Vera Lengsfeld: Gegen die Geschichtsvergessenheit!

Den Deut­schen wird heute von ihren „Eliten“ ein­ge­redet, dass sie zugunsten des vom Poli­tik­wis­sen­schaftler Yasha Mounk so bezeich­neten Expe­ri­ments, eine homogene in eine mul­ti­kul­tu­relle Gesell­schaft umzu­wandeln, ihre Kultur, ihre Geschichte und ihre nationale Zuge­hö­rigkeit tun­lichst ver­gessen sollen. Bei den jün­geren Deut­schen scheint die Anleitung zur Geschichts­ver­ges­senheit auf frucht­baren Boden zu fallen. Schon klagen lokale Geschichts­vereine über Mit­glie­der­schwund, auch die Orts­chro­nisten haben erheb­liche Nach­wuchs­sorgen. Da ist es gut, sich immer wieder daran zu erinnern, welch reiches kul­tu­relles Erbe uns ver­loren zu gehen droht.
Zum Glück gibt es Autoren wie den Wormser Jörg Koch, die sich dem Zeit­geist nicht beugen und durch akri­bische his­to­rische For­schungen gegen das große Geschichts­ver­gessen wirken.
Koch hat sich bereits Ver­dienste erworben, indem er eine Auf­stellung der Bis­marck­denk­mäler am Ober­rhein und ein Buch über 100 Dinge, die man von Worms wissen sollte, vor­gelegt hat. Nun hat er ein Kom­pendium der staat­lichen Gedenk-und Fei­ertage in Deutschland von 1871 bis heute publiziert.

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Was lang­weilig klingt, ent­puppt sich als span­nende Lektüre.
Vor­läufer der heu­tigen Fest­kultur ist das Ham­bacher Fest von 1832, die „erste poli­tische Volks­ver­sammlung der neueren deut­schen Geschichte“, wie es von Theodor Heuss genannt wurde. Zu den Haupt­for­de­rungen dieses demo­kra­ti­schen Oppo­si­ti­ons­festes, an dem 30.000 Men­schen teil­nahmen, gehören die libe­ralen Frei­heits­rechte und die Errichtung eines deut­schen Nationalstaates.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts ent­wi­ckelte sich eine Fest­kultur, getragen haupt­sächlich von Par­teien und Ver­einen. Die Arbei­ter­be­wegung spielte in diesem Prozess eine her­aus­ra­gende Rolle.
Mit der Gründung des deut­schen Kai­ser­reiches begann sich diese Fest­kultur grund­legend zu wandeln. Es wurden statt­liche Festtage ein­ge­führt zur Ehrung der kai­ser­lichen Macht und der mili­tä­ri­schen Stärke Deutsch­lands. Als arbeits­freie Natio­nal­fei­ertage galten z.B. der „Reichs­grün­dungstag“ am 18. Januar und die Geburtstage der Kaiser.
Neben den staat­lichen Fei­er­tagen gab es Volks­feste, deren Merkmale Öffent­lichkeit und Gemein­geist waren und die der Freiheit huldigten.
Die Wei­marer Republik tat sich schwer mit Natio­nal­fei­er­tagen. Die Kon­ser­va­tiven hielten am 18. Januar fest, die Linken bevor­zugten den 9. November, den Tag der Aus­rufung der Republik und des Endes des Kai­ser­reiches. Schon von Anfang an war der 9. November, inzwi­schen als Schick­salstag der Deut­schen betrachtet, pro­blem­ge­laden. Während Philipp Schei­demann an einem Fenster des Reichs­tages die Republik ausrief, ver­kündete Karl Lieb­knecht vom Balkon des Schlosses die „sozia­lis­tische Republik“. Immerhin ver­dankt das Eosander-Portal diesem Akt sein Über­leben. Bevor das Ber­liner Stadt­schloss auf Befehl der SED gesprengt wurde, ist das Eosander-Portal aus­gebaut worden. Heute hat man auf der Ber­liner Schloss­brücke zwei Eosander-Portale im Blick: Am neu erstan­denen Schloss­kubus die Replik, das Ori­ginal östlich davon, wo es das in den 60er-Jahren errichtete Staats­rats­ge­bäude ziert. Ein Symbol für die Zer­ris­senheit unseres Landes.
Der Natio­nal­so­zia­lismus schuf eine ganz neue Form von Mas­sen­ver­an­stal­tungen, die mit dem dama­ligen höchsten Stand der Technik (Volks­radio) ver­breitet wurden.
Es gab im Jahr 12 Gedenktage, die mit pseu­do­re­li­giöser Hingabe zele­briert wurden. Vom Tag der Macht­er­greifung im Januar, über den 1. Mai, der bei den Nazis erstmals arbeits­freier Fei­ertag wurde, bis zur Win­ter­son­nen­wende dauerte das Fei­erjahr, das auch die Funktion hatte, die „Volks­ge­mein­schaft“ zu schmieden. Vor allem die Reichs­par­teitage in Nürnberg dienten der Zemen­tierung der „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“-Ideologie.
Nach dem Ende der Nazi­dik­tatur war erst einmal nie­mandem zum Feiern zumute. Die junge Bun­des­re­publik tat sich ent­spre­chend schwer mit einem kon­sens­fä­higen Natio­nal­fei­ertag. Erst der Arbei­ter­auf­stand am 17. Juni 1953 in der DDR löste die Dis­kussion um einen arbeits­freien Fei­ertag aus. Bis zur Ver­ei­nigung wurde dieser Tag der Deut­schen Einheit begangen, dann zugunsten des 3. Oktober abgeschafft.
Die DDR hielt am 1. Mai als Kampf-und Fei­ertag der Werk­tä­tigen fest, trotz der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Tra­dition. Außerdem waren der 8. Mai, der „Tag der Befreiung“ und der 7. Oktober, der „Tag der Republik“arbeitsfrei. Daneben gab es jede Menge Fei­ertage, an denen gear­beitet werden musste.
Nach der Ver­ei­nigung wurde leider nicht der geschichts­trächtige 9. November Natio­nal­fei­ertag, obwohl er wie kein anderes Datum für den tiefsten Fall und die größte Freude des deut­schen Volkes steht, sondern der in einer Nacht zwi­schen den Frak­tionen der Noch-Volks­kammer und der Bun­des­re­gierung aus­ge­han­delte 3. Oktober als Tag der Deut­schen Einheit. Statt dass die Deut­schen am 9. November in freier Selbst­be­stimmung über eine gemeinsame Ver­fassung ange­stimmt hätten, blieb das Grund­gesetz in Kraft und die Büro­kratie in der Oberhand. An den Folgen der nie wirklich von unten voll­zo­genen Einheit labo­rieren wir bis heute.
Immerhin bekamen die ver­einten Deut­schen 2017 über­ra­schend einen neuen Fei­ertag geschenkt: Anläßlich des 500. Jah­res­tages der Wie­derkehr des The­sen­an­schlags Martin Luthers beschlossen alle Bun­des­länder, den 31. Oktober, den Refor­ma­ti­onstag, zum gesetz­lichen Fei­ertag zu erheben.
Ein merk­wür­diger Akt in einem Land, das rapide ent­christ­licht wird. Aber für Merk­wür­dig­keiten waren die Deut­schen schon immer gut.

Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de