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„all-seeing police force“: Vor­stände, die das „Gemeinwohl“ nicht beachten, vor Gericht!

Das Eigentum wird in den letzten Jahren immer stärker aus­ge­höhlt und in Frage gestellt – die aktuelle Debatte um den „Mie­ten­deckel“ und Ent­eig­nungen in Berlin sind nur eines von vielen Bei­spielen. Aber auch im intel­lek­tu­ellen und wis­sen­schaft­lichen Bereich finden sich immer mehr Theo­re­tiker, die das Eigentum in Frage stellen. Manche machen das ganz offen, andere wie­derum geben vor, sich für die „soziale Markt­wirt­schaft“ oder für einen „sozialen Kapi­ta­lismus“ einzusetzen.
(von Rainer Zitelmann)

Das jüngst erschienene Buch des bri­ti­schen Öko­nomen Paul Collier „Sozialer Kapi­ta­lismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesell­schaft“ (eng­lisch: „The Future of Capi­talism“) zeigt exem­pla­risch, wie Ideen zur „Ver­bes­serung“ des Kapi­ta­lismus in Wahrheit zu einem anderen System führen, das mit Markt­wirt­schaft nicht mehr viel zu tun hat.
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Auf jede positive For­mu­lierung, in der er sich zum Kapi­ta­lismus bekennt, folgt sofort ein „aber“: „Kapi­ta­lismus hat viel erreicht, und Wohl­stand kann es ohne ihn nicht geben, aber…“ (S.38) “Der moderne Kapi­ta­lismus hat das Potenzial, uns allen bei­spiel­losen Wohl­stand zu bringen, aber…” (S.45).
Das Argu­men­ta­ti­ons­muster ist bei Collier ähnlich wie bei vielen anderen Poli­tikern und Intel­lek­tu­ellen: Es gab eine “gute Zeit” des Kapi­ta­lismus (bei Collier währte diese von 1945 bis 1970), aber der heutige Kapi­ta­lismus funk­tio­niert angeblich nicht mehr richtig und muss deshalb dringend refor­miert werden. Und dann folgt bei Poli­tikern und Intel­lek­tu­ellen stets eine große Anzahl von Ideen, wie sie den Kapi­ta­lismus „ver­bessern“ wollen. Bei­spiels­weise schlägt Collier ein neues Steu­er­system vor, in dem große Unter­nehmen höher besteuert würden als kleinere Unter­nehmen. Damit würden jedoch erfolg­reiche Unter­nehmen für ihren Erfolg bestraft. Solche Steuern würden wie eine Wachs­tums­bremse wirken.
Vor­stände, die das „Gemeinwohl“ nicht beachten, vor Gericht!
Noch radi­kaler ist fol­gende Idee von Collier: “Die beste Methode, um diese Unzu­läng­lich­keiten zu über­winden, besteht nicht darin, die Regu­lierung zu ver­stärken, sondern dem öffent­lichen Interesse dort eine Stimme zu geben, wo die Ent­schei­dungen getroffen werden: Es muss in den Lei­tungs­gremien eines Unter­nehmens, in Vor­stand und Auf­sichtsrat direkt reprä­sen­tiert sein.” (S.133) Im ersten Moment könnte man an „Polit­kom­missare“ denken, wie es sie in tota­li­tären Sys­temen gibt, die über die Ein­haltung von poli­ti­schen Richt­linien wachen. Aber Collier hat eine andere Idee. Er fordert, die Gesetze so zu ändern, dass die Unter­neh­mens­führer gezwungen werden, nicht nur nach dem Interesse ihrer Firma zu ent­scheiden, sondern nach dem „Gemeinwohl“. Wer das Gemeinwohl („public interest“) nicht beachte, solle bestraft werden: „Wie kann dem öffent­lichen Interesse in den Lei­tungs­gremien am besten Geltung ver­schafft werden? Das ent­spre­chende Gesetz könnte so geändert werden, dass die ange­messene Berück­sich­tigung des öffent­lichen Inter­essen für alle Mit­glieder der Lei­tungs­gremien ver­pflichtend vor­ge­schrieben würde. Auf­grund ihrer gesetz­lichen Haft­pflicht könnten Vor­stands- und Auf­sichts­rat­mit­glieder, die sich über einen wich­tigen Aspekt des öffent­lichen Inter­essen hin­weg­setzen, zivil- und/oder straf­rechtlich belangt werden.“ (S.134)
Damit wäre der Willkür Tür und Tor geöffnet. Denn „Gemeinwohl“ ist ein vager und dehn­barer Begriff, unter dem sich jeder vor­stellen kann, was er will. Bei Collier ist nicht gemeint, dass sich das Management an gesetz­liche Vor­schriften halten soll (das ist ja auch heute schon so), sondern dass in seinem „sozialen Kapi­ta­lismus“ bei jeder unter­neh­me­ri­schen Ent­scheidung geprüft werden müsse, ob diese auch im „Gemeinwohl“ liege, was heute wohl heißt, dass sie in Über­ein­stimmung mit „Nach­hal­tigkeit“ steht, nicht den Kli­ma­wandel befördert und natürlich „Gender“-Gesichtspunkte berück­sichtigt. Collier möchte, dass die ganze Gesell­schaft einem „sozialen Mate­r­na­lismus“ ver­pflichtet sein soll.
Plä­doyer für eine private „all-seeing police force“
Doch Collier hat sogar noch radi­kalere Ideen. Er will, dass Bürger die Rolle von “Poli­zisten” spielen, die darüber wachen, dass die Unter­nehmen im öffent­lichen Interesse handeln. Er meint damit nicht die staat­liche Polizei, sondern durch nie­manden legi­ti­mierte, also selbst­er­nannte Akti­visten, die die Unter­nehmen bespitzeln und kon­trol­lieren sollen. „Jede Regu­lierung kann durch kluges förm­liches ‚Abhaken von Kästchen’ unter­laufen werden; jede Steu­erlast kann durch geschickte Buch­führung ver­ringert werden; jedes Mandat kann durch eigen­nüt­ziges Denken mani­pu­liert werden. Der einzige Schutz gegen der­artige Hand­lungs­weisen ist eine alles sorg­fältig beob­ach­tende ‚Polizei’… Die sanfte Auf­sichts­funktion erfordert nicht, dass sich alle daran betei­ligen: Wenn eine kri­tische Masse Teil­nehmer über­schritten wird, werden die Risiken, die durch das Fehl­ver­halten von Unter­nehmen ent­stehen, untragbar hoch.“ (S. 135) Der deutsche Über­setzer hat die For­mu­lie­rungen des Autors etwas abge­schwächt, viel­leicht weil er dachte, dass Col­liers For­derung nach einer „all-seeing police force“ (so die For­mu­lierung im eng­li­schen Ori­ginal) für den deut­schen Leser nach den Erfah­rungen mit zwei tota­li­tären Sys­temen abschre­ckend wirken könnte. Deshalb hat er den Begriff „Polizei“ in Anfüh­rungs­striche gesetzt, was im eng­li­schen Ori­ginal nicht der Fall ist bzw. den Begriff „police“ durch „Auf­sichts­funktion“ ersetzt.
Collier setzt darauf, dass sich in jedem Unter­nehmen genügend selbst ernannte Akti­visten finden, die diese Kon­troll- und Spit­zel­tä­tigkeit mit Freude über­nehmen: „Alle Unter­nehmen haben einen großen Pool an Mit­ar­beitern mit feinem ethi­schem Gespür, die bereit wären, eine zusätz­liche Aufgabe zu über­nehmen, und stolz darauf, Hüter des öffent­lichen Inter­esses zu werden… Es besteht kein Mangel an hoch­mo­ti­vierten Men­schen, die in Groß­un­ter­nehmen arbeiten und sich der Gesell­schaft ver­pflichtet fühlen.“ (S.136)
Obwohl Collier sich in seinem Buch immer wieder zum Prag­ma­tismus bekennt und gegen Ideo­logen und Popu­listen wettert, ähneln seine Ideen in erschre­ckender Weise tota­li­tären Sys­temen. Wenn private Per­sonen ohne jede Legi­ti­mation die Rolle einer „all-seeing police force“ spielen sollen, die darüber wacht, dass die Eigen­tümer bzw. die Eigen­tü­mer­ver­treter im Unter­nehmen im „public interest“ handeln, dann hat dies auf jeden Fall mit Markt­wirt­schaft und Kapi­ta­lismus nichts mehr zu tun. Vom Kapi­ta­lismus bleibt am Ende nichts mehr übrig als das bloße Wort: Zwölf Buch­staben, die aber ihrer eigentlich Bedeutung beraubt wurden.
Paul Collier, Sozialer Kapi­ta­lismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesell­schaft. Aus dem Eng­li­schen von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag, München 2019.