierung von Sarraj, hat sich aber immer ein Hin­ter­türchen offen­ge­halten – und auch gute Kon­takte zu Haftar gepflegt. Er gilt Moskau als starker Mann, als Kämpfer gegen isla­mis­tische Milizen – „Ter­ro­risten“, wie es in Russland heißt.
Eine ähn­liche Position hat Ägypten, das an Ost-Libyen grenzt, also an Haftars Herr­schafts­gebiet. Auch die Ver­ei­nigten Ara­bi­schen Emirate haben Haftar Jahre lang gestärkt. Beide – die Emirate und Ägypten – sollen maß­geblich am Aufbau der Luft­waffe beteiligt gewesen sein, die unter Haftars Befehl steht und dieser Tage mehrfach Angriffe auf Stel­lungen der Sarraj-Leute in Libyen geflogen hat.
Sarraj hin­gegen verfügt über keine nen­nens­werten Kampf­flug­zeuge. Denn: Offi­ziell ist ganz Libyen noch immer mit einem Waf­fen­em­bargo belegt.
„Die Her­aus­for­de­rungen, die Ver­söhnung bedeutet, sind groß. Groß für das libysche Volk, das seit meh­reren Jahren in Leid lebt, in Insta­bi­lität, mit dem Risiko des Terrorismus…“
Frank­reichs Prä­sident Emmanuel Macron im Sommer 2017. Er hatte in Paris die Rivalen Sarraj und Haftar zu Gesprächen zusam­men­ge­bracht. Macron trat als Ver­mittler auf, der sich für gesamt-libysche Wahlen stark machte.
Doch Macron ist kein selbst­loser Poli­tiker. Auch Paris hat über Jahre Haftar gestärkt – mit Mili­tär­be­ratern und der Sta­tio­nierung von Spe­zi­al­kräften. Was Haftar in seinem Kampf gegen isla­mis­tische Milizen eine gewisse Legi­ti­mation gab.
Mit Inter­es­sen­po­litik Insta­bi­lität befördert
Im Fezzan, im Süden Libyens, hat Frank­reich oben­drein spe­zielle Inter­essen. Nachdem die Regierung Sarraj die Region Jahre lang ver­nach­lässigt hatte, konnte Haftar dort Gebiets­ge­winne erzielen. Weil der Süden Libyens an Tschad, Niger und Mali grenzt – Länder, in denen Frank­reich stark mili­tä­risch, wirt­schaftlich und poli­tisch präsent ist und keine unüber­sicht­liche Situation an den Grenzen braucht –, zahlen sich Frank­reichs Kon­takte zu Haftar nun sta­bi­li­sierend aus.
Damit aber ist Frank­reich in Sachen Ein­fluss vor Ort zum großen Kon­kur­renten Ita­liens geworden; der Kolo­ni­al­macht, die einst Libyen beherrschte. Der ita­lie­nische Ener­gie­gigant ENI fördert in Libyen Öl, wo es nur zu finden ist.
Mit ihrer Inter­es­sen­po­litik haben die Akteure die Insta­bi­lität befördert, die Libyen seit Jahren prägt. Der UN-Gesandte Ghassan Salamé:
„Libyen ist in einem sinn­losen und zer­stö­re­ri­schen Teu­fels­kreis gefangen, ange­trieben von den Ambi­tionen Ein­zelner und vom gestoh­lenen Reichtum der Nation. Obwohl das Land gesegnet ist, wenn es um seine Men­schen und die Res­sourcen geht, wird es immer schneller zu einer Tra­gödie ver­passter Chancen.“
In dieser Tra­gödie bleibt den Ver­einten Nationen jetzt nur die undankbare Rolle, die Zivil­be­völ­kerung vor dem Schlimmsten zu bewahren. Schon vor der aktu­ellen Eska­lation galten Recht und Gesetz in Libyen nicht viel. Daher glaubt niemand, dass sich die Kom­bat­tanten an das huma­nitäre Völ­ker­recht halten. Ravina Shamd­asani, Spre­cherin der UN-Hoch­kom­mis­sarin für Men­schen­rechte, warnte nach der Bom­bar­dierung des Flug­hafens von Tri­polis bereits vor mög­lichen Kriegsverbrechen.
Berichte von „KZ-ähn­lichen“ Zuständen
„Haftars Ein­heiten behaupten, der Flug­hafen sei ein mili­tä­ri­sches Ziel und deshalb hätten sie ihn bom­bar­diert. Aber selbst in diesem Fall müssten sie alles tun, damit es keine zivilen Opfer gibt. Was wir hin­gegen hören, ist, dass die ver­wen­deten Waffen nicht das sind, was man – naja – neue Tech­no­logie nennen kann. Und deshalb kann es sich sehr wohl um einen wahl­losen Angriff handeln.“
Wahllose Angriffe sind völ­ker­rechts­widrig. Haftar könnte im Extremfall vor dem Inter­na­tio­nalen Straf­ge­richtshof ange­klagt werden. Doch ob ihn das abschreckt? Wohl kaum. Tat­sächlich hegen Men­schen­rechtler derzeit sehr kon­krete Ängste.
„Nach allem, was wir bisher in Libyen gesehen haben, befürchten wir, dass Migranten als mensch­liche Schutz­schilde benutzt werden – oder gezwungen werden, selbst zu kämpfen.“
Migranten gehören – neben 500.000 Kindern, die laut Unicef von den Kämpfen unmit­telbar bedroht sind – zu den wohl am meisten gefähr­deten Gruppen im Land. Fast 60.000 von ihnen sind offi­ziell regis­triert, dazu kommen Zehn­tau­sende, die als illegale Migranten auf dem Weg nach Europa in Libyen gestrandet sind. Sie leben unter erbärm­lichsten Bedingungen.
Diplo­maten, die Lager unter Kon­trolle liby­scher Sol­daten besuchen durften, berichten von „KZ-ähn­lichen“ Zuständen. Auch in diese Lager bringt die soge­nannte libysche Küs­ten­wache die Flücht­linge zurück, die sie auf hoher See im Auftrag Ita­liens und der EU bei ihrer Flucht nach Norden aufhält. Das ist ein Haupt­motiv dafür, dass Ita­liens frem­den­feind­licher Innen­mi­nister Matteo Salvini enge Ver­bin­dungen nach Tri­polis pflegt und – wie im Juli 2018 – die Auf­rüstung des Ver­bün­deten Saraj und seiner Milizen fordert.
„Wir wollen ein Ende des Waf­fen­em­bargos, weil sich Schleuser und Waf­fen­schmuggler ganz offen­sichtlich nicht daran halten und nach Gusto auf­rüsten. Die ein­zigen, die das nicht dürfen, sind die legi­timen, aner­kannten Autoritäten.“
Bri­sante Waffengeschäfte
Tat­sächlich werden Waffen nach Libyen geschmuggelt – und wohl nicht zu knapp. Das bestätigt nicht zuletzt ein Exper­ten­panel der UNO, das das 2011 ver­ab­schiedete Embargo über­wachen soll. Ende März kün­digte Deutschland im Sicher­heitsrat an, das Komitee werde bald Details über einen Waf­fen­schmuggler vor­legen, der von Ägypten über Tunis nach Libyen gereist sei.
Sechs Tage später wurde einer der Experten, der Deutsch-Tunesier Moncef Kartas, in Tunis ver­haftet – womöglich, weil er zu viel wußte. Die UN bemühen sich derzeit, ihn frei­zu­be­kommen – schließlich genießt er diplo­ma­tische Immu­nität. Der Fall zeigt, wie brisant die Waf­fen­ge­schäfte sind – und wie viel­fältig die Inter­essen derer, die den Krieg in Libyen anheizen.
Für die Ärmsten bleibt dagegen nur die Flucht. Das UN-Flücht­lings­hilfswerk hat damit begonnen, die­je­nigen umzu­siedeln, deren Lager der Front gefährlich nahe liegen – Matthew Brook leitet die Ope­ration vor Ort.
„Ich befinde mich im Lager von Ain Zara, wo die Flücht­linge seit Tagen mitten in der Kampfzone aus­harren. Die Men­schen haben große Angst. Wir bringen sie deshalb von hier an einen sicheren Ort in Tri­polis. Während ich spreche, höre ich Artil­le­rie­feuer und Deto­na­tionen. Wir werden ver­suchen, so schnell wie möglich von hier wegzukommen.“
Das eva­ku­ierte Lager Ain Zara befindet sich nur zwanzig Minuten vom Zentrum der Haupt­stadt Tri­polis ent­fernt. Wie lange es hier noch sichere Orte gibt, scheint höchst ungewiss.
Meine Wertung
Der libysche Bür­ger­krieg ist so schmerzhaft wie alle Kon­flikte im Nahen Osten – schon des­wegen drängt sich eine Rückkehr an den Ver­hand­lungs­tisch auf. Es ist schwer zu sagen, warum sich General Haftar zur Offensive auf Tri­polis ent­schlossen hat. Dafür hatte es keinen Anlass gegeben.
Haftar stützt sich auf ver­schiedene libysche Stam­mes­gruppen und genießt auch inter­na­tional gewisse Sym­pa­thien – unter anderem in Russland. Wenn man die Beson­der­heiten der poli­ti­schen Land­schaft Libyens in Betracht zieht, lässt sich die weitere Ent­wicklung schwer vor­her­sagen. Haftar jeden­falls dürfte wei­terhin ver­suchen, die Macht an sich zu reißen – mit allen Mitteln.“
Haftar sieht sich wohl tat­sächlich mit der Mission betraut, Libyen von Isla­misten und Jiha­disten zu säubern und wieder Ordnung her­zu­stellen. In dieser Meinung wird Haftar von seinen ara­bi­schen Partnern bestärkt, allen voran den Ver­ei­nigten Ara­bi­schen Emi­raten und Ägypten. Nicht umsonst wird er als der ‚libysche Sisi‘ para­phra­siert, nach dem ägyp­ti­schen Prä­si­denten und Mus­lim­brü­der­jäger Abdel Fattah Al Sisi. Dass dieser bis jetzt, also in den fünf­einhalb Jahren nach dem Sturz des Mus­lim­bruder-Prä­si­denten Mohammed Mursi, den Krieg mit den Isla­misten auf dem Sinai nicht beenden konnte, trübt nicht die Gewissheit seiner Anhänger, dass auch Libyen einen ‚starken Mann‘ braucht.
Für die Ein­wohner im Westen des nord­afri­ka­ni­schen Landes ist Haftar der leib­haftige Teufel, ein ‚zweiter Gaddafi‘. Doch viele in Libyen sehnen sich nach jener Zeit zurück, als sie unter der dik­ta­to­ri­schen Regierung des exzen­tri­schen Generals Gaddafi gut und in der Regel in Frieden lebten. Der Schlüssel für Haftars Vor­marsch war der Gewinn des Wohl­wollens lokaler Stämme, die der General bestach und in seine Armee ein­glie­derte. Die von der inter­na­tional aner­kannten Regierung ver­nach­läs­sigte Bevöl­kerung – erschöpft durch das von Schmugglern und isla­mis­ti­schen Ter­ro­risten bestimmte Leben – hofft auf eine Chance der Stabilisierung.
Zur Wahrheit – und damit zur bit­teren Erkenntnis – gehört auch:
Haftars Ver­bün­deten geht es vor allem darum, alle Par­teien des Landes poli­tisch in die Bedeu­tungs­lo­sigkeit zu drängen. Sie wollen, dass Libyen ein Land wie Ägypten unter Prä­sident Al-Sisi wird. Ein Land, in dem von der Revo­lution nur noch die Erin­nerung übrigbleibt.
Haftar glaubt, dass er sich mit Moskau und Washington einigen kann, hat er doch über 20 Jahre in den USA gelebt und dort die ame­ri­ka­nische Staats­bür­ger­schaft erhalten. Außerdem hat er in den 1960er-Jahren in Russland stu­diert. All diese Jahre hat Haftar von einer Regie­rungs­über­nahme in Tri­polis geträumt. Er schmiedete lange Zeit Rache­pläne gegen den ehe­ma­ligen Revo­lu­ti­ons­führer Gaddafi. Auch US-Prä­sident Ronald Reagan, der Gaddafi einen toll­wü­tigen Hund des Nahen Ostens nannte, hatte Haftar bei seinen Staats­streich­ver­suchen unter­stützt. Mög­li­cher­weise hat der General mit dem US-Spio­na­ge­dienst zusam­men­ge­ar­beitet, hat aber auch exzel­lente Bezie­hungen zu Russland: Er unterhält nicht nur gute Bezie­hungen zu Russland, er wird offenbar auch von rus­si­schen Sol­daten unterstützt.
Seit Jahren schon unterhält das rus­sische Militär regel­mä­ßigen Kontakt zu Chalifa Haftar, der in Libyen zur Offensive auf Tri­polis ansetzt: Vor mehr als zwei Jahren bekam er einen Empfang auf dem Flug­zeug­träger „Admiral Kus­nezow“, ein­schließlich eines Gesprächs per Video­schalte mit Sergei Schoigu, dem rus­si­schen Ver­tei­di­gungs­mi­nister. Haftar war in den ver­gan­genen Jahren außerdem mehrfach zu Besuch in Moskau.
Russland will Ein­fluss auf die Zukunft des ölreichen Staates nehmen
Das rus­sische Militär scheint gerne den Ein­druck zu erwecken, Haftars Vor­marsch sei legitim. Beson­derer Wert wird auf den Hinweis gelegt, dass er rus­sisch spreche: „Chalifa Haftar wurde in der Sowjet­union aus­ge­bildet: 1978 absol­vierte er Offi­zier­s­kurse. 1983 hörte er Vor­le­sungen an der Frunse-Mili­tär­aka­demie“, einer Hoch­schule der Sowje­ti­schen Armee.
Russland setzt in Libyen aber wohl nicht nur auf freund­liche Worte. Wer die Mel­dungen der ver­gan­genen Monate zuein­ander fügt, für den zeichnen sich Umrisse mili­tä­ri­schen Enga­ge­ments in dem nord­afri­ka­ni­schen Staat ab: Die Zeitung RBK schrieb im Oktober des ver­gan­genen Jahres unter Verweis auf eine unge­nannte Quelle, über Monate seien rus­sische Sol­daten nach Libyen verlegt worden, um die von Haftar befeh­ligten Truppen zu unter­stützen. Die Sol­daten sollen aus Ein­heiten der Luft­lan­de­truppen stammen.
Moskau behält auch weitere Optionen
Moskau hält sich trotz der deut­lichen Zuneigung zu Haftar auch andere Optionen offen. Es hat im UN-Sicher­heitsrat ein Waf­fen­em­bargo für Libyen mit­ge­tragen und die Ein­heits­re­gierung aner­kannt. Deren Minis­ter­prä­sident Fajis al-Sar­radsch war auch zu Gesprächen in Moskau. In diesen Tagen ermahnte die Mos­kauer Diplo­matie beide Kon­flikt­par­teien: „Wir alle müssen die Libyer dazu auf­rufen, ihre Angriffe und mili­tä­ri­schen Ope­ra­tionen zu beenden und sich an den Ver­hand­lungs­tisch zu setzen“, for­derte Außen­mi­nister Sergej Lawrow. Damit wurde auch klar, dass Russland die Offensive Haftars nicht ein­seitig ver­ur­teilen will.
Die meisten unab­hän­gigen Experten in Moskau erkennen noch keine klare Stra­tegie der rus­si­schen Führung in Libyen
Wahr­scheinlich ist zurzeit dies: Es geht dem Kreml darum, präsent zu sein und Ein­fluss auf die Zukunft des ölreichen Staates zu nehmen. Dies kann sich nützlich erweisen, um künftig Geschäfte zu machen. Die Rede ist vom Bau von Eisen­bahn­linien, vom Ein­stieg ins Geschäft mit Erdöl. Und dass Flücht­lings­routen nach Europa durch Libyen führen, muss für Moskau kein Nachteil sein.
Wirt­schaft­liche Inter­essen leiten auch andere
Wohl aus vor­rangig wirt­schaft­lichen Gründen unter­stützten – zumindest für eine gewisse Zeit – die Ver­ei­nigten Ara­bi­schen Emirate jede UN-Reso­lution zu Libyen. Unter dem Tisch haben die Emirate par­allel Haftar gestärkt. Sie wollten Ver­käufe von Rohöl aus Ost-Libyen erleichtern; Ver­käufe, die Haftar und ihnen zu Gute gekommen wären. Immerhin: Auf­grund inter­na­tio­nalen Drucks soll das Unter­fangen gestoppt worden sein.
Vor allem wirt­schaft­liche Inter­essen hat auch Italien, dessen Kolonie Libyen einst war. Der ita­lie­nische Ener­gie­gigant ENI fördert in Libyen Öl, wo es nur zu finden ist.
Paris hat Haftar lange gestärkt
Als Kon­kurrent zu Italien tut sich mitt­ler­weile UN-Sicher­heits­rats­mit­glied Frank­reich hervor. Paris hat über drei Jahre Haftar gestärkt: Mit Mili­tär­be­ratern und der Sta­tio­nierung von Spe­zi­al­kräften. Was Haftar eine gewisse Legi­ti­mierung gab – in seinem Kampf gegen isla­mis­tische Milizen. Im Süden Libyens, in dem Haftar jüngst Boden­ge­winne erzielte, hat Frank­reich oben­drein Inter­essen: Die Region grenzt an Tschad, Niger und Mali – Länder, in denen Frank­reich stark präsent ist: mili­tä­risch, wirt­schaftlich und politisch.
Nationale Inter­essen leiten die Politik der ein­zelnen Akteure; oft eint sie nur das blaue Banner der UN. Mit ihrer Inter­es­sens­po­litik haben sie die Insta­bi­lität unter­mauert, die Libyen seit Jahren zu einem Failed-State macht. So wurde das Land ohne Gesetz und Ordnung immer mehr zu einem Etap­penziel für Hun­dert­tau­sende Migranten aus Sub-Sahara-Afrika, deren Flucht übers Mit­telmeer Italien und Frank­reich angeblich ja ach so gerne ein­dämmen wollen. Wen wundert‘s, dass das nur bedingt klappt.
Ägypten, Saudi-Arabien und die Ver­ei­nigten Ara­bi­schen Emirate haben nur ein Ziel vor Augen: nämlich die Bevöl­kerung von ganz Libyen nie­der­zu­ringen, und dazu mög­lichst auch noch die poli­ti­schen Reform-Bewe­gungen in Algerien und Sudan. Die Hoffnung auf Demo­kratie wollen sie nicht wieder auf­kommen lassen.
Die inter­na­tionale Gemein­schaft ist fak­tisch in der liby­schen Frage gespalten: 
Ägypten und die Ver­ei­nigten Ara­bi­schen Emirate hatten Luft­an­griffe gegen die Gegner von General Haftar aus­ge­führt. Beide Länder werden auch beschuldigt, trotz UNO-Embargo Waffen geliefert zu haben. Und Frank­reich hat Son­der­ein­heiten zur Unter­stützung nach Bengasi ent­sandt. Doch Haftar ist keine Mario­nette. Er nutzt die bereit­ge­stellten Res­sourcen nach eigenem Ermessen.
Und so dreht sich das Rad, und jeder der han­delnden Akteure dreht sich auch um sich selbst. Von der geplagten Bevöl­kerung spricht niemand.
(ver­wendete Quellen: eigene Recherchen P.H., Dlf)

Dieser lesens­werte Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Peter Helmes – www.conservo.wordpress.com