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Das „unter­drückte kul­tu­relle Erbe“ des Islam

Ali Ghandour, Islam­wis­sen­schaftler und gern gese­hener Gast­autor unter anderem bei der Zeit, ist das, was man etwas despek­tierlich „One Trick Pony“ nennen könnte. Damit meine ich nicht das übliche und gesunde Maß an Ver­narrtheit in den selbst­ge­wählten Gegen­stand der wis­sen­schaft­lichen Betrachtung, sondern seine eigen­artige, immer wie­der­keh­rende Schluss­fol­gerung aus der Beschäf­tigung mit diesem Gegen­stand, die das „One Trick Pony“ fast exklusiv zu haben scheint. Egal, von welcher Seite sich Ghandour dem Gegen­stand Islam und seiner aktu­ellen Befind­lichkeit nähert, immer wieder ver­steigt er sich in die­selben eigen­ar­tigen Erklä­rungen der Pro­bleme. Doch der Reihe nach.
(Von Roger Letsch)
Für Spiegel-Online führte Nadire Biskin, (Gast)Autorin und mus­li­mische Leh­rerin aus Berlin, ein Interview mit Ali Ghandour. Thema: Islam und Sexua­lität und Ghan­dours neues Buch zu diesem Feld. Brav spielt Biskin ihre Rolle in dem, was im ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­lismus treffend als „Softball“ bezeichnet wird. Bloß keine kon­tro­versen Fragen stellen, sondern artig Stich­worte anreichen – ein Schelm, der da Gefäl­lig­keits­jour­na­lismus wittert. Aber geschenkt, denn wie bei jeder sich bie­tenden Gele­genheit liefert Ghandour auch hier seinen „Trick“ ab, seine Immerda-Erklärung für struk­tu­relle Pro­bleme in der isla­mi­schen Welt. Diesmal für die rück­ständige isla­mische Vor­stellung von Sexualität.
Der Kolo­nia­lismus ist Schuld!
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Ghandour: Ein Faktor ist der Impe­ria­lismus, der die vik­to­ria­ni­schen Vor­stel­lungen in die mus­li­misch geprägten Länder ein­ge­führt hat. Es wurden bewusst und unbe­wusst euro­päische Normen des 19. Jahr­hun­derts über­nommen – zum Bei­spiel die mora­lische Idee, dass Geschlechts­verkehr nur der Fort­pflanzung und dem Wohl der Nation dienen soll. In Ländern wie Indien oder Algerien zwangen die euro­päi­schen Kolo­ni­al­herren solche Normen auch mit Gewalt auf.“
Na da haben wir es doch! Die Kolo­ni­alzeit ist schuld! Ihre Prü­di­zität Königin Vic­toria trieb den Mus­limen weltweit ihre ent­spannte, gleich­be­rech­tigte homo­se­xua­li­tät­affine Moral aus und ersetzte sie offenbar durch patri­ar­chale Ehr­be­griffe, den Hang zur Poly­gamie, Zwangsehen sowie ähn­liche Ein­rich­tungen und Tra­di­tionen, die dem Islam bis dahin gänzlich fremd gewesen waren. Oder eben auch nicht!
Lieber Herr Ghandour, wen wollen sie hier eigentlich ver­schaukeln – ihre Leser oder sich selbst? Ist es nicht vielmehr so, dass der Islam selbst als Basis für die Errichtung meh­rerer Kolo­ni­al­reiche der Extra­klasse diente und bereits der Reli­gi­ons­stifter Mohammed mit der Kolo­nia­li­sierung begonnen hatte? Was anderes als kolo­niale Erobe­rungszüge waren die expan­siven Kriege Mohammeds auf der ara­bi­schen Halb­insel im 7. Jahr­hundert, was anderes die expansive Aus­breitung der Dynastien der Umay­yaden, Ayyu­biden, Abba­siden oder Osmanen?
Sicher, es ist mühsam, Geschichte und Unrecht gegen­ein­ander auf­zu­rechnen und es führt zu nichts. Was Ghandour jedoch ver­sucht, ist his­to­ri­sches White­washing und nur knapp einen Feder­strich von Geschichts­klit­terei ent­fernt. Im 19. Jahr­hundert trafen das bri­tische Welt­reich und das der indi­schen Moguln bzw. das Osma­nische Welt­reich auf­ein­ander. Im Gegensatz zu den his­to­ri­schen Siegen frü­herer Tage gegen Byzan­ti­ni­sches Reich, Perser und euro­päische Kreuz­fah­rer­staaten und den mühsam errun­genen Patts (zweimal standen die Osmanen vor Wien, der Haupt­stadt des Reichs der Habs­burger) verlor der Islam im 19. Jahr­hundert immer mehr an Boden. Nicht der Kontakt mit den „Kolo­ni­al­mächten“ war hierfür die Ursache, sondern selbst­ver­schuldete Rück­stän­digkeit durch Abschottung, kolo­niale Über­dehnung, reli­giöser Über­le­gen­heits­dünkel, eine völlig ent­kop­pelte auto­ritäre Herr­scher-Elite und im Fall des osma­ni­schen Reiches die Kom­bi­nation aus welt­lichem (Sul­tanat) und reli­giösem (Kalifat) Herrschaftsanspruch.
Soviel zum Mythos kolo­nialer Trau­ma­ti­sierung. Solche Unter­stel­lungen führten schon bei der Betrachtung der Pro­bleme Afrikas stets dazu, dass sich Poli­tiker und Eliten der betrof­fenen Länder ihre eigenen Ver­säum­nisse, Bür­ger­kriege und Kor­rup­ti­ons­ge­wohn­heiten trefflich selbst exkul­pieren konnten und dabei auf die Hilfe euro­päi­scher Meacul­pisten mit ihren „Wir-sind-schuld-am-Elend-der-Welt-Cho­rälen“ bauen können.
Oder, um es mit den Worten von Michael Klo­novsky zu sagen: Wenn man sämt­liche Schöp­fungen des weißen Mannes von diesem Pla­neten ent­fernte, besäßen seine Ankläger weder Zeit noch Mittel, ja nicht einmal Begriffe, um ihn mit Vor­würfen zu überhäufen.“
Oder in diesem Fall die Schöp­fungen der weißen Frau Queen Vik­toria. Schuld sind immer die Europäer, die Kolo­ni­al­mächte, der Ras­sismus, der Kapi­ta­lismus, die Aus­beutung – in nach Bedarf und Stim­mungslage wech­selnder Dosierung und Zusammensetzung.
Diese Argu­men­ta­ti­ons­kette bricht in sich zusammen, wenn man fragt, ob die betrof­fenen unter­drückten Länder den Wunsch ver­spüren, ins ver­meintlich prä­ko­lo­niale Paradies zurück­zu­kehren, die Städte auf­zu­geben, die Kran­ken­häuser, die Schulen und die Banken zu schließen, die Straßen abzu­brechen und die Gewehre weg­zu­werfen, um wieder so zu leben, wie die Vor­fahren: In Stam­mes­ver­bänden, in per­ma­nenten Gebiets­kon­flikten, deren Schar­mützel regel­mäßig in der Ver­sklavung der Gegner endete. Gut, der IS hat es ver­sucht, war aber nicht kon­se­quent. Mit den Waffen der Ame­ri­kaner, den Autos der Japaner, einer Wetter-App auf dem Smart­phone und einem YouTube-Kanal lässt sich kein ver­meint­liches Wüs­ten­pa­radies aus dem 7. Jahr­hundert basteln.
Ich spitze hier etwas zu, aber weniger, als es viel­leicht scheinen mag. Im Afrika von sagen wir 1250, also weit vor allem, was wir als „Kolo­ni­alzeit” rubri­zieren, würden sie sicher nir­gends einen erhol­samen Urlaub ver­bringen und später auch noch davon berichten können. Doch hören wir weiter dem inter­viewten Ali Ghandour zu.
Aber Sex war um das Jahr 1000 bei­spiels­weise bei den Abba­siden oder später im Osma­ni­schen Reich – also in der heu­tigen Türkei, in Ägypten und im Irak – positiv kon­no­tiert. Er war weder schmutzig noch unheilig.“
Für jede Art Kon­no­tation war im Jahr 1000 eine kleine Herr­scher­kaste von Männern zuständig, die mit Sicherheit ihren Spaß hatten und nur deren Aus­sagen sind auf die Nachwelt gekommen. Auch die scheinbare Har­monie der isla­mi­schen Welt vor dem Kontakt mit dem bösen Westen ist also ein Mythos, der einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Sklaven führen in der Regel kein Tagebuch und der zwangs­ver­hei­ra­teten 20. Frau des Sultans, deren Familie sich viel­leicht das Wohl­wollen des Herr­schers bei eigenen ter­ri­to­rialen Ambi­tionen ver­sprach, fehlten einfach die Begriffe, um ihre Lage als ver­gleichs­weise rechtlos und ent­wür­digend zu begreifen. Ja, selbst die Begriffe für Unrecht, Gleich­be­rech­tigung oder Selbst­be­stimmung mussten erst mühsam (und hier in der Tat besonders mit bri­ti­scher oder fran­zö­si­scher Hilfe) in die isla­mische Welt impor­tiert werden.
Gegen die Dru­cker­presse konnte man sich noch eine Zeitlang per Verbot wehren, gegen die Ideen der Auf­klärung, welche die Bücher ent­hielten, war dies bedeutend schwie­riger. Die Abwe­senheit von Rebellion und Dissens in der isla­mi­schen Welt vor dem Kontakt mit dem Westen bedeutet nicht die Abwe­senheit von Kon­flikt­po­tenzial, sondern einen Mangel an Infor­mation. Zur Ver­deut­li­chung des Pro­blems erinnere man sich an das Höh­len­gleichnis des Sokrates. So war es meiner Meinung nach im osma­ni­schen und dem indi­schen Mogul­reich, bevor beide ihrem Untergang ent­gegen gingen.
Steile Thesen von Geschlechts­teilen und Perlen
Gerade wenn es in den Suren des Koran um Frauen, deren Rechte und Stellung geht, greifen isla­mische Theo­logen und deren Sekun­danten gern auf einen Trick zurück, den sie sich nur dann erlauben, wenn gegenüber Nicht­mus­limen die unheim­lichen oder unan­ge­nehmen Abso­lut­set­zungen des Koran abge­schwächt werden sollen. Sicher, so heißt es dann, der Koran sei das unmit­telbare und unab­än­der­liche buch­stäblich wörtlich zu neh­mende Wort Allahs, aber hier und dort und da spreche er in Alle­gorien, das sei dann nicht wörtlich zu nehmen. Doch was im uni­ver­si­tären Wort­ge­plänkel eine Alle­gorie ist, kann in der nächsten Frei­tags­predigt schon zu einem hand­festen Ver­sprechen mit Plas­tik­schlüssel zum Paradies werden. Es steht ja wort­wörtlich da und wenn Allah nicht gewollt hätte, dass Imam X oder Aya­tollah Y die Text­stelle so und so auslegt, dann hätte er sich doch sicher anders aus­ge­drückt, oder? Alle­gorien zünden keine Bomben, sondern Men­schen und die müssen ihre sehr kon­krete Vor­stel­lungen vom Paradies ja irgendwo her haben.
Geradezu rührend komisch wirken diese Erklä­rungs­ver­suche, wenn man sie neben­ein­ander stellt. Da ver­sucht nun also Islam­ex­perte Ghandour die ehemals geradezu roman­tische und offene Ein­stellung zur Sexua­lität im Islam zu belegen, indem er die zahl­reichen blu­migen Wort­schöp­fungen erwähnt, die in der ara­bi­schen Tra­dition für mensch­liche Geschlechts­teile Ver­wendung fanden, während Caner Tas­laman auf „alrahman“ mit gram­ma­ti­ka­li­schen Kniffen zu erklären ver­sucht, warum aus der Beschreibung der ver­hei­ßenen Huri im Koran (Sure 56, 23. Vers) als „Perlen“ gerade keine sexuelle Bedeutung her­zu­leiten sei. Ja was denn nun? Ganz einfach, es ist für jeden etwas dabei, es kommt auf den Zweck an, zu dem die Bot­schaft inter­pre­tiert wird. Genau so, wie Hamad Abdel Samad es in seinem Buch „Der Koran – Bot­schaft der Liebe, Bot­schaft des Hasses“ beschreibt.
Deshalb ist am Ende auch nicht wichtig, ob Königin Vik­toria den Mus­limen den Sex ver­leidet hat oder nicht. Vik­toria starb 1901. Nach Vik­toria und dem zurück­wei­chenden Kolo­nia­lismus kamen die Suf­fra­getten, die Anfang des 20. Jahr­hun­derts in England und den Ver­ei­nigten Staaten für das Frau­en­wahl­recht auf die Straße gingen oder die Frau­en­rechts­be­we­gungen der 60er und 70er Jahre. Ganz zu schweigen von Sigmund Freud, Alice Schwarzer, Oswalt Kolle oder „Dr. Sommer“. Insti­tu­tio­na­li­sierte Dis­kri­mi­nierung von Frauen oder Homo­se­xu­ellen durch Gesetze und staat­liche Gewalt muss man heute etwa in Deutschland wirklich mit der Lupe suchen, wer etwas findet, sage mir bitte Bescheid.
Für die Dis­kri­mi­nierung mancher Frauen in der Praxis, weil deren Rechte durch eine ganz bestimmte reli­giöse Brille betrachtet werden und der Staat lieber weg­sieht, braucht man hin­gegen keine Lupe. Ein offenes Auge genügt.
Sexu­al­moral im Islam – der Kategoriefehler
War es also nicht viel mehr die Ent­wicklung des Westens hin zur Gleich­be­rech­tigung, welche die Abschottung der isla­mi­schen Welt und eine bildlich gesprochen „vik­to­ria­nische Prü­derie“ begüns­tigte? Ghandour tut so, als hielte der Westen und ins­be­sondere der Kolo­nia­lismus Muslime immer noch im 19. Jahr­hundert gefangen, dabei herr­schen in der ara­bi­schen Welt Muslime über Muslime, nicht die Königin von Großbritannien.
Ver­gessen wir kurz das alberne Interview und betrachten das Buch Ghan­dours, dessen his­to­rische Kor­rektheit ich hier gar nicht anzweifeln möchte. Hier hat es sicher seine Stärken. Die Frage ist, ob sich aus dem „unter­drückten ero­ti­schen Erbe der Muslime“ irgend etwas ableiten lässt, was die Muslime hier­zu­lande besonders oder par­ti­kular sein lässt. Die Antwort ist: Nein. Ebenso wenig wie ein Hindu hier­zu­lande die Wit­wen­ver­brennung ein­fordern kann, weil er dies als eine „unter­drückte Tra­dition” ansieht, darf eine his­to­risch her­bei­ge­schriebene, emp­fundene oder tat­säch­liche „Unter­drü­ckung“ zur Aus­prägung von anderen par­ti­ku­laren Bräuchen und Regeln führen, die nicht konform mit unseren Gesetzen sind. Dafür spielt es keine Rolle, ob sich Grund­gesetz und Scharia nicht wider­sprechen (wie Ghandour an anderer Stelle behauptete), weil die Scharia in Deutschland eben nicht Quelle der Rechts­findung ist. Punkt.
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Deshalb ist es meiner Meinung nach auch völlig irrelevant, ob sich der Islam in irgend­einer Weise euro­päi­siert oder refor­miert. Die Wirk­samkeit seiner Dogmen muss an der recht­lichen Basis des Indi­vi­duums und damit des Staates enden, der die Rechte jedes seiner Bürger garan­tiert. Jedes reli­giöse Dogma und die Reich­weite jeder reli­giösen Pflicht muss hier enden.
Unsere bür­ger­lichen Regeln ver­bieten die Poly­gamie, der Koran tut dies nicht. Diese Regeln stellen Frauen und Männer in allen Belangen rechtlich gleich, der Koran tut dies nicht. Sex vor der Ehe ist in Deutschland nicht strafbar, Frauen ist der Besuch einer Disco ebenso gestattet wie Männern, das Kopftuch ist ein Klei­dungs­stück, dass man nicht nur an- sondern auch ablegen kann und in bestimmten Situa­tionen sogar muss, Reli­gionen kann man wechseln und auch straflos ganz darauf ver­zichten, Homo­se­xua­lität ist keine Sünde, schon weil dieser Begriff aus unserer Recht­spre­chung seit langer Zeit ver­schwunden ist …die Liste ist schier endlos und es hat auch im Westen sehr viel Zeit und Blut gekostet, sie auf das anwachsen zu lassen, was wir gern „all­ge­meine Men­schen­rechte“ oder auf den Staat bezogen „Bür­ger­rechte“ nennen.
Das alles und noch viel mehr muss der Islam hier akzep­tieren, wie es auch die christ­lichen Kirchen und andere Reli­gi­ons­ge­mein­schaften zu akzep­tieren haben. Ob er dies zäh­ne­knir­schend tut oder durch Reformen begleitet, die seinen Anhängern das Leben erleichtern, ist zweitrangig.
Queen Vik­toria ist nicht Schuld an der Ver­klemmtheit des heu­tigen Islam
Insofern bekommt Ghandour am Ende des Inter­views fast noch die Kurve, wenn er resü­miert: „Mehr sexuelle Frei­heiten zulassen. Die gemein­schaft­liche Kon­trolle und die Ein­schränkung der Sexua­lität der Men­schen durch Normen, die aus völlig anderen Zeiten stammen, sind heute teil­weise kontraproduktiv.“
Ich sage „fast“, denn sein Ausflug unter das straffe Mieder der vik­to­ria­ni­schen Zeit war peinlich, über­flüssig und ver­logen. Denn diese Zeit hinter sich zu lassen und auch den Kolo­nia­lismus zu über­winden, hat den Westen viel Kraft gekostet. Warum nur ist die isla­mische Welt diesen Weg nicht mit­ge­gangen, oder hat den Weg wie die jüngst die Türkei wieder ver­lassen? Ant­worten Sie doch bitte mal auf diese Frage, Herr Ghandour. Bis dahin gilt: Nicht was der Koran zur Sexua­lität sagt oder ver­schweigt ist für Bürger dieses Landes bindend, sondern das, was die Gesetze unseres Landes dazu sagen. Das gilt auch für Muslime, die in erster Linie Bürger dieses Landes sind und erst nach­rangig alles andere.
 

Quelle: unbesorgt.de