Der grausige Fund von 39 Toten in einem Lastwagen im Osten Londons klärt sich langsam auf und wirft ein grauenvolles Schlaglicht auf die ausufernde, globale Schlepperei. Einunddreißig Männer und acht Frauen waren elend in dem Kühltransporter gestorben. Die meisten von ihnen waren Vietnamesen, die sich auf den Weg nach Großbritannien gemacht haben, um dort in der großen vietnamesischen Community unterzukommen – und sei es als unterbezahlter Koch in einem der vielen Asia-Restaurants, in denen man täglich von frühmorgens bis spätabends schnelles Billigessen zusammenschüttet. Mindestens 12 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Die Schlepper gaukeln den Menschen, die nach einem besseren Leben streben, ein völlig unrealistisches Bild davon vor, was man in Europa für tolle Jobs bekommt und welch stolze Gehälter man da verdient. Da scheint sich die Investition in eine illegale Immigration eben doch zu lohnen – von Vietnam bis ins tiefste Afrika – und die Familien bezahlen Zigtausende an die Menschenhändler.
Man kam der Sache auf die Spur, als sich bald nach dem Leichenfund zwei vietnamesische Familien besorgt nach dem Schicksal ihrer Angehörigen erkundigten.
Der Sattelschlepper war im Industriepark Grays, etwa 40 Kilometer im Osten Londons, gefunden worden. Zuerst ging die britische Polizei von chinesischen Opfern aus. Doch schon bald meldeten sich drei vietnamesische Familien, die in größter Angst um ihre Angehörigen waren, weil sie seit Tagen nichts mehr von ihnen gehört hatten.
Die Familie einer der weiblichen Opfer sagte gegenüber dem britischen Sender BBC, ihre Tochter, PhamTra My (26) habe Dienstagabend eine Textnachricht geschickt, dass sie ersticke. Die Textnachricht ist herzzerreißend:
„Es tut mir so leid, Mama. Meine Reise ins Ausland ist gescheitert. Ich liebe Dich so sehr Mama. Ich sterbe, weil ich nicht mehr atmen kann.“
Es war der Familie ab da nicht mehr möglich Pham Tra My zu kontaktieren. Die junge Frau hatte bereits am 19. Oktober einen Versuch unternommen, nach England zu gelangen, war aber aufgegriffen und abgewiesen worden. Der BBC erzählten die geschockten Angehörigen, dass sie etwa 50.000 Dollar für die illegale Einreise nach Großbritannien bezahlt haben. Eine andere vietnamesische Familie, die sich ebenfalls bei BBC meldet, hatte auch tagelang kein Lebenszeichen von ihren Verwandten, einem 26jährigen, jungen Mann und einer 19jährigen Frau erhalten.
Die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Hua Chunying gab ein Statement ab, dass China mit der Britischen Behörden zusammenarbeiten wolle, um diesen Fall und die Hintergründe der tragischen Tode aufzuklären. Hua Chunying sagte:
„Gleichgültig, woher diese Opfer kommen, es ist eine große Tragödie, die jetzt die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf das Thema der illegalen Einwanderungen gezogen hat.“
Da der Container von Zeebrugge aus nach Purfleet in Großbritannien transportiert wurde, wird auch die belgische Polizei hinzugezogen. Der Sattelschlepper selbst ist in Bulgarien registriert. Die Firma gehört einem Ehepaar irischer Staatsbürgerschaft, Joanna und Thomas Maher aus Warrington in Cheshire. Der Laster soll von Nordirland nach Dublin gefahren sein, von dort mit einer Fähre nach Holyhead (Wales) übergesetzt haben, dann quer durch Großbritannien gefahren sein, um den Container aus Zeebrugge in Purfleet aufzunehmen. Die entsetzliche Tragödie, die sich in dem Container abgespielt hat, wirft ein Schlaglicht auf die kriminellen Schlepperbanden, die riesige Gewinne durch den Menschenhandel im großen Stil einsacken und davon profitieren, dass hierzulande die Medien Schlepperhelfer, wie eine Kapitänin Carola Rackete auch noch zu Helden hochstilisieren.
Es geschieht ja nicht zum ersten Mal, dass Menschenleben einfach und massenhaft aufs Spiel gesetzt werden. Dass Hunderte oder Tausende sterben, die aufgrund von falschen Versprechungen ihre Familien und ihr Land verlassen, um im vermeintlich goldenen Europa oder Nordamerika ein besseres Leben zu finden. In Dover wurden in einer Lieferung Tomaten 58 Leichen von Chinesen gefunden, die ebenfalls, wie bei den neuerlichen Opfern, Zehntausende von Dollar gezahlt hatten für eine sichere, aber illegale Einreise nach Großbritannien. Auch dieser Container war damals aus Zeebrugge nach Großbritannien übergesetzt. Die chinesische Schlepperbande war unter dem Namen „Schlangenköpfe“ bekannt.
Wie viele Migranten von der libyschen Küste in seeuntüchtigen Schlauchbooten mit viel zu wenig Treibstoff gestartet sind und von den gefeierten Schlepperschiffen verpasst oder nicht gefunden wurden, weiß kein Mensch. Es mögen Hunderte oder Tausende sein, die elend ertrunken sind. Sie alle mussten hohe Summen zahlen, oft legte das ganze Dorf zusammen, in der Hoffnung, der Entsandte werde ihnen aus dem goldenen, reichen Europa Reichtümer schicken. Die Schlepperbanden stopfen sich Unsummen in die Taschen und die „Seenotretter“ spielen das furchtbare Spiel mit und fühlen sich auch noch als Helden. Ohne sie würde aber das florierende Geschäft des Menschenhandels bald zum Erliegen kommen.
Und das Geschäft betreiben die Schlepper ganz professionell. Im Falle der vietnamesischen Opfer im Kühllaster im Industriepark schälen sich nun langsam die Details der dahinterstehenden Menschenschmuggler-Industrie heraus. Die Familien der Opfer packen aus – und Experten bestätigen, was sie zu berichten haben: Man kann zwischen der „Holzklasse“ und der „VIP-Route“ wählen.
„Wenn er die ‚VIP-Route‘ genommen hat, dann gibt es eine einprozentige Chance, dass er erwischt wurde, das ist der sicherste und teuerste Weg“, sagte Nguyen Dinh Gia, der befürchtet, dass sein Sohn Nguyen Dinh Luong unter den 39 Toten ist. „Wenn er die Billigroute nahm, bin ich hundertprozentig sicher, dass er gestorben ist. Das Fahrzeug bei diesem Unfall — das ist die ‚Holzklasse‘.“
Letztere ist nur etwas für sehr zähe Naturen. Sie besteht aus einer monatelangen, anstrengenden Tour über den Landweg aus Vietnam, durch China und dann über die chinesisch-russische Grenze, weiß die Anti-Schlepper-Aktivistin und Rechtsanwältin Mimi Vu aus Ho-Chi-Minh-Stadt. Größtenteils geschieht das mittels heimlicher Autofahrten, doch die Grenzen werden meistens nachts und zu Fuß durch die Wälder überquert. Von Russland geht es in die Ukraine und weiter über Polen und Tschechien, durch Deutschland und Frankreich nach Großbritannien. Das ist nicht nur anstrengend, sondern auch gefährlich. Insbesondere in der Ukraine. Nicht jeder kommt an, und wer verschwindet, der taucht auch kaum wieder auf. Vom europäischen Festland auf die britische Insel wird dann der Container eingesetzt. Diese Holzklasse-Tour ist schon für 3500 Euro zu bekommen.
Angehörige, Migranten und Experten nennen einen VIP-Routen-Tarif von etwa 13.000 Euro, den man hinlegen muss, um von Deutschland oder Frankreich ins vereinigte Königreich geschmuggelt zu werden. Insgesamt kostet das Luxus-Menschenhandel-Paket etwa 34.000 Euro.
Die „Erste-Klasse-Schleppung“ beinhaltet typischerweise einen Flug von Vietnam nach Europa über ein Drittland mit ge- oder verfälschten Reisepässen. Das dauert Tage statt Monate, kostet aber viel mehr“, erläuterte Anwältin Mimi Vu.
Die VIP-Migranten gehen dabei davon aus, dass sie genauso, wie sie per Flugzeug bequem nach Kontinentaleuropa kommen, auch per Flieger nach Großbritannien einreisen können. Doch Experten sagen immer wieder, dass die letzte Etappe über den Ärmelkanal immer die Einreise im Lastwagencontainer ist:
„Eltern zahlen für den ‚VIP-Service‘, weil sie glauben, es ist sicherer. Aber was sie nicht wissen, ist, dass ihr Sohn oder ihre Tochter am Ende in demselben Lkw landet wie jemand, der für die billige Reise bezahlt hat.“
Bezahlt wird meistens jeweils etappenweise. Erst wenn das Geld für die nächste Etappe der Schlepperbande bezahlt wird, geht es weiter. Als Nguyen Dinh Luong, wahrscheinlich einer der Opfer in dem Kühltransporter, von Frankreich nach Deutschland fuhr, wurde sein Vater angerufen, dass nun jemand mit einem Fahrzeug kommen würde und umgerechnet 16.000 Euro zu bekommen habe, wenn es für Luong weitergehen solle, erzählt sein Vater Nguyen Dinh Gia. Zuvor war Luong in Frankreich angekommen, wo er 18 Monate lang illegal in einem Restaurant gearbeitet hatte. Dann hieß es, über den Ärmelkanal zu kommen. Luong machte sich über Deutschland auf den Weg. Sein Vater ahnte nichts Gutes und versuchte, seinen Sohn davon abzuhalten. Vergeblich.
Spät am Donnerstagabend erhielt Vater Nguyen Dinh Gia „einen Anruf von einem Kontakt in Übersee, der offenbar direkte Kenntnis von den Toten im Container hatte. „Ich hoffe, Sie verstehen“, zitierte Gia den Anrufer. „Das Fahrzeug hatte einen Unfall. Alle starben.“
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