Ali Ghandour, Islamwissenschaftler und gern gesehener Gastautor unter anderem bei der Zeit, ist das, was man etwas despektierlich „One Trick Pony“ nennen könnte. Damit meine ich nicht das übliche und gesunde Maß an Vernarrtheit in den selbstgewählten Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung, sondern seine eigenartige, immer wiederkehrende Schlussfolgerung aus der Beschäftigung mit diesem Gegenstand, die das „One Trick Pony“ fast exklusiv zu haben scheint. Egal, von welcher Seite sich Ghandour dem Gegenstand Islam und seiner aktuellen Befindlichkeit nähert, immer wieder versteigt er sich in dieselben eigenartigen Erklärungen der Probleme. Doch der Reihe nach.
(Von Roger Letsch)
Für Spiegel-Online führte Nadire Biskin, (Gast)Autorin und muslimische Lehrerin aus Berlin, ein Interview mit Ali Ghandour. Thema: Islam und Sexualität und Ghandours neues Buch zu diesem Feld. Brav spielt Biskin ihre Rolle in dem, was im amerikanischen Journalismus treffend als „Softball“ bezeichnet wird. Bloß keine kontroversen Fragen stellen, sondern artig Stichworte anreichen – ein Schelm, der da Gefälligkeitsjournalismus wittert. Aber geschenkt, denn wie bei jeder sich bietenden Gelegenheit liefert Ghandour auch hier seinen „Trick“ ab, seine Immerda-Erklärung für strukturelle Probleme in der islamischen Welt. Diesmal für die rückständige islamische Vorstellung von Sexualität.
Der Kolonialismus ist Schuld!
Ghandour: „Ein Faktor ist der Imperialismus, der die viktorianischen Vorstellungen in die muslimisch geprägten Länder eingeführt hat. Es wurden bewusst und unbewusst europäische Normen des 19. Jahrhunderts übernommen – zum Beispiel die moralische Idee, dass Geschlechtsverkehr nur der Fortpflanzung und dem Wohl der Nation dienen soll. In Ländern wie Indien oder Algerien zwangen die europäischen Kolonialherren solche Normen auch mit Gewalt auf.“
Na da haben wir es doch! Die Kolonialzeit ist schuld! Ihre Prüdizität Königin Victoria trieb den Muslimen weltweit ihre entspannte, gleichberechtigte homosexualitätaffine Moral aus und ersetzte sie offenbar durch patriarchale Ehrbegriffe, den Hang zur Polygamie, Zwangsehen sowie ähnliche Einrichtungen und Traditionen, die dem Islam bis dahin gänzlich fremd gewesen waren. Oder eben auch nicht!
Lieber Herr Ghandour, wen wollen sie hier eigentlich verschaukeln – ihre Leser oder sich selbst? Ist es nicht vielmehr so, dass der Islam selbst als Basis für die Errichtung mehrerer Kolonialreiche der Extraklasse diente und bereits der Religionsstifter Mohammed mit der Kolonialisierung begonnen hatte? Was anderes als koloniale Eroberungszüge waren die expansiven Kriege Mohammeds auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert, was anderes die expansive Ausbreitung der Dynastien der Umayyaden, Ayyubiden, Abbasiden oder Osmanen?
Sicher, es ist mühsam, Geschichte und Unrecht gegeneinander aufzurechnen und es führt zu nichts. Was Ghandour jedoch versucht, ist historisches Whitewashing und nur knapp einen Federstrich von Geschichtsklitterei entfernt. Im 19. Jahrhundert trafen das britische Weltreich und das der indischen Moguln bzw. das Osmanische Weltreich aufeinander. Im Gegensatz zu den historischen Siegen früherer Tage gegen Byzantinisches Reich, Perser und europäische Kreuzfahrerstaaten und den mühsam errungenen Patts (zweimal standen die Osmanen vor Wien, der Hauptstadt des Reichs der Habsburger) verlor der Islam im 19. Jahrhundert immer mehr an Boden. Nicht der Kontakt mit den „Kolonialmächten“ war hierfür die Ursache, sondern selbstverschuldete Rückständigkeit durch Abschottung, koloniale Überdehnung, religiöser Überlegenheitsdünkel, eine völlig entkoppelte autoritäre Herrscher-Elite und im Fall des osmanischen Reiches die Kombination aus weltlichem (Sultanat) und religiösem (Kalifat) Herrschaftsanspruch.
Soviel zum Mythos kolonialer Traumatisierung. Solche Unterstellungen führten schon bei der Betrachtung der Probleme Afrikas stets dazu, dass sich Politiker und Eliten der betroffenen Länder ihre eigenen Versäumnisse, Bürgerkriege und Korruptionsgewohnheiten trefflich selbst exkulpieren konnten und dabei auf die Hilfe europäischer Meaculpisten mit ihren „Wir-sind-schuld-am-Elend-der-Welt-Chorälen“ bauen können.
Oder, um es mit den Worten von Michael Klonovsky zu sagen: „Wenn man sämtliche Schöpfungen des weißen Mannes von diesem Planeten entfernte, besäßen seine Ankläger weder Zeit noch Mittel, ja nicht einmal Begriffe, um ihn mit Vorwürfen zu überhäufen.“
Oder in diesem Fall die Schöpfungen der weißen Frau Queen Viktoria. Schuld sind immer die Europäer, die Kolonialmächte, der Rassismus, der Kapitalismus, die Ausbeutung – in nach Bedarf und Stimmungslage wechselnder Dosierung und Zusammensetzung.
Diese Argumentationskette bricht in sich zusammen, wenn man fragt, ob die betroffenen unterdrückten Länder den Wunsch verspüren, ins vermeintlich präkoloniale Paradies zurückzukehren, die Städte aufzugeben, die Krankenhäuser, die Schulen und die Banken zu schließen, die Straßen abzubrechen und die Gewehre wegzuwerfen, um wieder so zu leben, wie die Vorfahren: In Stammesverbänden, in permanenten Gebietskonflikten, deren Scharmützel regelmäßig in der Versklavung der Gegner endete. Gut, der IS hat es versucht, war aber nicht konsequent. Mit den Waffen der Amerikaner, den Autos der Japaner, einer Wetter-App auf dem Smartphone und einem YouTube-Kanal lässt sich kein vermeintliches Wüstenparadies aus dem 7. Jahrhundert basteln.
Ich spitze hier etwas zu, aber weniger, als es vielleicht scheinen mag. Im Afrika von sagen wir 1250, also weit vor allem, was wir als „Kolonialzeit” rubrizieren, würden sie sicher nirgends einen erholsamen Urlaub verbringen und später auch noch davon berichten können. Doch hören wir weiter dem interviewten Ali Ghandour zu.
„Aber Sex war um das Jahr 1000 beispielsweise bei den Abbasiden oder später im Osmanischen Reich – also in der heutigen Türkei, in Ägypten und im Irak – positiv konnotiert. Er war weder schmutzig noch unheilig.“
Für jede Art Konnotation war im Jahr 1000 eine kleine Herrscherkaste von Männern zuständig, die mit Sicherheit ihren Spaß hatten und nur deren Aussagen sind auf die Nachwelt gekommen. Auch die scheinbare Harmonie der islamischen Welt vor dem Kontakt mit dem bösen Westen ist also ein Mythos, der einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Sklaven führen in der Regel kein Tagebuch und der zwangsverheirateten 20. Frau des Sultans, deren Familie sich vielleicht das Wohlwollen des Herrschers bei eigenen territorialen Ambitionen versprach, fehlten einfach die Begriffe, um ihre Lage als vergleichsweise rechtlos und entwürdigend zu begreifen. Ja, selbst die Begriffe für Unrecht, Gleichberechtigung oder Selbstbestimmung mussten erst mühsam (und hier in der Tat besonders mit britischer oder französischer Hilfe) in die islamische Welt importiert werden.
Gegen die Druckerpresse konnte man sich noch eine Zeitlang per Verbot wehren, gegen die Ideen der Aufklärung, welche die Bücher enthielten, war dies bedeutend schwieriger. Die Abwesenheit von Rebellion und Dissens in der islamischen Welt vor dem Kontakt mit dem Westen bedeutet nicht die Abwesenheit von Konfliktpotenzial, sondern einen Mangel an Information. Zur Verdeutlichung des Problems erinnere man sich an das Höhlengleichnis des Sokrates. So war es meiner Meinung nach im osmanischen und dem indischen Mogulreich, bevor beide ihrem Untergang entgegen gingen.
Steile Thesen von Geschlechtsteilen und Perlen
Gerade wenn es in den Suren des Koran um Frauen, deren Rechte und Stellung geht, greifen islamische Theologen und deren Sekundanten gern auf einen Trick zurück, den sie sich nur dann erlauben, wenn gegenüber Nichtmuslimen die unheimlichen oder unangenehmen Absolutsetzungen des Koran abgeschwächt werden sollen. Sicher, so heißt es dann, der Koran sei das unmittelbare und unabänderliche buchstäblich wörtlich zu nehmende Wort Allahs, aber hier und dort und da spreche er in Allegorien, das sei dann nicht wörtlich zu nehmen. Doch was im universitären Wortgeplänkel eine Allegorie ist, kann in der nächsten Freitagspredigt schon zu einem handfesten Versprechen mit Plastikschlüssel zum Paradies werden. Es steht ja wortwörtlich da und wenn Allah nicht gewollt hätte, dass Imam X oder Ayatollah Y die Textstelle so und so auslegt, dann hätte er sich doch sicher anders ausgedrückt, oder? Allegorien zünden keine Bomben, sondern Menschen und die müssen ihre sehr konkrete Vorstellungen vom Paradies ja irgendwo her haben.
Geradezu rührend komisch wirken diese Erklärungsversuche, wenn man sie nebeneinander stellt. Da versucht nun also Islamexperte Ghandour die ehemals geradezu romantische und offene Einstellung zur Sexualität im Islam zu belegen, indem er die zahlreichen blumigen Wortschöpfungen erwähnt, die in der arabischen Tradition für menschliche Geschlechtsteile Verwendung fanden, während Caner Taslaman auf „alrahman“ mit grammatikalischen Kniffen zu erklären versucht, warum aus der Beschreibung der verheißenen Huri im Koran (Sure 56, 23. Vers) als „Perlen“ gerade keine sexuelle Bedeutung herzuleiten sei. Ja was denn nun? Ganz einfach, es ist für jeden etwas dabei, es kommt auf den Zweck an, zu dem die Botschaft interpretiert wird. Genau so, wie Hamad Abdel Samad es in seinem Buch „Der Koran – Botschaft der Liebe, Botschaft des Hasses“ beschreibt.
Deshalb ist am Ende auch nicht wichtig, ob Königin Viktoria den Muslimen den Sex verleidet hat oder nicht. Viktoria starb 1901. Nach Viktoria und dem zurückweichenden Kolonialismus kamen die Suffragetten, die Anfang des 20. Jahrhunderts in England und den Vereinigten Staaten für das Frauenwahlrecht auf die Straße gingen oder die Frauenrechtsbewegungen der 60er und 70er Jahre. Ganz zu schweigen von Sigmund Freud, Alice Schwarzer, Oswalt Kolle oder „Dr. Sommer“. Institutionalisierte Diskriminierung von Frauen oder Homosexuellen durch Gesetze und staatliche Gewalt muss man heute etwa in Deutschland wirklich mit der Lupe suchen, wer etwas findet, sage mir bitte Bescheid.
Für die Diskriminierung mancher Frauen in der Praxis, weil deren Rechte durch eine ganz bestimmte religiöse Brille betrachtet werden und der Staat lieber wegsieht, braucht man hingegen keine Lupe. Ein offenes Auge genügt.
Sexualmoral im Islam – der Kategoriefehler
War es also nicht viel mehr die Entwicklung des Westens hin zur Gleichberechtigung, welche die Abschottung der islamischen Welt und eine bildlich gesprochen „viktorianische Prüderie“ begünstigte? Ghandour tut so, als hielte der Westen und insbesondere der Kolonialismus Muslime immer noch im 19. Jahrhundert gefangen, dabei herrschen in der arabischen Welt Muslime über Muslime, nicht die Königin von Großbritannien.
Vergessen wir kurz das alberne Interview und betrachten das Buch Ghandours, dessen historische Korrektheit ich hier gar nicht anzweifeln möchte. Hier hat es sicher seine Stärken. Die Frage ist, ob sich aus dem „unterdrückten erotischen Erbe der Muslime“ irgend etwas ableiten lässt, was die Muslime hierzulande besonders oder partikular sein lässt. Die Antwort ist: Nein. Ebenso wenig wie ein Hindu hierzulande die Witwenverbrennung einfordern kann, weil er dies als eine „unterdrückte Tradition” ansieht, darf eine historisch herbeigeschriebene, empfundene oder tatsächliche „Unterdrückung“ zur Ausprägung von anderen partikularen Bräuchen und Regeln führen, die nicht konform mit unseren Gesetzen sind. Dafür spielt es keine Rolle, ob sich Grundgesetz und Scharia nicht widersprechen (wie Ghandour an anderer Stelle behauptete), weil die Scharia in Deutschland eben nicht Quelle der Rechtsfindung ist. Punkt.
Deshalb ist es meiner Meinung nach auch völlig irrelevant, ob sich der Islam in irgendeiner Weise europäisiert oder reformiert. Die Wirksamkeit seiner Dogmen muss an der rechtlichen Basis des Individuums und damit des Staates enden, der die Rechte jedes seiner Bürger garantiert. Jedes religiöse Dogma und die Reichweite jeder religiösen Pflicht muss hier enden.
Unsere bürgerlichen Regeln verbieten die Polygamie, der Koran tut dies nicht. Diese Regeln stellen Frauen und Männer in allen Belangen rechtlich gleich, der Koran tut dies nicht. Sex vor der Ehe ist in Deutschland nicht strafbar, Frauen ist der Besuch einer Disco ebenso gestattet wie Männern, das Kopftuch ist ein Kleidungsstück, dass man nicht nur an- sondern auch ablegen kann und in bestimmten Situationen sogar muss, Religionen kann man wechseln und auch straflos ganz darauf verzichten, Homosexualität ist keine Sünde, schon weil dieser Begriff aus unserer Rechtsprechung seit langer Zeit verschwunden ist …die Liste ist schier endlos und es hat auch im Westen sehr viel Zeit und Blut gekostet, sie auf das anwachsen zu lassen, was wir gern „allgemeine Menschenrechte“ oder auf den Staat bezogen „Bürgerrechte“ nennen.
Das alles und noch viel mehr muss der Islam hier akzeptieren, wie es auch die christlichen Kirchen und andere Religionsgemeinschaften zu akzeptieren haben. Ob er dies zähneknirschend tut oder durch Reformen begleitet, die seinen Anhängern das Leben erleichtern, ist zweitrangig.
Queen Viktoria ist nicht Schuld an der Verklemmtheit des heutigen Islam
Insofern bekommt Ghandour am Ende des Interviews fast noch die Kurve, wenn er resümiert: „Mehr sexuelle Freiheiten zulassen. Die gemeinschaftliche Kontrolle und die Einschränkung der Sexualität der Menschen durch Normen, die aus völlig anderen Zeiten stammen, sind heute teilweise kontraproduktiv.“
Ich sage „fast“, denn sein Ausflug unter das straffe Mieder der viktorianischen Zeit war peinlich, überflüssig und verlogen. Denn diese Zeit hinter sich zu lassen und auch den Kolonialismus zu überwinden, hat den Westen viel Kraft gekostet. Warum nur ist die islamische Welt diesen Weg nicht mitgegangen, oder hat den Weg wie die jüngst die Türkei wieder verlassen? Antworten Sie doch bitte mal auf diese Frage, Herr Ghandour. Bis dahin gilt: Nicht was der Koran zur Sexualität sagt oder verschweigt ist für Bürger dieses Landes bindend, sondern das, was die Gesetze unseres Landes dazu sagen. Das gilt auch für Muslime, die in erster Linie Bürger dieses Landes sind und erst nachrangig alles andere.
(Von Roger Letsch)
Für Spiegel-Online führte Nadire Biskin, (Gast)Autorin und muslimische Lehrerin aus Berlin, ein Interview mit Ali Ghandour. Thema: Islam und Sexualität und Ghandours neues Buch zu diesem Feld. Brav spielt Biskin ihre Rolle in dem, was im amerikanischen Journalismus treffend als „Softball“ bezeichnet wird. Bloß keine kontroversen Fragen stellen, sondern artig Stichworte anreichen – ein Schelm, der da Gefälligkeitsjournalismus wittert. Aber geschenkt, denn wie bei jeder sich bietenden Gelegenheit liefert Ghandour auch hier seinen „Trick“ ab, seine Immerda-Erklärung für strukturelle Probleme in der islamischen Welt. Diesmal für die rückständige islamische Vorstellung von Sexualität.
Der Kolonialismus ist Schuld!
Ghandour: „Ein Faktor ist der Imperialismus, der die viktorianischen Vorstellungen in die muslimisch geprägten Länder eingeführt hat. Es wurden bewusst und unbewusst europäische Normen des 19. Jahrhunderts übernommen – zum Beispiel die moralische Idee, dass Geschlechtsverkehr nur der Fortpflanzung und dem Wohl der Nation dienen soll. In Ländern wie Indien oder Algerien zwangen die europäischen Kolonialherren solche Normen auch mit Gewalt auf.“
Na da haben wir es doch! Die Kolonialzeit ist schuld! Ihre Prüdizität Königin Victoria trieb den Muslimen weltweit ihre entspannte, gleichberechtigte homosexualitätaffine Moral aus und ersetzte sie offenbar durch patriarchale Ehrbegriffe, den Hang zur Polygamie, Zwangsehen sowie ähnliche Einrichtungen und Traditionen, die dem Islam bis dahin gänzlich fremd gewesen waren. Oder eben auch nicht!
Lieber Herr Ghandour, wen wollen sie hier eigentlich verschaukeln – ihre Leser oder sich selbst? Ist es nicht vielmehr so, dass der Islam selbst als Basis für die Errichtung mehrerer Kolonialreiche der Extraklasse diente und bereits der Religionsstifter Mohammed mit der Kolonialisierung begonnen hatte? Was anderes als koloniale Eroberungszüge waren die expansiven Kriege Mohammeds auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert, was anderes die expansive Ausbreitung der Dynastien der Umayyaden, Ayyubiden, Abbasiden oder Osmanen?
Sicher, es ist mühsam, Geschichte und Unrecht gegeneinander aufzurechnen und es führt zu nichts. Was Ghandour jedoch versucht, ist historisches Whitewashing und nur knapp einen Federstrich von Geschichtsklitterei entfernt. Im 19. Jahrhundert trafen das britische Weltreich und das der indischen Moguln bzw. das Osmanische Weltreich aufeinander. Im Gegensatz zu den historischen Siegen früherer Tage gegen Byzantinisches Reich, Perser und europäische Kreuzfahrerstaaten und den mühsam errungenen Patts (zweimal standen die Osmanen vor Wien, der Hauptstadt des Reichs der Habsburger) verlor der Islam im 19. Jahrhundert immer mehr an Boden. Nicht der Kontakt mit den „Kolonialmächten“ war hierfür die Ursache, sondern selbstverschuldete Rückständigkeit durch Abschottung, koloniale Überdehnung, religiöser Überlegenheitsdünkel, eine völlig entkoppelte autoritäre Herrscher-Elite und im Fall des osmanischen Reiches die Kombination aus weltlichem (Sultanat) und religiösem (Kalifat) Herrschaftsanspruch.
Soviel zum Mythos kolonialer Traumatisierung. Solche Unterstellungen führten schon bei der Betrachtung der Probleme Afrikas stets dazu, dass sich Politiker und Eliten der betroffenen Länder ihre eigenen Versäumnisse, Bürgerkriege und Korruptionsgewohnheiten trefflich selbst exkulpieren konnten und dabei auf die Hilfe europäischer Meaculpisten mit ihren „Wir-sind-schuld-am-Elend-der-Welt-Chorälen“ bauen können.
Oder, um es mit den Worten von Michael Klonovsky zu sagen: „Wenn man sämtliche Schöpfungen des weißen Mannes von diesem Planeten entfernte, besäßen seine Ankläger weder Zeit noch Mittel, ja nicht einmal Begriffe, um ihn mit Vorwürfen zu überhäufen.“
Oder in diesem Fall die Schöpfungen der weißen Frau Queen Viktoria. Schuld sind immer die Europäer, die Kolonialmächte, der Rassismus, der Kapitalismus, die Ausbeutung – in nach Bedarf und Stimmungslage wechselnder Dosierung und Zusammensetzung.
Diese Argumentationskette bricht in sich zusammen, wenn man fragt, ob die betroffenen unterdrückten Länder den Wunsch verspüren, ins vermeintlich präkoloniale Paradies zurückzukehren, die Städte aufzugeben, die Krankenhäuser, die Schulen und die Banken zu schließen, die Straßen abzubrechen und die Gewehre wegzuwerfen, um wieder so zu leben, wie die Vorfahren: In Stammesverbänden, in permanenten Gebietskonflikten, deren Scharmützel regelmäßig in der Versklavung der Gegner endete. Gut, der IS hat es versucht, war aber nicht konsequent. Mit den Waffen der Amerikaner, den Autos der Japaner, einer Wetter-App auf dem Smartphone und einem YouTube-Kanal lässt sich kein vermeintliches Wüstenparadies aus dem 7. Jahrhundert basteln.
Ich spitze hier etwas zu, aber weniger, als es vielleicht scheinen mag. Im Afrika von sagen wir 1250, also weit vor allem, was wir als „Kolonialzeit” rubrizieren, würden sie sicher nirgends einen erholsamen Urlaub verbringen und später auch noch davon berichten können. Doch hören wir weiter dem interviewten Ali Ghandour zu.
„Aber Sex war um das Jahr 1000 beispielsweise bei den Abbasiden oder später im Osmanischen Reich – also in der heutigen Türkei, in Ägypten und im Irak – positiv konnotiert. Er war weder schmutzig noch unheilig.“
Für jede Art Konnotation war im Jahr 1000 eine kleine Herrscherkaste von Männern zuständig, die mit Sicherheit ihren Spaß hatten und nur deren Aussagen sind auf die Nachwelt gekommen. Auch die scheinbare Harmonie der islamischen Welt vor dem Kontakt mit dem bösen Westen ist also ein Mythos, der einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Sklaven führen in der Regel kein Tagebuch und der zwangsverheirateten 20. Frau des Sultans, deren Familie sich vielleicht das Wohlwollen des Herrschers bei eigenen territorialen Ambitionen versprach, fehlten einfach die Begriffe, um ihre Lage als vergleichsweise rechtlos und entwürdigend zu begreifen. Ja, selbst die Begriffe für Unrecht, Gleichberechtigung oder Selbstbestimmung mussten erst mühsam (und hier in der Tat besonders mit britischer oder französischer Hilfe) in die islamische Welt importiert werden.
Gegen die Druckerpresse konnte man sich noch eine Zeitlang per Verbot wehren, gegen die Ideen der Aufklärung, welche die Bücher enthielten, war dies bedeutend schwieriger. Die Abwesenheit von Rebellion und Dissens in der islamischen Welt vor dem Kontakt mit dem Westen bedeutet nicht die Abwesenheit von Konfliktpotenzial, sondern einen Mangel an Information. Zur Verdeutlichung des Problems erinnere man sich an das Höhlengleichnis des Sokrates. So war es meiner Meinung nach im osmanischen und dem indischen Mogulreich, bevor beide ihrem Untergang entgegen gingen.
Steile Thesen von Geschlechtsteilen und Perlen
Gerade wenn es in den Suren des Koran um Frauen, deren Rechte und Stellung geht, greifen islamische Theologen und deren Sekundanten gern auf einen Trick zurück, den sie sich nur dann erlauben, wenn gegenüber Nichtmuslimen die unheimlichen oder unangenehmen Absolutsetzungen des Koran abgeschwächt werden sollen. Sicher, so heißt es dann, der Koran sei das unmittelbare und unabänderliche buchstäblich wörtlich zu nehmende Wort Allahs, aber hier und dort und da spreche er in Allegorien, das sei dann nicht wörtlich zu nehmen. Doch was im universitären Wortgeplänkel eine Allegorie ist, kann in der nächsten Freitagspredigt schon zu einem handfesten Versprechen mit Plastikschlüssel zum Paradies werden. Es steht ja wortwörtlich da und wenn Allah nicht gewollt hätte, dass Imam X oder Ayatollah Y die Textstelle so und so auslegt, dann hätte er sich doch sicher anders ausgedrückt, oder? Allegorien zünden keine Bomben, sondern Menschen und die müssen ihre sehr konkrete Vorstellungen vom Paradies ja irgendwo her haben.
Geradezu rührend komisch wirken diese Erklärungsversuche, wenn man sie nebeneinander stellt. Da versucht nun also Islamexperte Ghandour die ehemals geradezu romantische und offene Einstellung zur Sexualität im Islam zu belegen, indem er die zahlreichen blumigen Wortschöpfungen erwähnt, die in der arabischen Tradition für menschliche Geschlechtsteile Verwendung fanden, während Caner Taslaman auf „alrahman“ mit grammatikalischen Kniffen zu erklären versucht, warum aus der Beschreibung der verheißenen Huri im Koran (Sure 56, 23. Vers) als „Perlen“ gerade keine sexuelle Bedeutung herzuleiten sei. Ja was denn nun? Ganz einfach, es ist für jeden etwas dabei, es kommt auf den Zweck an, zu dem die Botschaft interpretiert wird. Genau so, wie Hamad Abdel Samad es in seinem Buch „Der Koran – Botschaft der Liebe, Botschaft des Hasses“ beschreibt.
Deshalb ist am Ende auch nicht wichtig, ob Königin Viktoria den Muslimen den Sex verleidet hat oder nicht. Viktoria starb 1901. Nach Viktoria und dem zurückweichenden Kolonialismus kamen die Suffragetten, die Anfang des 20. Jahrhunderts in England und den Vereinigten Staaten für das Frauenwahlrecht auf die Straße gingen oder die Frauenrechtsbewegungen der 60er und 70er Jahre. Ganz zu schweigen von Sigmund Freud, Alice Schwarzer, Oswalt Kolle oder „Dr. Sommer“. Institutionalisierte Diskriminierung von Frauen oder Homosexuellen durch Gesetze und staatliche Gewalt muss man heute etwa in Deutschland wirklich mit der Lupe suchen, wer etwas findet, sage mir bitte Bescheid.
Für die Diskriminierung mancher Frauen in der Praxis, weil deren Rechte durch eine ganz bestimmte religiöse Brille betrachtet werden und der Staat lieber wegsieht, braucht man hingegen keine Lupe. Ein offenes Auge genügt.
Sexualmoral im Islam – der Kategoriefehler
War es also nicht viel mehr die Entwicklung des Westens hin zur Gleichberechtigung, welche die Abschottung der islamischen Welt und eine bildlich gesprochen „viktorianische Prüderie“ begünstigte? Ghandour tut so, als hielte der Westen und insbesondere der Kolonialismus Muslime immer noch im 19. Jahrhundert gefangen, dabei herrschen in der arabischen Welt Muslime über Muslime, nicht die Königin von Großbritannien.
Vergessen wir kurz das alberne Interview und betrachten das Buch Ghandours, dessen historische Korrektheit ich hier gar nicht anzweifeln möchte. Hier hat es sicher seine Stärken. Die Frage ist, ob sich aus dem „unterdrückten erotischen Erbe der Muslime“ irgend etwas ableiten lässt, was die Muslime hierzulande besonders oder partikular sein lässt. Die Antwort ist: Nein. Ebenso wenig wie ein Hindu hierzulande die Witwenverbrennung einfordern kann, weil er dies als eine „unterdrückte Tradition” ansieht, darf eine historisch herbeigeschriebene, empfundene oder tatsächliche „Unterdrückung“ zur Ausprägung von anderen partikularen Bräuchen und Regeln führen, die nicht konform mit unseren Gesetzen sind. Dafür spielt es keine Rolle, ob sich Grundgesetz und Scharia nicht widersprechen (wie Ghandour an anderer Stelle behauptete), weil die Scharia in Deutschland eben nicht Quelle der Rechtsfindung ist. Punkt.
Deshalb ist es meiner Meinung nach auch völlig irrelevant, ob sich der Islam in irgendeiner Weise europäisiert oder reformiert. Die Wirksamkeit seiner Dogmen muss an der rechtlichen Basis des Individuums und damit des Staates enden, der die Rechte jedes seiner Bürger garantiert. Jedes religiöse Dogma und die Reichweite jeder religiösen Pflicht muss hier enden.
Unsere bürgerlichen Regeln verbieten die Polygamie, der Koran tut dies nicht. Diese Regeln stellen Frauen und Männer in allen Belangen rechtlich gleich, der Koran tut dies nicht. Sex vor der Ehe ist in Deutschland nicht strafbar, Frauen ist der Besuch einer Disco ebenso gestattet wie Männern, das Kopftuch ist ein Kleidungsstück, dass man nicht nur an- sondern auch ablegen kann und in bestimmten Situationen sogar muss, Religionen kann man wechseln und auch straflos ganz darauf verzichten, Homosexualität ist keine Sünde, schon weil dieser Begriff aus unserer Rechtsprechung seit langer Zeit verschwunden ist …die Liste ist schier endlos und es hat auch im Westen sehr viel Zeit und Blut gekostet, sie auf das anwachsen zu lassen, was wir gern „allgemeine Menschenrechte“ oder auf den Staat bezogen „Bürgerrechte“ nennen.
Das alles und noch viel mehr muss der Islam hier akzeptieren, wie es auch die christlichen Kirchen und andere Religionsgemeinschaften zu akzeptieren haben. Ob er dies zähneknirschend tut oder durch Reformen begleitet, die seinen Anhängern das Leben erleichtern, ist zweitrangig.
Queen Viktoria ist nicht Schuld an der Verklemmtheit des heutigen Islam
Insofern bekommt Ghandour am Ende des Interviews fast noch die Kurve, wenn er resümiert: „Mehr sexuelle Freiheiten zulassen. Die gemeinschaftliche Kontrolle und die Einschränkung der Sexualität der Menschen durch Normen, die aus völlig anderen Zeiten stammen, sind heute teilweise kontraproduktiv.“
Ich sage „fast“, denn sein Ausflug unter das straffe Mieder der viktorianischen Zeit war peinlich, überflüssig und verlogen. Denn diese Zeit hinter sich zu lassen und auch den Kolonialismus zu überwinden, hat den Westen viel Kraft gekostet. Warum nur ist die islamische Welt diesen Weg nicht mitgegangen, oder hat den Weg wie die jüngst die Türkei wieder verlassen? Antworten Sie doch bitte mal auf diese Frage, Herr Ghandour. Bis dahin gilt: Nicht was der Koran zur Sexualität sagt oder verschweigt ist für Bürger dieses Landes bindend, sondern das, was die Gesetze unseres Landes dazu sagen. Das gilt auch für Muslime, die in erster Linie Bürger dieses Landes sind und erst nachrangig alles andere.
Quelle: unbesorgt.de
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