emkanicepic / Pixabay

Vera Lengsfeld: Die Schwie­rig­keiten mit dem 30. Jah­restag des Mauerfalls

Das Jubiläum hatten die Spitzen des Staates eigentlich ver­gessen. Erst im letzten April wurden die Beamten des Heimat-und Innen­mi­nis­te­riums von diesem natio­nalen Gedenktag über­rascht. Sie mussten kurz­fristig beim Finanz­mi­nister Scholz wegen einer „über­plan­mä­ßigen Ausgabe“ um einen Termin bitten. 61 Mil­lionen € für ein „unvor­her­ge­se­henes Bedürfnis“, wie Staats­se­kre­tärin Hagedorn schrieb, müssten nach­träglich in den Haushalt ein­ge­stellt werden. Mit dem eilends zuge­si­cherten Etat wurde dann vom Kabinett eine Kom­mission: „30 Jahre Fried­liche Revo­lution und Deutsche Einheit“ ein­ge­setzt. Sie wird von Ex-Minis­ter­prä­sident Mat­thias Platzeck geleitet, der vor der Abstimmung über den Eini­gungs­vertrag in der DDR-Volks­kammer 1990 „feige den Saal ver­lassen“ (Hubertus Knabe) hatte. Patronage ersetzt offen­sichtlich Courage.

(von Angelika Barbe — zusammen mit Vera Lengsfeld)

Hier bestellen!

Nun soll das Jubiläum mit Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tungen so gefeiert werden, dass es Ost und West eint. Zum Auftakt traf man sich am his­to­ri­schen Tagungsort des Zen­tralen Runden Tisches im Torhaus des Schlosses Schön­hausen – am 9. Sep­tember, dem Grün­dungs­datum des neuen Forums vor 30 Jahren. Mat­thias Platzeck und der Ost­be­auf­tragte Christian Hirte eröff­neten mit kurzen, nichts­sa­genden Erin­ne­rungen an 1989. Staats­se­kretär Markus Kerber nannte die Fried­liche Revo­lution immerhin „demo­kra­tie­his­to­risch ein­zig­artig“. Was den in Ulm Gebür­tigen zu dem Grußwort qua­li­fi­zierte, erschließt sich erst aus seiner Bio­graphie. Immerhin orga­ni­sierte er 2006 die erste Deutsche Islamkonferenz.
Der unga­rische Bür­ger­rechtler und Autor György Dalos fragte in seiner Rede, wie man als Ein­zelner in einer Dik­tatur die Hoffnung auf die Freiheit behalten konnte, wenn doch die Sowjet­union jeden Reform­versuch in den Ländern ihres Macht­be­reichs im Keim erstickte und mit Panzern nie­der­schlug. Er bezeichnete es als ein Phä­nomen, dass die Rie­sen­macht Sowjet­union eisern ver­sucht hatte, ihr kom­mu­nis­ti­sches Modell ver­schie­denen Ländern über Jahr­zehnte auf­zu­zwingen, obwohl die Bürger diese Welt­ordnung nicht wollten. Selbst die Regie­renden glaubten zum Schluss nicht mehr an die eigene Ideo­logie. Der Zusam­men­bruch war schon vor 1989 über­deutlich, weil nur die Ber­liner Mauer und die mili­tä­rische Sowjet­macht alles zusam­men­hielten. Nach dem 9. November fiel das Kar­tenhaus end­gültig zusammen.
In zwei Gesprächs­gruppen wurde auf dem Podium erörtert, wie es zur Fried­lichen Revo­lution kommen konnte und welche Ziele die ver­schie­denen Bür­ger­rechts­gruppen anstrebten. Es saßen aber nur Linke auf dem Podium, die gern die DDR demo­kra­ti­siert, also bewahrt hätten und zum Teil heute noch dieser Utopie anhängen. Die Bür­ger­recht­lerin Gesine Olt­manns wies als einzige auf die mas­siven Pro­bleme hin, die es in der DDR gab. Sie erlebte in Leipzig vor allem die massive Umwelt­ver­schmutzung. Der Verfall der Stadt auf­grund nied­riger Mieten, die keine Sanierung erlaubten, wurde im Volksmund als „Ruinen schaffen ohne Waffen“ bezeichnet. Der Kurzzeit-Außen­mi­nister der Regierung de Mai­zière Markus Meckel erin­nerte an Gor­bat­schows Rede 1988 vor der UNO mit dessen Ankün­digung, den Ländern des Ost­blocks zukünftig Wahl­freiheit zuzu­bil­ligen. Das sei ein erstes Signal des Umdenkens gewesen.
Die Bür­ger­rechts­gruppen in der DDR hätten unter­schied­liche Ziele ange­strebt. Die SPD-Gründer wollten eine par­la­men­ta­rische Demo­kratie und ent­schieden sich deshalb für die Struktur einer Partei. Das Neue Forum konnte sich nicht ent­schließen, Partei zu werden. Vor allem verlor es seine Repu­tation, als die füh­renden Kräfte an einer eigen­stän­digen DDR fest­hielten, obwohl die Mehrheit der Unter­stützer die schnelle Ver­ei­nigung wollte.
Die ehe­malige Aus­län­der­be­auf­tragte Almut Berger behauptete, viele DDR-Bürger hätten die DDR nicht abschaffen, sondern eine sol­da­rische Gesell­schaft errichten wollen. Es sei für sie schmerzlich gewesen, als aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ ein „Wir sind ein Volk“ wurde. Wieso es zu diesem Ruf kommen konnte, wo die Mehrheit angeblich etwas anderes wollte, erklärte sie nicht.
Reiner Eppelmann ent­gegnete, daß sich bei den ersten freien Wahlen 85 % der Wähler für Par­teien ent­schieden, die für die deutsche Einheit plä­dierten und damit keine refor­mierte DDR wünschten. Der Mit­be­gründer des Neuen Forums Martin Klähn ergänzte, dass das „Neue Forum nach dem Mau­erfall erledigt“ war. Berger und Klähn war anzu­merken, dass sie bis heute nicht bereit sind, den Mehr­heits­willen der DDR-Bevöl­kerung zu akzep­tieren, sondern ihn nach wie vor für eine Ver­irrung halten. Bei Berger geht die Abneigung so weit, dass sie ihren Mit­bürgern neo­na­zis­tische und aus­län­der­feind­liche Hal­tungen unter­stellt. Dabei war in der DDR vor allem die Staats­führung aus­län­der­feindlich, die dafür sorgte, dass die Gast­ar­beiter, hier Ver­trags­ar­beiter genannt, mög­lichst keinen Kontakt zur ein­hei­mi­schen Bevöl­kerung haben durften.
Der These des His­to­rikers Pollack, nicht die Bür­ger­rechtler, sondern das Volk habe die DDR gestürzt, wider­sprach Markus Meckel vehement. Alle Stra­ßen­pro­teste hätten ohne das poli­tische Handeln der Bür­ger­rechtler nichts bewirken können. Erst mit der Gründung der Par­teien, des Neuen Forums u.a. Grup­pie­rungen wurde den Bürgern ermög­licht, poli­tische For­de­rungen zu erheben, um den ewigen Macht­an­spruch der SED zu brechen. Den Wider­spruch, dass die Bür­ger­rechts­par­teien mehr­heitlich andere Ziele pro­kla­mierten, als die Demons­tranten auf der Straße, ver­schweig Meckel. Der Runde Tisch sei dann das Aus­hand­lungs­in­strument für freie Wahlen und die Kon­troll­in­stanz der Regierung Modrow gewesen. Dass die Bür­ger­rechtler an diesem Runden Tisch nach allen Regeln der Kunst von den Alt­par­teien und den Inof­fi­zi­ellen Mit­ar­beitern der Staats­si­cherheit über den­selben gezogen wurden, kam nicht zur Sprache. Die Ent­scheidung, der West­spionage der Staats­si­cherheit zu erlauben, ihre Akten zu ver­nichten, ist nur ein Bei­spiel dafür.
In der zweiten Runde (heute neu­deutsch „Panel“ genannt) erin­nerte Günter Nooke an die gemein­samen For­de­rungen der Bür­ger­rechtler, wie Frieden, die Ein­haltung der Men­schen­rechte und die Abschaffung der SED-Dik­tatur. Gerd Poppe weitete den Blick und erin­nerte an die oppo­si­tio­nellen Freunde in der CSSR, Polen und Ungarn, mit denen man sich traf. Im Westen dagegen habe man sich nur auf wenige Freunde wie Lukas Beckmann und Petra Kelly ver­lassen können, deren Unter­stützung sehr wichtig war. Lukas Beckmann ver­suchte, den Zwist zwi­schen Ost und West zu beschreiben. Der poli­tische Prozess zur deut­schen Einheit ging von den Bür­ger­be­we­gungen im Osten aus, sei jedoch im Westen nicht fort­ge­führt worden. Er bedauerte, dass die Ver­fas­sungs­dis­kussion zivil­ge­sell­schaftlich nicht begleitet wurde und erin­nerte an War­nungen (west­deut­scher) Freunde wie diese: “Du gefährdest die EU. Wenn du die Bürger betei­ligst, ist die EU tot.“ In vielen Ländern hat die Mehrheit der Bürger die EU tat­sächlich nicht haben wollen.
Volks­ab­stim­mungen in den Nie­der­landen und Frank­reich schei­terten. Marianne Birthler steuerte eine These zur aktu­ellen Dis­kussion bei, die sie weder begründete noch belegte. Sie pro­phe­zeite, dass es in Zukunft auf einen Streit zwi­schen den Ver­tei­digern und den Gegnern der Freiheit hinauslaufe.
Nooke dagegen ließ sich nicht davon abhalten, die Ergeb­nisse der Land­tags­wahlen in Bran­denburg und Sachsen nüchtern zu ana­ly­sieren. Seiner Meinung nach hätten die Wähler ein sehr ratio­nales Wahl­ver­halten gezeigt, außerdem seien 25 % AFD-Wähler weder Ras­sisten, noch Nazis. Offen­sichtlich sei im Trans­for­ma­ti­ons­prozess vieles nicht geklärt, was zu dem Wahl­ver­halten geführt habe. Er beharrte darauf, dass die Ost­deut­schen demo­kra­tisch wählen und deshalb nicht stig­ma­ti­siert werden sollten. Ihm habe ein Bekannter, der sowohl in Köln als auch in Forst arbeite, erklärt: Die Ossis wollen nicht, daß es bei ihnen so aus­sieht, wie in Köln.
Hier bestellen!

Lukas Beck­mannn bestä­tigte , dass die Wähler gehört werden wollen, aber ver­stieg sich zu einer wirren These, die er nicht näher erläu­terte. Seiner Ansicht nach müssen wir uns „auf unsere Werte ver­stän­digen”, aber „andere ver­drängen, weil sie uns ver­giften“. Wer ent­scheidet dann aber, was „unsere Werte“ sind „welche uns ver­giften“? Rück­bli­ckend verwies Gerd Poppe auf die nicht auf­ge­ar­beitet NS-Dik­tatur in der DDR. Schließlich hatte die SED-geführte DDR sich zur nazifreien Republik erklärt, weil alle Nazis angeblich im Westen lebten.
Marvin Kalmbach, ein Schüler der 12. Klasse der Evan­ge­li­schen Schule Köpenick, wurde zur inten­siven Recherche über die DDR angeregt, als er erfuhr, dass man in der DDR schon nach 6 Monaten zum Volks­richter aus­ge­bildet werden konnte. Er äußerte sich zur For­derung, Schüler müssten mehr über die NS-Zeit erfahren. Er habe sich in seiner Schule in drei Klas­sen­stufen intensiv mit dem Natio­nal­so­zia­lismus aus­ein­an­der­ge­setzt, aber bisher nur zwei Wochen etwas über die DDR erfahren. Das müsse sich ändern, war sein Fazit.
Neulich traf ich Herrn Platzeck als Stra­ßen­wahl­kämpfer in Witt­stock zur Lan­des­gar­ten­schau. Ich erin­nerte ihn daran, dass wir SPD-Gründer vor 30 Jahren den Sturz der SED mit großer Zivil­courage betrieben. Unver­ständlich seien deshalb seine und die Zusam­men­arbeit der SPD mit der Linken, die doch die rechts­iden­tische SED sei. Noch unver­ständ­licher ist, dass noch immer tau­sende SED-Opfer nicht ent­schädigt sind. Die neben ihm ste­hende Landtags-Kan­di­datin Lange behauptete – bar jeder Kennt­nisse–, die Opfer könnten doch einen Antrag stellen. Ich erwi­derte, dass z.B. die ver­folgten Schüler zwar reha­bi­li­tiert seien, leider aber bis heute keinen Ent­schä­di­gungs­an­spruch hätten. Mat­thias Platzeck stand stumm daneben. Er zog sich mal wieder aus der Ver­ant­wortung wie damals beim Einigungsvertrag.
Die Bedürf­nisse der­je­nigen, die Vor­leis­tungen für die Deutsche Einheit erbracht haben, sind nicht „unvor­her­ge­sehen“. Sie bestehen seit 30 Jahren in der Wür­digung und Aner­kennung ihres Kampfes für Freiheit und Rechts­staat. Der Eini­gungs­vertrag hatte vor 30 Jahren eine ange­messene Ent­schä­digung aller Opfer zugesagt. Darauf müssen sie wahr­scheinlich bis zum Jüngsten Tag warten.

Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de