Interview mit Professor Dr. Werner Plumpe zu seinem Buch „Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution“. Die Fragen stellte Andreas Marquart
Werner Plumpe ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Bis 2012 war er Vorsitzender des Deutschen Historikerverbands. 2010 erschien „Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart“, 2012 „Wie wir reich wurden“ (mit Rainer Hank) und 2014 „Die große Depression“ (mit Jan-Otmar Hesse und Roman Köster“. Ebenfalls 2014 erhielt Werner Plumpe den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik. 2016 erschien seine Biographie über den Industriellen Carl Duisberg.
Herr Professor Plumpe, gleich auf der Rückseite Ihres Buches ist zu lesen, dass der Kapitalismus nicht das Problem der Welt ist, sondern Lösungen für Probleme liefert, die anders schlicht nicht zu lösen wären. Warum trägt Ihr Buch dann den Titel „Das kalte Herz“?
Der Titel „Das Kalte Herz“ geht auf das gleichnamige Märchen von Wilhelm Hauff zurück. Das Märchen spielt um 1800 im Schwarzwald; der arme Köhler Peter Munk möchte auch reich sein, weiß aber nicht wie er es anstellen soll. Schließlich tauscht ihm der Holländermichel sein Herz gegen einen Stein mit dem Versprechen, reich zu werden. Genau das passiert auch. Nur wird Munk nicht nur reich, sondern auch gefühl- und rücksichtslos. Manche Literaturwissenschaftler haben das Märchen dann als Kritik am Kapitalismus gelesen. Ich habe den Titel deshalb gewählt, weil er letztlich ganz zutreffend ist, auch wenn er Kritik signalisiert. Kälte ist das Kennzeichen des Kapitalismus, aber gerade hierin liegt seine Stärke: Indem die Wirtschaft allein Nützlichkeitskalkülen folgt, ist sie besonders leistungsfähig! Der Titel „Das kalte Herz“ ist also auch ein semantisches Spiel, das die Kritik aufgreift, aber dann in ihr Gegenteil verkehrt. Aus einer vordergründigen moralischen Perspektive kann Kälte niemals akzeptabel sein; wenn aber gerade die Kälte, und historisch gesehen allein sie einen materiellen Ertrag möglich macht, der vielen Menschen zugutekommt, dann sieht der Befund anders aus.
Woran liegt es nach Ihrer Einschätzung, dass der Kapitalismus so einen schlechten Ruf hat?
In der populären Vorstellung von Kapitalismus bündelt sich eine Vielzahl von Motiven, Bildern und Ängsten, die zu einem beträchtlichen Teil sehr viel älter als diese Art der Wirtschaft sind, also gar nicht auf seine Entstehung reagieren, sondern seit dem 18. Jahrhundert auf ihn übertragen wurden. Da ist die sehr alte Eigentums- und Geldfeindschaft von großer Bedeutung, die im Spätaristotelismus der praktischen Philosophie des 18. Jahrhunderts noch einmal voll zur Geltung kommt. Da sind die warnenden Stimmen der protestantischen Geistlichkeit insbesondere in England und Holland, die Reichtum und ein entsprechendes Leben für heilsgefährdend halten und auf den Kanzeln predigen, das (erfolgreiche) Streben nach irdischen Gütern sei nicht gottgefällig und fordere dessen Strafe geradezu heraus. Das ist die Abscheu der Oberschicht gegenüber einer Wirtschaft, die sich mit billigen Produkten am Massengeschmack orientiert, also eine Konsumkritik avant la lettre. Und das verbindet sich im 19. Jahrhundert mit der sozialen Frage, den Forderungen der Arbeiterschaft und dem entstehenden Marxismus. Der Kapitalismus sei zwar historisch notwendig, müsse als Ausbeutungssystem aber überwunden werden und durch eine andere, ethisch legitime Ordnung des Ökonomischen ersetzt werden. Da kommt im 20. Jahrhundert die Vorstellung hinzu, der entfaltete Kapitalismus kolonisiere unser Leben, indem er die gesamte Welt den Gesetzen des Marktes und damit der Profitgier der Reichen unterwerfe.
Das hört sich gerade irgendwie sehr aktuell an …
Stimmt. Und die gegenwärtige ökologisch motivierte Kritik am vermeintlichen Wachstumswahn kann an diese sehr populären Vorbehalte, die ja von großen Teilen des Establishments aus Parteien, Kirchen und Gewerkschaften geteilt werden, spielend anknüpfen. Dass diese Vorstellung vom Kapitalismus eine Vorstellung ist, fällt dann schließlich auch niemandem mehr auf, weil es ja genügend Beispiele dafür gibt: gierige Banker, Billiglöhne, drastische Ausbeutungssituationen insbesondere in vielen armen Ländern der Erde. Das alles gibt dieser Vorstellung eine Art empirischer Evidenz, die zumal medial massiv verstärkt wird. Die eigentliche wirtschaftliche Leistung einer kapitalistischen Ordnung, die alle seine Kritiker nebenher ja selbstverständlich in Anspruch nehmen, kommt dabei gar nicht mehr in den Blick.
Der Kapitalismus wird für fast alle Probleme der Welt verantwortlich gemacht. Lässt sich das Wirtschaftssystem, in dem wir in Deutschland, in Europa leben, überhaupt als ‚kapitalistisch‘ bezeichnen?
Die Vorstellung, der Kapitalismus sei die Wurzel mehr oder weniger aller gesellschaftlicher Übel, geht im Kern auf die Marx’sche Konzeption zurück, sich nicht nur mit der Ordnung der Wirtschaft und ihrer Praxis auseinanderzusetzen, sondern diese zugleich welthistorisch und gesamtgesellschaftlich zu verordnen. Die Wirtschaft, also hier der Kapitalismus, wird zur Basis einer allgemeinen Entwicklung, über der sich ein von ihr mehr oder weniger bestimmter Überbau erhebt. Die Aufhebung der als gegeben unterstellten Entfremdung und ihrer zahlreichen Erscheinungsformen hängt damit an der Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen. Das ist im Kontext der Hegelschen Philosophie und der Feuerbachschen Religionskritik eine ideengeschichtlich nachvollziehbare Volte, nur trifft sie eben empirisch nicht zu, noch ist das konzeptionell überzeugend. Schon der Gedanke des Wirtschaftssystems ist empirisch faktisch nicht zu überprüfen; er ist, wie später bei Sombart zu sehen, eine mehr oder weniger originelle Spekulation, deren Grundannahmen wenig plausibel sind. Nur wenn man diese Annahmen teilt, den Kapitalismus zu einer Art ubiquitärem und übermächtigem „Gespenst“ erklärt, dann kann man ihn für die großen Probleme auch verantwortlich machen. Teilt man diese Annahmen nicht, wird es schwer, einzelne ursächliche Faktoren für die die gegenwärtigen Probleme zu finden. Vielmehr wird es schwer, lässt man sich auf die Vielfalt ökonomischen Handelns ein, hier überhaupt so etwas wie ein System zu erkennen. Empirisch zeigt sich vielmehr eine (institutionalisierte) Ordnung der Koordination wirtschaftlichen Einzelhandelns über Privateigentum, Budgetrationalität und preisbildende Märkte, ohne dass das einzelne Handeln durch diesen Rahmen determiniert wäre. Es findet vielmehr in diesem Rahmen statt, wird durch ihn ermöglicht oder restringiert, geht in seiner Begründung aber in das individuelle Kalkül einzelner Akteure zurück. Dessen statistischen Ausdruck, der sich etwa in Einkommensdaten oder Produktionsziffern niederschlägt, kann ich dann für die eigentliche Struktur halten und damit das Einzelverhalten erklären wollen, ohne dass es diese Strukturen freilich gar nicht gäbe. Aber das ist offensichtlich kategorial nicht in Ordnung.
Es ist also eher von ‚Ordnung‘ als von ‚System‘ zu sprechen?
Ja, der Ordnungsrahmen ist kapitalistisch, aber ein kapitalistisches Wirtschafts- oder Gesellschaftssystem existiert nicht, auch wenn ich nichts dagegen einwenden kann, wenn umgangssprachlich von Wirtschaftssystem gesprochen wird. Das hat sich eingebürgert, trifft im Kern aber nicht zu. Für Probleme kann ich dann auch nicht den Ordnungsrahmen verantwortlich machen oder bestenfalls in dem Sinne, dass er Handlungen zulässt, die ethisch nicht vertretbar sind, wobei das nicht einfach ist, denn der Rahmen erzwingt ja gerade kein gleichförmiges Handeln, sondern lässt eben eine Vielzahl von Varianten zu. Es sind folglich immer die empirisch aufzuklärenden Handlungen, um die es geht, nicht um irgendwelche abstrakte Systemannahmen, die vermeintlich unser Handeln determinieren. Wir leben insofern (noch) unter den Bedingungen einer kapitalistischen Ordnung des ökonomischen Handelns, keinesfalls aber in einem unsere Welt determinierenden kapitalistischen System. Wäre das so, dann besäße der Kapitalismus freilich ironische Züge, denn zu seinen Launen gehörte es dann ja auch, ständig neue kapitalismuskritische Produkte hervorzubringen.
Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch auch intensiv mit dem Begriff der ‚Ungleichheit‘. Die hervorzurufen, wird dem Kapitalismus ja auch häufig vorgeworfen. Ist das eine allgemeine Fehleinschätzung?
Soziale Ungleichheit ist sehr viel älter als die kapitalistische Ordnung wirtschaftlichen Handelns. Ihr Charakter ändert sich mit dieser Ordnung allerdings fundamental. Von Kapitalismus sprechen wir ja auch deshalb, weil mit dieser Ordnung kapitalintensives Wirtschaften zur Regel ökonomischen Handelns wird, was es vorher nicht war. Und diese kapitalintensive Produktion findet unter der Vorherrschaft des Privateigentums statt, sodass Kapitalakkumulation im Privaten nunmehr maßgebliche Ursache sozialer Ungleichheit wird. Nur was bedeutet das? Es bedeutet, dass die großen Vermögen zur Produktion von Gütern genutzt werden, und zwar nicht zu irgendeiner, sondern zur Massenproduktion von Gütern und Dienstleistungen, die durch diese Massenproduktion zugleich derart preiswert werden, dass die Entstehung von Massenmärkten möglich wird, auf denen wiederum sich skalenökonomisch optimierte Massenproduktion erst lohnt. Soziale Ungleichheit in dieser Sicht ist zugleich funktionale Bedingung wirtschaftlichen Wachstums, wie schon John Maynard Keynes feststellte und Simon Kuznets empirisch beobachtete. Zwischen der Höhe der Investitionsquote, dem Wirtschaftswachstum und den Dimensionen sozialer Ungleichheit besteht insofern ein enger Zusammenhang, der solange nicht zum sozialen Skandal wird, wie durch diese Form der Eigentumsnutzung der Wohlstand insgesamt zunimmt. Das soll keine Rechtfertigung der gegenwärtig zum Teil grotesken Einkommensgefälle sein, zeigt aber, dass soziale Ungleichheit nicht einfach naiv beklagt, sondern zunächst einmal in ihrer ökonomischen Funktionalität begriffen werden sollte.
Lassen Sie uns über die Rolle des Staates sprechen. Vor 1914, schreiben Sie, war ‚rein quantitativ die Bedeutung des Staates viel zu gering‘, als dass man z.B. von einem Interventionsstaat sprechen könnte. Wie sehen Sie die Situation heute?
Man muss zwischen der quantitativen Bedeutung der Staatstätigkeit, ihren qualitativen Implikationen, und dessen institutioneller Bedeutung als Garant der institutionellen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns deutlich unterscheiden. Bis zur sogenannten Finanziellen Revolution, die sich nach Vorläufern in Venedig zuerst in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts abspielte und im Wesentlichen in einer Verbindung von geregelten öffentlichen Haushalten mit einem modernen Bank- und Kreditsystem bestand, war die quantitative Rolle des Staates erratisch schwankend. Überschuldungen, Staatsbankerotte, Münzverschlechterung, Raub und Plünderung waren an der Tagesordnung und für die Entfaltung des ökonomischen Alltags eine große Belastung; man denke nur an das überaus reiche Spanien des 16. Und 17. Jahrhunderts und seine zahlreichen Staatsbankerotte, die nicht nur schwer auf der Wirtschaft der iberischen Halbinsel lasteten, sondern auch zahlreiche große Bankhäuser ruinierten. Während die Niederlande, nach 1688 Großbritannien und einige kleinere deutsche Territorien ihr Finanzwesen im Großen und Ganzen jedenfalls ordneten und damit die Bedingungen für eine kapitalistisch organisierte Ökonomie deutlich verbesserten (niedrige Zinssätze, reguläre Haushaltsführung, fundierte Staatsverschuldung, Verzicht auf Münzverschlechterung u.a.), dauerte das in anderen Ländern (Frankreich, Russland, die größeren deutschen Territorien) nicht nur länger; auch die wirtschaftlichen Folgen waren desaströs, wie der sächsische Bankerott Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt. Die Kriege, namentlich die Napoleonischen Kriege hatten nun eine Art widersprüchlicher Wirkung. Einerseits ruinierten sie die Staatsfinanzen zahlreicher Länder, andererseits zwangen sie die Staaten zu einer solideren Haushaltspolitik, ja überhaupt erst zur Schaffung regulärer Haushalte und einer fundierten Staatsverschuldung. Das bedingte die niedrigen Staatsquoten im 19. Jahrhundert wohl mehr als die Parole vom Nachtwächterstaat, der im Nachhinein rechtfertigte, was ohnehin kaum anders möglich gewesen wäre. „Preiswerte“ Staaten sind für die Entfaltung der Wirtschaft nicht zwangsläufig schlecht, auch wenn der Staat seiner sozialen Verantwortung nicht nachzukommen scheint. Die sukzessive ansteigenden Investitionsquoten im 19. Jahrhundert (zunächst Landwirtschaft, dann Infrastruktur, dann Industrie, dann Städtebau etc.) reflektieren auch das niedrige Besteuerungsniveau und schufen zusammen mit der liberalen Gestaltung der Wirtschaftsregeln und des Außenhandels eine günstige Wachstumsatmosphäre. Mit dem industriellen Aufschwung entstanden zugleich die industriellen Verdichtungszonen mit ihren gewaltigen sozialen Problemen, die im Zuge der Entfaltung der Lebensvorsorge nach und nach auch angegangen wurden (Nahverkehr, Kanalisation, Gesundheitswesen, Bildungssektor etc.), doch waren die Aufwendungen hier trotz ihrer deutlichen Zunahme kaum geeignet, eine Art Interventionsstaat zu begründen. Dazu waren die Staatsquoten, die in den großen kapitalistischen Staaten zwischen 10 und 16% lagen, einfach viel zu gering. Die historiographisch eine Zeit lang gepflegte Vorstellung vom Interventionsstaat wird daher heute auch nicht mehr vertreten. Das geringe Engagement des Staates hatte zumindest in Europa zweifellos auch mit dessen noch vor- oder besser protodemokratischer Organisation zu tun, in der Massenerwartungen an das Staatshandeln noch keine ausschlaggebende Rolle spielten. Die Wahlerfolge der Arbeiterparteien zeigten aber, dass das anders werden würde…
Und es wurde anders …
In der Tat: Mit dem Weltkrieg und den sich anschließenden Umwälzungen setzte sich nicht nur zumeist das Prinzip der parlamentarischen Demokratie durch; angesichts der wirtschaftlichen Zwänge der Kriegsführung und ihrer sozialen Folgen war nach 1918 an eine Rückkehr zu den liberalen Verhältnissen der Vorkriegszeit nicht zu denken. Seither haben wir „Wohlfahrtsstaaten“ oder zumindest die Tendenz dorthin und massenzustimmungsabhängige Regierungen, die entsprechend handeln müssen. Die Staatsquoten gingen hoch, in Deutschland auf etwa 30% um 1930, um seither nicht mehr wirklich zurückzugehen. Von der Rüstungswirtschaft im Krieg abgesehen, lagen die Staatsquoten der 1950er und 1960er Jahre in diesem Bereich; seit dem Ende der 1960er Jahre sind sie nach und nach auf einen Satz zwischen 40 und 50% angestiegen. Seither lässt sich von einem Interventionsstaat sprechen, der sich ja auch selbst so versteht, nämlich durch Umverteilung (und Verschuldung) die sozialen Strukturen zu korrigieren und die Lebensbedingungen der Menschen zu gestalten. Verglichen mit dem 19. Jahrhundert ist der Staat insofern sehr viel „sozialer“; die ökonomischen Folgen dieser Sozialstaatlichkeit sind freilich sehr viel differenzierter zu sehen. Hier hat sich die Situation in gewisser Hinsicht umgekehrt, auch wenn die staatlichen Sozialausgaben in Krisenzeiten zweifellos so wie „automatische Stabilisatoren“ wirken können.
Inwiefern haben bei der Entwicklung dahin machtpolitische Intentionen eine Rolle gespielt?
Die marxistische Kritik hat im Staat stets so etwas wie den geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals gesehen, doch so einfach ist die Situation nicht. Machtpolitische Erwägungen spielen immer eine Rolle, doch so einfach ist die Situation, wie die historischen Beispiele zeigen, gerade nicht. Ein zu machtbewusster Staat ist zumeist auch ein teurer Staat, der seine eigenen ökonomischen Handlungsbedingungen zu ruinieren geneigt ist. Spanien ist hier wieder als Beispiel zu sehen, aber auch im 20. Jahrhundert sind die Staaten, die die Funktionsbedingungen der Wirtschaft in ihrer Machtentfaltung ignorierten oder gar beschränkten, nicht gut gefahren. Das ist vielleicht der entscheidende Punkt: Es gibt eine Pragmatik von Machtentfaltung und ökonomischer Prosperität, die die Respektierung der Prosperitätsbedingungen durch den Staat verlangt, die dieser aber wiederum nicht selten glaubt, aus übergeordneten Gesichtspunkten (heute etwa Klimawandel) ignorieren zu können. Geht diese Pragmatik verloren, die das staatliche Wünschbare mit dem ökonomisch Sinnvollen stets aufs Neue abwägt, dann sind die Folgen nicht selten desaströs. Dabei sind höhere Staatsquoten nicht unbedingt etwas, was die kapitalistische Ordnung ruiniert; aber machtgestützte Vorstellungen der Beschränkung des Privateigentums, der Eingriffe in die Preisbildung oder der Beschränkung der ökonomischen Handlungsfreiheit tuen das schon.
Diese Beschränkungen und Eingriffe, die Sie ansprechen, nehmen in jüngster Zeit massiv zu. Auch die Geldpolitik der EZB muss man ja hier ins Kalkül mit einbeziehen. Geht diese Pragmatik, das ’staatlich wünschbare mit dem ökonomisch Sinnvollen stets aufs Neue abzuwägen‘ nicht gerade schon verloren?
Das ist stets eine Art Gratwanderung, denn die politischen Zwecke und Ziele und die ökonomische Vernunft sind ja nicht notwendig deckungsgleich. Solange die politischen Vorhaben und die zu ihrer Realisierung ergriffenen Maßnahmen zurückhaltend sind und die staatlichen Vorgaben, Eingriffe und vor allem Besteuerung/Schuldenwirtschaft/Geldpolitik maßvoll bleiben, ist gegen entsprechendes staatliches Handeln wenig einzuwenden, ja die institutionelle Stabilisierung der kapitalistischen Mechanismen benötigt einen insofern klugen Staat. Problematisch wird es erst, wenn politische Mehrheiten sich romantische Ziele setzen (etwa Gleichheit, gutes Wetter, Gesellschaftsquotierung nach politischen Kriterien, dauerhaftes ökonomisches Gleichgewicht etc.), die spontan nicht entstehen, sondern mit erheblichem Aufwand durchgesetzt werden müssen. Dieser Aufwand, der entweder in einer Korrektur der vorhandenen Koordinationsmechanismen des Handelns (also Ersetzung individueller Handlungsfreiheit durch staatliche Planung, von preisbildenden Märkten durch staatliche Zuteilung, von eigentumskonstituierter Lokalrationalität durch kollektive Zwangsvorgaben) oder in deren Pervertierung durch extreme finanzielle Eingriffe (prohibitiv teure Energiewende, staatliche Schuldenwirtschaft, Garantie einer nicht funktionsfähigen Währungsunion, sozialpolitische Alimentierung ineffizienter Faktorallokation etc.) besteht, zerstört die kapitalistische Ordnung und ihre Effizienz entweder direkt (etwa russische Revolution 1917/18) oder schleichend, wie wir das spätestens seit der großen Finanzkrise von 2007/8 beobachten können. Die Anlässe für diesen Verlust an Pragmatik und das Abrutschen in romantische Vorstellungen sind dabei nicht einmal falsch gesehen; auf die Finanzkrise musste ebenso reagiert werden wie etwa auf die Probleme der Eurozone oder die überbordende öffentliche und private Schuldenwirtschaft. Ausschlaggebend für das Verblassen maßvoller Überlegungen ist das um sich greifende romantische Milieu, das sich einerseits durch einen naiven Manichäismus auszeichnet („an den Problemen des Wohnungsmarktes sind die bösen Vermieter schuld“), andererseits auf überaus einfache, ja naive Lösungen setzt („Mietendeckel und Verstaatlichung lösen die Probleme auf dem Wohnungsmarkt“). Diese Kombination von einfachen Erklärungen und naiven Hoffnungen hat es immer gegeben; nur ist heute diese Sicht der Dinge nicht mehr eine periphere Position; sie ist in vielerlei Hinsicht in das Zentrum politischer Vorstellungen getreten. Da die kapitalistische Ordnung, wie gesagt, von der Garantie ihrer Funktionsbedingungen durch politisch bindende Entscheidungen abhängt, zeichnet sich hier eine Unwucht ab, ja ist bereits eingetreten, die zumindest wirtschaftlich nicht sehr viel Gutes erwarten lässt. Wie Hayek bereits in den dreißiger Jahren in der Wirtschaftsrechnungsdebatte betonte, ist eine derartige Politik nicht unmöglich, ihr Preis ist allerdings sehr hoch. Es scheint, als sei ein Teil unserer Gesellschaft bereit, das aus Naivität oder Überzeugung trotzdem einmal ausprobieren zu wollen.
Vielen Dank, Herr Professor Plumpe.
Quelle: misesde.org
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