Der NSU-Prozess hat viele Fragen nicht klären können. Die Untersuchungsausschüsse auch nicht. Alle diese Fragen betreffen „Behördenversagen“, vor allem beim Verfassungsschutz. Aber bei all dem „Behördenversagen“ wurde anschließend massiv vertuscht und vieles einfach als „geheim“ eingestuft und den Ermittlern nicht zur Verfügung gestellt.
Im Ergebnis sind Menschen gestorben, aber die Schuldigen beim Verfassungsschutz wurden weder ermittelt oder bestraft. Und auch Lübcke könnte wohl noch leben, sein Mörder geriet damals im Zuge des NSU-Skandals ins Visier des hessischen Untersuchungsausschusses, aber der Verfassungsschutz stellte sich schützend vor ihn.
All das wollen wir hier mal ein wenig näher betrachten.
Die wichtigsten ungeklärten Fragen im NSU-Skandal hat der Stern nach dem Prozess aufgelistet. Wir wollen einige einmal näher anschauen.
„Finanzierte der Verfassungsschutz die Neonazi-Szene, die die Terroristen hervorbrachte?“ Die offiziell benannten NSU-Terroristen kamen aus einer Szene, in der 1/3 der Mitglieder V‑Leute waren und Geld von Verfassungsschutz bekamen.
„Vereitelte der Brandenburger Verfassungsschutz die Festnahme des Trios?“ Der Brandenburger Verfassungsschutz hat die Kripo bei der Arbeit behindert, weil ihm Quellenschutz wichtiger war, war als polizeiliche Ermittlungen. Im Ergebnis blieb das NSU-Trio in Freiheit, dabei hätte es schon 1998 wegen illegalem Waffenbesitz verhaftet werden können. Stattdessen kam es zu der Mordserie. Der Stern schrieb in dem Artikel dazu:
„Ein Untersuchungsausschuss im Brandenburger Landtag versucht gerade zu klären, ob das stimmt. Doch in den Akten fehlen über 100 Kurznachrichten, die Szcepanski 1998 auf seinem Handy empfangen hat.“
„Wie groß war der NSU wirklich?“ Der Stern beschreibt ausführlich, wie die NSU gemäß der offiziellen Version in kurzer Zeit mehrere Morde in ganz Deutschland ausführte und fragt:
„Waren die Terroristen wirklich nur zu Dritt? Sie mussten von Sachsen quer durch Deutschland fahren, Tatorte aussuchen, Opfer ausspionieren. Und das alles ohne fremde Hilfe? Während die Bundesanwaltschaft davon ausgeht, dass der NSU eine isolierte Terrorzelle aus drei Leuten war, haben die Untersuchungsausschüsse im Bundestag und in den Bundesländern die Drei-Täter-Theorie immer wieder bezweifelt.“
„Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz?“ Diese Frage hat nach dem Mord an Lübcke besondere Brisanz bekommen. Der Stern schrieb über Ungereimtheiten im Fall des NSU-Mordes in einem Internetcafé in Kassel. Bei dem Mord war Andreas Temme in dem Internetcafé, aber er will von dem Mord nichts mitbekommen und den Schuss nicht gehört haben. Brisant: Temme war zu dem Zeitpunkt beim Verfassungsschutz und hat V‑Leute geführt.
Temme wurde später offiziell aus dem Verfassungsschutz in eine andere Behörde versetzt. Und zwar ausgerechnet in das Regierungspräsidium Kassel, welches Walter Lübcke geleitet hat. Dort arbeitet Temme immer noch. Bis heute ist nicht geklärt, welche V‑Leute Temme geführt hat und ob möglicherweise Lübckes Mörder Stephan E. dazu gehört hat. Als der hessische Untersuchungsausschuss seinerzeit dem Verfassungsschutz dazu Fragen übermittelt hat, blieben diese unbeantwortet.
Über den Mörder Stephan E. haben sich ehemalige Mitglieder des hessischen Untersuchungsausschusses nach dem Mord an Lübcke geäußert. Die an dem Untersuchungsausschuss beteiligte Politikerin Janine Wissler sagte im ZDF:
„Ich finde man muss insbesondere die Frage stellen: Ist das wirklich ein Einzeltäter, weil wir ja schon wissen, dass wir sehr vernetzte Neonazi-Strukturen auch haben. Gerade in Nordhessen, das war ein wichtiges Thema in diesem Untersuchungsausschuss. Na ja, und uns war eben besagter Stephan E. aufgefallen. Wir hatten 2015 explizit nach ihm gefragt. Wir haben das Landesamt für Verfassungsschutz nach ihm gefragt. Und die Behörden gefragt, was sie über diesen Mann wissen. Und da haben wir leider keine Antwort bekommen.“
Ich habe hier nur einen kleinen Ausschnitt der offenen Fragen aufgelistet, die der Stern gestellt hat und auch dessen Liste ist bei weitem nicht vollständig. Aber man sieht schon, dass die Rolle des Verfassungsschutzes mehr als fragwürdig ist. Eine Frage des Stern ist daher auch noch interessant:
„Warum schredderte Lothar Lingen Akten?“ Der Stern schreibt dazu:
„Ein paar Tage, nachdem sich der NSU am 4. November 2011 selbst enttarnt hatte, ließ „Lothar Lingen“, langjähriger Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, Akten von V‑Leuten, die für den Thüringer Verfassungsschutz spitzelten, schreddern. Lothar Lingen, der nicht wirklich so heißt, sondern als Verfassungsschützer einen Tarnnamen trägt, wurde vom Bundeskriminalamt und dem Oberstaatsanwalt beim BGH vernommen. „Vernichtete Akten können nicht mehr geprüft werden“, gab er freimütig zu Protokoll. Das Strafverfahren gegen Lothar Lingen wegen der Vernichtung der Akten wurde eingestellt. „Wir konnten nicht feststellen, dass ein Vorsatz vorlag“, sagte der ermittelnde Staatsanwalt. Warum Lothar Lingen die Akten vernichtet hat, bleibt sein Geheimnis.“
Aber das ist noch nicht alles. In Hessen wurden Akten zu dem Fall nicht geschreddert, sondern für volle 120 Jahre unter Verschluss gestellt. Auch die Ermittler und die Untersuchungsausschüsse, die angeblich die Geheimdienste kontrollieren, haben keinen Zugang zu den Akten erhalten. Auf t‑online konnte man über diese Akten vor einem knappen Jahr lesen:
„Es geht um streng geheime Unterlagen darüber, was der ihm Jahre lange unterstellte Verfassungsschutz zur extremen rechten Szene zusammengetragen – und dabei ignoriert oder nicht ernst genommen hat.“
Am Mittwoch meldete der Focus, dass Politiker nun erneut die Freigabe dieser Akten fordern:
„Ich verstehe nicht, warum das Land die Akten in Hessen für 120 Jahre als Verschlusssache eingestuft hat“, kritisierte der frühere CSU-Obmann im NSU-Untersuchungssauschuss die Geheimhaltung rund um das mysteriöse Verhalten eines hessischen Verfassungsschützers.“
Da der CSU-Politiker dabei auf den Mord im Internetcafe anspielt, kann er mit dem „hessischen Verfassungsschützer“ nur Temme meinen. Aber der Focus geht darauf nicht wirklich näher ein. Im Focus wird auf Verbindungen von Stephan E. zu rechtsradikalen Organisationen hingewiesen, dass aber der fragliche „hessische Verfassungsschützer“ Temme heute im Regierungspräsidium des ermordeten Lübcke arbeitet, verschweigt der Focus.
Überhaupt: Die deutsche Presse ist erstaunlich handzahm im Fall der NSU und auch jetzt bei Lübcke. Die Sache stinkt ganz objektiv zu Himmel, aber nirgendwo findet man die Zusammenhänge, die ich hier aufgezeigt habe. Stattdessen wird sogar davon abgelenkt, indem nun die AfD mit Dreck beworfen wird. Es mag ja sogar sein, dass Äußerungen einiger AfD-Politiker ein aggressiveres Klima geschaffen haben. Aber es waren nicht die AfD-Politiker, die Akten zurückhalten, Akten geschreddert haben oder gar den Mörder Stephan E. vor den NSU-Untersuchungsausschüssen geschützt haben. Das waren die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und die Politiker der etablierten Parteien, die das haben durchgehen lassen.
Diese Ablenkungsmanöver der deutschen Presse sieht man besonders anschaulich im Spiegel. Dort gab es heute einen Artikel mit der Überschrift „Mordfall Lübcke – Steinmeier sieht Demokratie in Gefahr”. Und da habe ich schon gedacht, jetzt wird der Spiegel seinem früheren Ruf als „Nachrichtenmagazin“ gerecht und erinnert an all die Unstimmigkeiten und offenen Vertuschungen der NSU-Affäre und stellt den Zusammenhang zwischen Temme und Stephan E. her, den es ja aller Wahrscheinlichkeit nach zu geben scheint. Zumindest wäre es die Aufgabe der Presse, danach zu fragen und wenn es keinen Zusammenhang gibt, dann könnte man das ja in den für 120 Jahre weggeschlossenen Akten sehen und widerlegen.
Aber der Spiegel erwähnt all das mit keinem Wort. Stattdessen wird Steinmeier zitiert:
„Angesichts der Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kassel zur Unterstützung von Politikern und anderen Repräsentanten der deutschen Demokratie aufgerufen. ‘Es muss uns beschämen und darf uns auch nicht ruhen lassen, dass wir Walter Lübcke nicht schützen konnten’, sagte er.“
Da hat er Recht, nur hat er mit keinem Wort etwas dazu gesagt, wie einfach man Lübcke wahrscheinlich hätte schützen können, indem man einfach den NSU-Skandal ohne Wenn und Aber aufgeklärt hätte.
Weiter zitiert der Spiegel:
“‘Die umfassende Aufklärung des Verbrechens hat nun oberste Priorität’“, sagte Steinmeier laut offiziellem Redentext.“
Wenn der Fall genauso „umfassend“ aufgeklärt wird, wie der NSU-Skandal, dann kann man sich teure Untersuchungsausschüsse sparen. Solange die Geheimdienste die Unterlagen zurückhalten dürfen, wird es keine Aufklärung geben. Aber hat eine Zeitung nachdrücklich und dauerhaft Aufklärung gefordert, hat das ein Politiker ernsthaft? Nein, es gab hier und da mal Äußerungen und Meldungen, aber das Thema wurde schnell wieder fallen gelassen.
Außerdem ist bekannt geworden, dass Lübcke auf einer Todesliste des NSU stand. Und wenn wir uns an die Frage des Stern erinnern, ob die drei NSU-Terroristen wirklich allein gehandelt haben, dann bekommt diese Tatsache eine besondere Brisanz. Und ausgerechnet ein Mann, der schon beim NSU-Skandal in das Blickfeld der Ermittler geraten ist, aber vom Verfassungsschutz gedeckt wurde, ist heute der Mörder von Lübcke.
Aber darüber schreibt der Spiegel kein Wort.
Wie aber soll die Politik die Geheimdienste überwachen, wenn diese selbst entscheiden können, welche Informationen sie an die Politik weitergeben und welche Akten sie den Untersuchungsausschüssen verweigern? All das tun sie völlig ungestraft. Man fragt sich, wer wen in Deutschland kontrolliert, die Politik die Geheimdienste oder umgekehrt?
Und es kommt ein sehr fades Déjà-vu hoch, wenn man an den Breitscheidplatz und Anis Amri denkt. Auch dort hat der Verfassungsschutz Informationen zurückgehalten und die Regierung hat das Parlament zu V‑Leuten in Amris Umfeld belogen.
Was geht da vor in Deutschland?
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“