Und jetzt singen wir alle mal das Lied vom bösen Gaddafi!
Keine Sorge, ich bin kein Verteidiger des früheren libyschen Diktators. Aber wie so oft unter Diktaturen – Titos Jugoslawien lässt grüßen – wird ein Land meist mit eiserner Hand zusammengehalten, werden Stammes-Wurzeln niedergetrampelt und das Bestehen einer „Nation“ vorgegaukelt, die nie eine war. Denn auch Libyen – man beachte die höchst willkürliche Grenzziehung – ist als „Nation“ ein Kunstprodukt der Alliierten.
Libyen, das Land der Stämme, wurde bis 2011 von Gaddafi, einem brutalen Diktator, zusammengehalten und nach dem internationalen Militäreinsatz fatalerweise alleingelassen. Vergessen wird oft, dass die Libyer nach dem Staatszerfall größtenteils gezwungen waren, auf ihre Stammesstrukturen zurückzugreifen. Sie in einen föderalen Staat einzubinden, klingt derzeit wie ein ferner Traum. Sie aber unter einer neuen Diktatur zu vereinigen, dürfte über kurz oder lang erneut viel Gewalt nach sich ziehen.
Mitten durch das Nach-Gaddafi-Chaos zieht jetzt General Haftar. Ziel: Tripolis – und die Eroberung der Macht im Land. Und prompt treten die Vereinten Nationen auf den Plan, wohl in der Meinung, man habe auf sie gewartet. Jedenfalls hält die UNO trotz der Eskalation der Lage an der für Mitte des Monats geplanten Versöhnungskonferenz fest.
Der UNO-Sonderbeauftragte für Libyen, Salamé, sagte in Tripolis, man arbeite weiter an einer politischen Lösung. Vom 14. bis 16. April sollen mehr als 100 Delegierte aus allen Konfliktparteien in der Stadt Ghadames unter anderem Termine für eine Parlaments- und Präsidentschaftswahl festlegen. Die Außenminister der G7-Staaten forderten den libyschen General Haftar auf, den Vormarsch auf die Hauptstadt Tripolis zu stoppen. Die Situation sei besorgniserregend. Auch der UNO-Sicherheitsrat hatte in dieser Woche für ein Ende der militärischen Eskalation plädiert. Wie sehr der Appell der UNO General Haftar beeindruckt, zeigt die aktuelle Entwicklung:
Noch am Donnerstag wurden wieder Gefechte zwischen regierungstreuen Milizen und Einheiten Haftars südlich der Hauptstadt gemeldet. Dessen Truppen rücken seit Wochen auf Tripolis vor. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Libyens Krise und Europas Ratlosigkeit – Militärische Eskalation
Hunderte Milizen und Gangsterbanden wechseln ständig Allianzen, womit sich ständig auch die Fronten verschieben. Das ist seit 2011 so – seit Langzeit-Diktator Muammar al-Gaddafi mit Hilfe aus dem Westen gestürzt wurde. Seit einigen Monaten stehen einander vor allem zwei Seiten unversöhnlich gegenüber: auf der einen die Kämpfer um General Khalifa Haftar. Der dominierte bisher – vereinfacht gesagt – vor allem Ost-Libyen. Auf der anderen Seite: die Kämpfer um Fayez al-Sarraj in West-Libyen, mit der Hauptstadt Tripolis. Haftar will Libyen unter seine Kontrolle bringen – wofür er Sarraj loswerden muss. Aber Sarraj steht einer Regierung vor, die von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt ist. Nominell steht die auch geschlossen hinter Sarraj, de facto ist sie jedoch so uneins wie die Libyer.
Jetzt hat Haftar zum Sturm auf die Hauptstadt Tripolis aufgerufen. Die internationale Gemeinschaft fordert Waffenruhe und ist ansonsten ratlos – weil sie auch nicht einig ist.
„Von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Person zu Person“ solle Libyen gereinigt werden: Das verlangt Muammar al-Gaddafi in einer berühmt gewordenen Rede im Februar 2011. In eine braune Berber-Tracht gekleidet, fordert er seine Landsleute dazu auf, gegen Widersacher vorzugehen.
Stammesprägung
Bis zum Jahr 2011 regierte Gaddafi Libyen 42 Jahre lang mit eiserner Hand; schweißte das Land zusammen. Es ist ein großes Land, fünf Mal größer als Deutschland, mit drei traditionsreichen Regionen: Der Cyrenaika im Osten, dem Fezzan im Süden, und Tripolitanien im Westen, mit der Hauptstadt Tripolis. Die Bevölkerung Libyens zählt nur etwas mehr als sechs Millionen Menschen.
Seit Jahrhunderten prägten Stämme die Gesellschaft; Familien, die wenig Loyalität zu dem empfanden, was die Kolonialmacht Italien 1951 als „Staat“ in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Vielmehr regelten die Clans ihre Interessen unter sich – und setzten sie gegeneinander durch.
Gaddafi presste sie, nachdem er 1969 König Idris entmachtet hatte, mit den Instrumenten der Diktatur in ein politisches System, das er aus seiner „Grünen Revolution“ ableitete: Ein System, das angeblich auf kommunaler Ebene von Räten regiert wurde; tatsächlich jedoch von Gaddafis Geheimdiensten und seinen Söldnereinheiten. Der Kitt dieser Gesellschaft: Das Geld, das Gaddafi aus den reichen Ölvorräten Libyens schöpfte.
Doch 2011, als große Teile der arabischen Welt von Unruhen erfasst wurden, stellten Gaddafis Gegner seine Herrschaft infrage. Gingen auf die Straße, demonstrierten zunächst friedlich, stürmten dann Kasernen, plünderten Waffenarsenale. Aus Clans wurden Milizen, die für Gaddafis Sturz kämpften; ein Aufstand, dem der Diktator mit Waffen begegnete.
Gedeckt von einer UN-Resolution, begannen die USA, Frankreich und Großbritannien im März 2011, Angriffe auf Gaddafis Regierungseinheiten und Militäreinrichtungen zu fliegen. Offiziell zum Schutz der Zivilbevölkerung; tatsächlich zur Unterstützung der Opposition. Im Oktober wurde Gaddafi gefangen und ermordet – und das offizielle Ende des Krieges verkündet.
Dabei hatte der Bürgerkrieg längst begonnen. Gegen Gaddafi kämpften 2011 viele Milizen – gemeinsam. Jetzt war dieser gemeinsame Gegner weg. Die Clans begannen wieder, ihre jeweiligen Interessen zu verfolgen: Manche bildeten Gangsterbanden, die mit Menschen, Drogen oder Waffen handelten; manche Milizen vertraten eine der verschiedenen islamistischen Ideologien; andere waren sozialistisch-panarabisch, wieder andere eher bürgerlich.
Aber weil Gaddafi nie echte, das ganze Land erfassende staatliche Strukturen geschaffen hatte, agieren alle bis heute in einer Art rechtsfreiem Raum. Das System Gaddafi funktionierte mit Gaddafi – ohne ihn brach alles zusammen.
Sturm auf Tripolis
In diesem Chaos schaffen es im Dezember 2015 verschiedene Gruppen – unter Vermittlung der UN – das „Libysche Politische Abkommen“ zu schließen. Aus dem geht die „Einheitsregierung“ hervor. Fayaz al-Sarraj sitzt ihr als Vorsitzender des Präsidentschaftsrates und Regierungschef vor. Sarraj, der in West-Libyen, in der Hauptstadt Tripolis seinen Sitz hat, stehen verschiedene Milizen zur Seite – und die internationale Staatengemeinschaft, die ihn und seine Regierung offiziell anerkannt hat. Sein Haupt-Gegenspieler ist General Khalifa Haftar.
Haftar, ein Mittsiebziger, der gerne staatstragende Reden hält und wie Gaddafi oft Phantasieuniformen trägt, hat in den 1960er-Jahren zunächst an der Seite des Diktators gekämpft, sich dann jedoch gegen Gaddafi gewandt. Unter anderem kooperierte er mit dem US-Auslandsgeheimdienst, um 1996 gegen Gaddafi zu putschen. Nach dessen tatsächlichem Sturz 2011 begann Haftars Aufstieg: Er sammelte verschiedene Milizen um sich, machte aus ihnen die sogenannte „Libysche Nationale Armee“. Sein Ziel: Das Land unter seine Kontrolle zu bringen. Dafür musste er Sarraj loswerden.
Inzwischen befahl er den Sturm auf Tripolis. Er sagte, der Westen des Landes müsse von „Terrorgruppen gesäubert“ werden. Der Boden unter den Füßen der – so wörtlich – „Unterdrücker in Tripolis“ werde nun erbeben.
„Helden, die Zeit ist gekommen. Es ist Zeit, nach Tripolis vorzurücken – mit kräftigem Schritt – und die Stadt friedlich zu betreten.“
Der Sturmbefehl könnte der Auftakt zu größeren Kämpfen sein, auch wenn Haftar sich zurückhaltend gab.
„Richtet eure Waffen nur gegen die, die beschlossen haben zu kämpfen. Schießt nur auf die, die beschlossen haben zu schießen, und die Blut vergießen wollen. Diejenigen, die ihre Waffen niederlegen, werden geschont.“
Regierungschef Sarraj ist dafür bekannt, ruhig und zurückhaltend aufzutreten, besonnen – so ganz anders jedenfalls als Haftar und die meisten führenden Politiker im Nahen Osten und Nord-Afrika. Und selbst der Angriff Haftars scheint den studierten Architekten Sarraj nicht aus der Ruhe zu bringen, obwohl er in einer Fernsehansprache klare Worte wählt:
An eine Waffenruhe glaubt niemand
„Wir hatten unsere Hände zum Frieden ausgestreckt. Aber dem Angriff der Kräfte Haftars, seiner Kriegserklärung gegen unsere Hauptstadt sowie seinem Putsch-Versuch gegen den Präsidentschaftsrat wird mit Entschlossenheit und Stärke begegnet. Wir haben den libyschen Streit- und Sicherheitskräften Befehle erteilt – den generellen Befehl, der Bedrohung durch diejenigen, die destabilisieren wollen und Zivilisten einschüchtern, zu begegnen.“
Aber: Was helfen Zurückhaltung im Auftreten und Besonnenheit, wenn man in einem Schlangennest bestehen will – zumal die internationale Staatengemeinschaft wenig hilfreich wirkt? Nominell steht sie hinter Sarraj, in Wirklichkeit ist sie jedoch so uneins wie die Libyer.
Nur nach außen gibt sich etwa die Europäische Union geschlossen. Nach dem Treffen der europäischen Außenminister in Luxemburg am Montag beschwor die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini regelrecht die Einigkeit der Europäer.
„Wir haben den Mitgliedsstaaten erklärt, wie notwendig es ist, eine einheitliche europäische Position zu vertreten. Und tatsächlich sind die Mitgliedsstaaten sich einig: Sie fordern alle Parteien und ihre Unterstützer zu einer sofortigen Waffenruhe auf, auch aus humanitären Gründen.“
Doch an eine solche Waffenruhe glaubt niemand, wohl auch kein europäischer Außenminister – zumal jede Drohkulisse fehlt. Für Wolfram Lacher, den Libyen-Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, belegt Mogherinis dünne Erklärung vor allem eines: Die anhaltende Uneinigkeit der EU.
„Dieser Appell an eine Waffenruhe steht ja in überhaupt keinem Verhältnis zu der Dreistigkeit und auch zu dem Ausmaß der Eskalation, die gerade von Haftar unilateral verursacht wurde. Und das liegt unter anderem daran, dass Frankreich Haftar immer noch politisch deckt. Frankreich hat Haftar schon mehrere Jahre politisch und auch militärisch unterstützt, und deckt Haftar immer noch, indem es verhindert, dass es international zu stärkeren Statements, geschweige denn zu Maßnahmen kommt.“
Diplomatische Bemühungen müssten wieder bei Null ansetzen
Auch bei den Vereinten Nationen in New York ist die Reaktion auf den einseitigen Vormarsch Haftars erstaunlich verhalten. Im Sicherheitsrat war es Russland, das eine einseitige Verurteilung Haftars verhinderte. Deutschlands UN-Botschafter Christoph Heusgen ist im April Vorsitzender des höchsten UN-Gremiums. Nach einer Sondersitzung konnte er aber kaum mehr verkünden als Mogherini.
„Die Mitglieder des Sicherheitsrats sind sehr besorgt über die Gefechte in der Nähe von Tripolis, die die Stabilität Libyens bedrohen. Sie fordern die Truppen Haftars auf, jede militärische Bewegung einzustellen und alle bewaffneten Einheiten, die Kämpfe zu beenden und zur Deeskalation beizutragen. Es kann keine militärische Lösung des Konflikts geben.“
Das ist das Mantra des UN-Sondergesandten Ghassan Salamé, der seit fast zwei Jahren versucht, die libyschen Warlords an einen Tisch zu bekommen. Selbst als Haftars Luftwaffe am Montag den einzigen Flughafen von Tripolis bombardierte, hielt Salamé zunächst noch an der Ausrichtung einer großen Nationalkonferenz am nächsten Wochenende fest.
Doch in der Nacht zum Mittwoch verkündete UN-Sprecher Stephane Dujarric in New York die unvermeidliche Verschiebung der Friedensgespräche durch Salamé – auf bessere Zeiten.
„Er betont noch einmal sein Bekenntnis, diese Konferenz abzuhalten; aber verständlicherweise wäre es wohl schwierig, zu verhandeln, während einem Kugeln um die Ohren fliegen.“
Für den UN-Vermittler Salamé ist die Eskalation auch eine persönliche Niederlage. Noch Ende März hatte der libanesische Diplomat im Sicherheitsrat erklärt, dass Haftar und Sarraj sich bei einem Treffen auf Wahlen bis zum Jahresende verständigt hätten. Die geplante Nationalkonferenz hätte dafür den Grundstein legen sollen. Jetzt aber stehen sich die Armeen beider Männer gegenüber; Allianzen verändern, verschieben sich – und diplomatische Bemühungen müssten wieder bei Null ansetzen. In der aktuellen Situation hätten weder Sarraj noch Haftar Interesse an einem Deal, sagt auch der Libyen-Experte Wolfram Lacher.
Offiziell ist Libyen mit einem Waffenembargo belegt
„Die Gegner Haftars gehen jetzt in die Gegenoffensive, sie sehen sich klar im Vorteil, das heißt: Die einzige Möglichkeit, diesen Konflikt jetzt zu stoppen, wäre, dass Haftar sich zurückzieht – mindestens zu den Positionen, die seine Verbände vor der Offensive einnahmen, eher aber darüber hinaus. Und das ist äußerst unwahrscheinlich. Das würde für ihn eine große Niederlage bedeuten, möglicherweise auch bedeuten, daß seine Position im Osten ins Wanken kommt.“
Solange die Weltgemeinschaft gespalten ist und keinen ernsthaften Druck auf den Kriegstreiber Haftar ausübt, werden die Kämpfe wohl weitergehen.
Russland etwa steht formal hinter der international anerkannten Regierung von Sarraj, hat sich aber immer ein Hintertürchen offengehalten – und auch gute Kontakte zu Haftar gepflegt. Er gilt Moskau als starker Mann, als Kämpfer gegen islamistische Milizen – „Terroristen“, wie es in Russland heißt.
Eine ähnliche Position hat Ägypten, das an Ost-Libyen grenzt, also an Haftars Herrschaftsgebiet. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben Haftar Jahre lang gestärkt. Beide – die Emirate und Ägypten – sollen maßgeblich am Aufbau der Luftwaffe beteiligt gewesen sein, die unter Haftars Befehl steht und dieser Tage mehrfach Angriffe auf Stellungen der Sarraj-Leute in Libyen geflogen hat.
Sarraj hingegen verfügt über keine nennenswerten Kampfflugzeuge. Denn: Offiziell ist ganz Libyen noch immer mit einem Waffenembargo belegt.
„Die Herausforderungen, die Versöhnung bedeutet, sind groß. Groß für das libysche Volk, das seit mehreren Jahren in Leid lebt, in Instabilität, mit dem Risiko des Terrorismus…“
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Sommer 2017. Er hatte in Paris die Rivalen Sarraj und Haftar zu Gesprächen zusammengebracht. Macron trat als Vermittler auf, der sich für gesamt-libysche Wahlen stark machte.
Doch Macron ist kein selbstloser Politiker. Auch Paris hat über Jahre Haftar gestärkt – mit Militärberatern und der Stationierung von Spezialkräften. Was Haftar in seinem Kampf gegen islamistische Milizen eine gewisse Legitimation gab.
Mit Interessenpolitik Instabilität befördert
Im Fezzan, im Süden Libyens, hat Frankreich obendrein spezielle Interessen. Nachdem die Regierung Sarraj die Region Jahre lang vernachlässigt hatte, konnte Haftar dort Gebietsgewinne erzielen. Weil der Süden Libyens an Tschad, Niger und Mali grenzt – Länder, in denen Frankreich stark militärisch, wirtschaftlich und politisch präsent ist und keine unübersichtliche Situation an den Grenzen braucht –, zahlen sich Frankreichs Kontakte zu Haftar nun stabilisierend aus.
Damit aber ist Frankreich in Sachen Einfluss vor Ort zum großen Konkurrenten Italiens geworden; der Kolonialmacht, die einst Libyen beherrschte. Der italienische Energiegigant ENI fördert in Libyen Öl, wo es nur zu finden ist.
Mit ihrer Interessenpolitik haben die Akteure die Instabilität befördert, die Libyen seit Jahren prägt. Der UN-Gesandte Ghassan Salamé:
„Libyen ist in einem sinnlosen und zerstörerischen Teufelskreis gefangen, angetrieben von den Ambitionen Einzelner und vom gestohlenen Reichtum der Nation. Obwohl das Land gesegnet ist, wenn es um seine Menschen und die Ressourcen geht, wird es immer schneller zu einer Tragödie verpasster Chancen.“
In dieser Tragödie bleibt den Vereinten Nationen jetzt nur die undankbare Rolle, die Zivilbevölkerung vor dem Schlimmsten zu bewahren. Schon vor der aktuellen Eskalation galten Recht und Gesetz in Libyen nicht viel. Daher glaubt niemand, dass sich die Kombattanten an das humanitäre Völkerrecht halten. Ravina Shamdasani, Sprecherin der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, warnte nach der Bombardierung des Flughafens von Tripolis bereits vor möglichen Kriegsverbrechen.
Berichte von „KZ-ähnlichen“ Zuständen
„Haftars Einheiten behaupten, der Flughafen sei ein militärisches Ziel und deshalb hätten sie ihn bombardiert. Aber selbst in diesem Fall müssten sie alles tun, damit es keine zivilen Opfer gibt. Was wir hingegen hören, ist, dass die verwendeten Waffen nicht das sind, was man – naja – neue Technologie nennen kann. Und deshalb kann es sich sehr wohl um einen wahllosen Angriff handeln.“
Wahllose Angriffe sind völkerrechtswidrig. Haftar könnte im Extremfall vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden. Doch ob ihn das abschreckt? Wohl kaum. Tatsächlich hegen Menschenrechtler derzeit sehr konkrete Ängste.
„Nach allem, was wir bisher in Libyen gesehen haben, befürchten wir, dass Migranten als menschliche Schutzschilde benutzt werden – oder gezwungen werden, selbst zu kämpfen.“
Migranten gehören – neben 500.000 Kindern, die laut Unicef von den Kämpfen unmittelbar bedroht sind – zu den wohl am meisten gefährdeten Gruppen im Land. Fast 60.000 von ihnen sind offiziell registriert, dazu kommen Zehntausende, die als illegale Migranten auf dem Weg nach Europa in Libyen gestrandet sind. Sie leben unter erbärmlichsten Bedingungen.
Diplomaten, die Lager unter Kontrolle libyscher Soldaten besuchen durften, berichten von „KZ-ähnlichen“ Zuständen. Auch in diese Lager bringt die sogenannte libysche Küstenwache die Flüchtlinge zurück, die sie auf hoher See im Auftrag Italiens und der EU bei ihrer Flucht nach Norden aufhält. Das ist ein Hauptmotiv dafür, dass Italiens fremdenfeindlicher Innenminister Matteo Salvini enge Verbindungen nach Tripolis pflegt und – wie im Juli 2018 – die Aufrüstung des Verbündeten Saraj und seiner Milizen fordert.
„Wir wollen ein Ende des Waffenembargos, weil sich Schleuser und Waffenschmuggler ganz offensichtlich nicht daran halten und nach Gusto aufrüsten. Die einzigen, die das nicht dürfen, sind die legitimen, anerkannten Autoritäten.“
Brisante Waffengeschäfte
Tatsächlich werden Waffen nach Libyen geschmuggelt – und wohl nicht zu knapp. Das bestätigt nicht zuletzt ein Expertenpanel der UNO, das das 2011 verabschiedete Embargo überwachen soll. Ende März kündigte Deutschland im Sicherheitsrat an, das Komitee werde bald Details über einen Waffenschmuggler vorlegen, der von Ägypten über Tunis nach Libyen gereist sei.
Sechs Tage später wurde einer der Experten, der Deutsch-Tunesier Moncef Kartas, in Tunis verhaftet – womöglich, weil er zu viel wußte. Die UN bemühen sich derzeit, ihn freizubekommen – schließlich genießt er diplomatische Immunität. Der Fall zeigt, wie brisant die Waffengeschäfte sind – und wie vielfältig die Interessen derer, die den Krieg in Libyen anheizen.
Für die Ärmsten bleibt dagegen nur die Flucht. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hat damit begonnen, diejenigen umzusiedeln, deren Lager der Front gefährlich nahe liegen – Matthew Brook leitet die Operation vor Ort.
„Ich befinde mich im Lager von Ain Zara, wo die Flüchtlinge seit Tagen mitten in der Kampfzone ausharren. Die Menschen haben große Angst. Wir bringen sie deshalb von hier an einen sicheren Ort in Tripolis. Während ich spreche, höre ich Artilleriefeuer und Detonationen. Wir werden versuchen, so schnell wie möglich von hier wegzukommen.“
Das evakuierte Lager Ain Zara befindet sich nur zwanzig Minuten vom Zentrum der Hauptstadt Tripolis entfernt. Wie lange es hier noch sichere Orte gibt, scheint höchst ungewiss.
Meine Wertung
Der libysche Bürgerkrieg ist so schmerzhaft wie alle Konflikte im Nahen Osten – schon deswegen drängt sich eine Rückkehr an den Verhandlungstisch auf. Es ist schwer zu sagen, warum sich General Haftar zur Offensive auf Tripolis entschlossen hat. Dafür hatte es keinen Anlass gegeben.
Haftar stützt sich auf verschiedene libysche Stammesgruppen und genießt auch international gewisse Sympathien – unter anderem in Russland. Wenn man die Besonderheiten der politischen Landschaft Libyens in Betracht zieht, lässt sich die weitere Entwicklung schwer vorhersagen. Haftar jedenfalls dürfte weiterhin versuchen, die Macht an sich zu reißen – mit allen Mitteln.“
Haftar sieht sich wohl tatsächlich mit der Mission betraut, Libyen von Islamisten und Jihadisten zu säubern und wieder Ordnung herzustellen. In dieser Meinung wird Haftar von seinen arabischen Partnern bestärkt, allen voran den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten. Nicht umsonst wird er als der ‚libysche Sisi‘ paraphrasiert, nach dem ägyptischen Präsidenten und Muslimbrüderjäger Abdel Fattah Al Sisi. Dass dieser bis jetzt, also in den fünfeinhalb Jahren nach dem Sturz des Muslimbruder-Präsidenten Mohammed Mursi, den Krieg mit den Islamisten auf dem Sinai nicht beenden konnte, trübt nicht die Gewissheit seiner Anhänger, dass auch Libyen einen ‚starken Mann‘ braucht.
Für die Einwohner im Westen des nordafrikanischen Landes ist Haftar der leibhaftige Teufel, ein ‚zweiter Gaddafi‘. Doch viele in Libyen sehnen sich nach jener Zeit zurück, als sie unter der diktatorischen Regierung des exzentrischen Generals Gaddafi gut und in der Regel in Frieden lebten. Der Schlüssel für Haftars Vormarsch war der Gewinn des Wohlwollens lokaler Stämme, die der General bestach und in seine Armee eingliederte. Die von der international anerkannten Regierung vernachlässigte Bevölkerung – erschöpft durch das von Schmugglern und islamistischen Terroristen bestimmte Leben – hofft auf eine Chance der Stabilisierung.
Zur Wahrheit – und damit zur bitteren Erkenntnis – gehört auch:
Haftars Verbündeten geht es vor allem darum, alle Parteien des Landes politisch in die Bedeutungslosigkeit zu drängen. Sie wollen, dass Libyen ein Land wie Ägypten unter Präsident Al-Sisi wird. Ein Land, in dem von der Revolution nur noch die Erinnerung übrigbleibt.
Haftar glaubt, dass er sich mit Moskau und Washington einigen kann, hat er doch über 20 Jahre in den USA gelebt und dort die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten. Außerdem hat er in den 1960er-Jahren in Russland studiert. All diese Jahre hat Haftar von einer Regierungsübernahme in Tripolis geträumt. Er schmiedete lange Zeit Rachepläne gegen den ehemaligen Revolutionsführer Gaddafi. Auch US-Präsident Ronald Reagan, der Gaddafi einen tollwütigen Hund des Nahen Ostens nannte, hatte Haftar bei seinen Staatsstreichversuchen unterstützt. Möglicherweise hat der General mit dem US-Spionagedienst zusammengearbeitet, hat aber auch exzellente Beziehungen zu Russland: Er unterhält nicht nur gute Beziehungen zu Russland, er wird offenbar auch von russischen Soldaten unterstützt.
Seit Jahren schon unterhält das russische Militär regelmäßigen Kontakt zu Chalifa Haftar, der in Libyen zur Offensive auf Tripolis ansetzt: Vor mehr als zwei Jahren bekam er einen Empfang auf dem Flugzeugträger „Admiral Kusnezow“, einschließlich eines Gesprächs per Videoschalte mit Sergei Schoigu, dem russischen Verteidigungsminister. Haftar war in den vergangenen Jahren außerdem mehrfach zu Besuch in Moskau.
Russland will Einfluss auf die Zukunft des ölreichen Staates nehmen
Das russische Militär scheint gerne den Eindruck zu erwecken, Haftars Vormarsch sei legitim. Besonderer Wert wird auf den Hinweis gelegt, dass er russisch spreche: „Chalifa Haftar wurde in der Sowjetunion ausgebildet: 1978 absolvierte er Offizierskurse. 1983 hörte er Vorlesungen an der Frunse-Militärakademie“, einer Hochschule der Sowjetischen Armee.
Russland setzt in Libyen aber wohl nicht nur auf freundliche Worte. Wer die Meldungen der vergangenen Monate zueinander fügt, für den zeichnen sich Umrisse militärischen Engagements in dem nordafrikanischen Staat ab: Die Zeitung RBK schrieb im Oktober des vergangenen Jahres unter Verweis auf eine ungenannte Quelle, über Monate seien russische Soldaten nach Libyen verlegt worden, um die von Haftar befehligten Truppen zu unterstützen. Die Soldaten sollen aus Einheiten der Luftlandetruppen stammen.
Moskau behält auch weitere Optionen
Moskau hält sich trotz der deutlichen Zuneigung zu Haftar auch andere Optionen offen. Es hat im UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo für Libyen mitgetragen und die Einheitsregierung anerkannt. Deren Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch war auch zu Gesprächen in Moskau. In diesen Tagen ermahnte die Moskauer Diplomatie beide Konfliktparteien: „Wir alle müssen die Libyer dazu aufrufen, ihre Angriffe und militärischen Operationen zu beenden und sich an den Verhandlungstisch zu setzen“, forderte Außenminister Sergej Lawrow. Damit wurde auch klar, dass Russland die Offensive Haftars nicht einseitig verurteilen will.
Die meisten unabhängigen Experten in Moskau erkennen noch keine klare Strategie der russischen Führung in Libyen
Wahrscheinlich ist zurzeit dies: Es geht dem Kreml darum, präsent zu sein und Einfluss auf die Zukunft des ölreichen Staates zu nehmen. Dies kann sich nützlich erweisen, um künftig Geschäfte zu machen. Die Rede ist vom Bau von Eisenbahnlinien, vom Einstieg ins Geschäft mit Erdöl. Und dass Flüchtlingsrouten nach Europa durch Libyen führen, muss für Moskau kein Nachteil sein.
Wirtschaftliche Interessen leiten auch andere
Wohl aus vorrangig wirtschaftlichen Gründen unterstützten – zumindest für eine gewisse Zeit – die Vereinigten Arabischen Emirate jede UN-Resolution zu Libyen. Unter dem Tisch haben die Emirate parallel Haftar gestärkt. Sie wollten Verkäufe von Rohöl aus Ost-Libyen erleichtern; Verkäufe, die Haftar und ihnen zu Gute gekommen wären. Immerhin: Aufgrund internationalen Drucks soll das Unterfangen gestoppt worden sein.
Vor allem wirtschaftliche Interessen hat auch Italien, dessen Kolonie Libyen einst war. Der italienische Energiegigant ENI fördert in Libyen Öl, wo es nur zu finden ist.
Paris hat Haftar lange gestärkt
Als Konkurrent zu Italien tut sich mittlerweile UN-Sicherheitsratsmitglied Frankreich hervor. Paris hat über drei Jahre Haftar gestärkt: Mit Militärberatern und der Stationierung von Spezialkräften. Was Haftar eine gewisse Legitimierung gab – in seinem Kampf gegen islamistische Milizen. Im Süden Libyens, in dem Haftar jüngst Bodengewinne erzielte, hat Frankreich obendrein Interessen: Die Region grenzt an Tschad, Niger und Mali – Länder, in denen Frankreich stark präsent ist: militärisch, wirtschaftlich und politisch.
Nationale Interessen leiten die Politik der einzelnen Akteure; oft eint sie nur das blaue Banner der UN. Mit ihrer Interessenspolitik haben sie die Instabilität untermauert, die Libyen seit Jahren zu einem Failed-State macht. So wurde das Land ohne Gesetz und Ordnung immer mehr zu einem Etappenziel für Hunderttausende Migranten aus Sub-Sahara-Afrika, deren Flucht übers Mittelmeer Italien und Frankreich angeblich ja ach so gerne eindämmen wollen. Wen wundert‘s, dass das nur bedingt klappt.
Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben nur ein Ziel vor Augen: nämlich die Bevölkerung von ganz Libyen niederzuringen, und dazu möglichst auch noch die politischen Reform-Bewegungen in Algerien und Sudan. Die Hoffnung auf Demokratie wollen sie nicht wieder aufkommen lassen.
Die internationale Gemeinschaft ist faktisch in der libyschen Frage gespalten:
Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate hatten Luftangriffe gegen die Gegner von General Haftar ausgeführt. Beide Länder werden auch beschuldigt, trotz UNO-Embargo Waffen geliefert zu haben. Und Frankreich hat Sondereinheiten zur Unterstützung nach Bengasi entsandt. Doch Haftar ist keine Marionette. Er nutzt die bereitgestellten Ressourcen nach eigenem Ermessen.
Und so dreht sich das Rad, und jeder der handelnden Akteure dreht sich auch um sich selbst. Von der geplagten Bevölkerung spricht niemand.
(verwendete Quellen: eigene Recherchen P.H., Dlf)
Dieser lesenswerte Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Peter Helmes – www.conservo.wordpress.com