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„Soziale Ungleichheit ist sehr viel älter als die kapi­ta­lis­tische Ordnung wirt­schaft­lichen Handelns“

Interview mit Pro­fessor Dr. Werner Plumpe zu seinem Buch „Das kalte Herz. Kapi­ta­lismus: Die Geschichte einer andau­ernden Revo­lution“. Die Fragen stellte Andreas Marquart
Werner Plumpe ist Pro­fessor für Wirt­schafts- und Sozi­al­ge­schichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Uni­ver­sität in Frankfurt am Main. Bis 2012 war er Vor­sit­zender des Deut­schen His­to­ri­ker­ver­bands. 2010 erschien „Wirt­schafts­krisen. Geschichte und Gegenwart“, 2012 „Wie wir reich wurden“ (mit Rainer Hank) und 2014 „Die große Depression“ (mit Jan-Otmar Hesse und Roman Köster“. Eben­falls 2014 erhielt Werner Plumpe den Ludwig-Erhard-Preis für Wirt­schafts­pu­bli­zistik. 2016 erschien seine Bio­graphie über den Indus­tri­ellen Carl Duisberg.
Herr Pro­fessor Plumpe, gleich auf der Rück­seite Ihres Buches ist zu lesen, dass der Kapi­ta­lismus nicht das Problem der Welt ist, sondern Lösungen für Pro­bleme liefert, die anders schlicht nicht zu lösen wären. Warum trägt Ihr Buch dann den Titel „Das kalte Herz“?

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Der Titel „Das Kalte Herz“ geht auf das gleich­namige Märchen von Wilhelm Hauff zurück. Das Märchen spielt um 1800 im Schwarzwald; der arme Köhler Peter Munk möchte auch reich sein, weiß aber nicht wie er es anstellen soll. Schließlich tauscht ihm der Hol­län­der­michel sein Herz gegen einen Stein mit dem Ver­sprechen, reich zu werden. Genau das pas­siert auch. Nur wird Munk nicht nur reich, sondern auch gefühl- und rück­sichtslos. Manche Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler haben das Märchen dann als Kritik am Kapi­ta­lismus gelesen. Ich habe den Titel deshalb gewählt, weil er letztlich ganz zutreffend ist, auch wenn er Kritik signa­li­siert. Kälte ist das Kenn­zeichen des Kapi­ta­lismus, aber gerade hierin liegt seine Stärke: Indem die Wirt­schaft allein Nütz­lich­keits­kal­külen folgt, ist sie besonders leis­tungs­fähig! Der Titel „Das kalte Herz“ ist also auch ein seman­ti­sches Spiel, das die Kritik auf­greift, aber dann in ihr Gegenteil ver­kehrt. Aus einer vor­der­grün­digen mora­li­schen Per­spektive kann Kälte niemals akzep­tabel sein; wenn aber gerade die Kälte, und his­to­risch gesehen allein sie einen mate­ri­ellen Ertrag möglich macht, der vielen Men­schen zugu­te­kommt, dann sieht der Befund anders aus.
Woran liegt es nach Ihrer Ein­schätzung, dass der Kapi­ta­lismus so einen schlechten Ruf hat?
In der popu­lären Vor­stellung von Kapi­ta­lismus bündelt sich eine Vielzahl von Motiven, Bildern und Ängsten, die zu einem beträcht­lichen Teil sehr viel älter als diese Art der Wirt­schaft sind, also gar nicht auf seine Ent­stehung reagieren, sondern seit dem 18. Jahr­hundert auf ihn über­tragen wurden. Da ist die sehr alte Eigentums- und Geld­feind­schaft von großer Bedeutung, die im Spät­aris­to­te­lismus der prak­ti­schen Phi­lo­sophie des 18. Jahr­hun­derts noch einmal voll zur Geltung kommt. Da sind die war­nenden Stimmen der pro­tes­tan­ti­schen Geist­lichkeit ins­be­sondere in England und Holland, die Reichtum und ein ent­spre­chendes Leben für heils­ge­fährdend halten und auf den Kanzeln pre­digen, das (erfolg­reiche) Streben nach irdi­schen Gütern sei nicht gott­ge­fällig und fordere dessen Strafe geradezu heraus. Das ist die Abscheu der Ober­schicht gegenüber einer Wirt­schaft, die sich mit bil­ligen Pro­dukten am Mas­sen­ge­schmack ori­en­tiert, also eine Kon­sum­kritik avant la lettre. Und das ver­bindet sich im 19. Jahr­hundert mit der sozialen Frage, den For­de­rungen der Arbei­ter­schaft und dem ent­ste­henden Mar­xismus. Der Kapi­ta­lismus sei zwar his­to­risch not­wendig, müsse als Aus­beu­tungs­system aber über­wunden werden und durch eine andere, ethisch legitime Ordnung des Öko­no­mi­schen ersetzt werden. Da kommt im 20. Jahr­hundert die Vor­stellung hinzu, der ent­faltete Kapi­ta­lismus kolo­ni­siere unser Leben, indem er die gesamte Welt den Gesetzen des Marktes und damit der Pro­fitgier der Reichen unterwerfe.
Das hört sich gerade irgendwie sehr aktuell an …
Stimmt. Und die gegen­wärtige öko­lo­gisch moti­vierte Kritik am ver­meint­lichen Wachs­tumswahn kann an diese sehr popu­lären Vor­be­halte, die ja von großen Teilen des Estab­lish­ments aus Par­teien, Kirchen und Gewerk­schaften geteilt werden, spielend anknüpfen. Dass diese Vor­stellung vom Kapi­ta­lismus eine Vor­stellung ist, fällt dann schließlich auch nie­mandem mehr auf, weil es ja genügend Bei­spiele dafür gibt: gierige Banker, Bil­lig­löhne, dras­tische Aus­beu­tungs­si­tua­tionen ins­be­sondere in vielen armen Ländern der Erde. Das alles gibt dieser Vor­stellung eine Art empi­ri­scher Evidenz, die zumal medial massiv ver­stärkt wird. Die eigent­liche wirt­schaft­liche Leistung einer kapi­ta­lis­ti­schen Ordnung, die alle seine Kri­tiker nebenher ja selbst­ver­ständlich in Anspruch nehmen, kommt dabei gar nicht mehr in den Blick.
Der Kapi­ta­lismus wird für fast alle Pro­bleme der Welt ver­ant­wortlich gemacht. Lässt sich das Wirt­schafts­system, in dem wir in Deutschland, in Europa leben, über­haupt als ‚kapi­ta­lis­tisch‘ bezeichnen?
Die Vor­stellung, der Kapi­ta­lismus sei die Wurzel mehr oder weniger aller gesell­schaft­licher Übel, geht im Kern auf die Marx’sche Kon­zeption zurück, sich nicht nur mit der Ordnung der Wirt­schaft und ihrer Praxis aus­ein­an­der­zu­setzen, sondern diese zugleich welt­his­to­risch und gesamt­ge­sell­schaftlich zu ver­ordnen. Die Wirt­schaft, also hier der Kapi­ta­lismus, wird zur Basis einer all­ge­meinen Ent­wicklung, über der sich ein von ihr mehr oder weniger bestimmter Überbau erhebt. Die Auf­hebung der als gegeben unter­stellten Ent­fremdung und ihrer zahl­reichen Erschei­nungs­formen hängt damit an der Ver­än­derung der wirt­schaft­lichen Struk­turen. Das ist im Kontext der Hegel­schen Phi­lo­sophie und der Feu­er­bach­schen Reli­gi­ons­kritik eine ideen­ge­schichtlich nach­voll­ziehbare Volte, nur trifft sie eben empi­risch nicht zu, noch ist das kon­zep­tionell über­zeugend. Schon der Gedanke des Wirt­schafts­systems ist empi­risch fak­tisch nicht zu über­prüfen; er ist, wie später bei Sombart zu sehen, eine mehr oder weniger ori­gi­nelle Spe­ku­lation, deren Grund­an­nahmen wenig plau­sibel sind. Nur wenn man diese Annahmen teilt, den Kapi­ta­lismus zu einer Art ubi­qui­tärem und über­mäch­tigem „Gespenst“ erklärt, dann kann man ihn für die großen Pro­bleme auch ver­ant­wortlich machen. Teilt man diese Annahmen nicht, wird es schwer, ein­zelne ursäch­liche Fak­toren für die die gegen­wär­tigen Pro­bleme zu finden. Vielmehr wird es schwer, lässt man sich auf die Vielfalt öko­no­mi­schen Han­delns ein, hier über­haupt so etwas wie ein System zu erkennen. Empi­risch zeigt sich vielmehr eine (insti­tu­tio­na­li­sierte) Ordnung der Koor­di­nation wirt­schaft­lichen Ein­zel­han­delns über Pri­vat­ei­gentum, Bud­ge­tra­tio­na­lität und preis­bil­dende Märkte, ohne dass das ein­zelne Handeln durch diesen Rahmen deter­mi­niert wäre. Es findet vielmehr in diesem Rahmen statt, wird durch ihn ermög­licht oder restrin­giert, geht in seiner Begründung aber in das indi­vi­duelle Kalkül ein­zelner Akteure zurück. Dessen sta­tis­ti­schen Aus­druck, der sich etwa in Ein­kom­mens­daten oder Pro­duk­ti­ons­ziffern nie­der­schlägt, kann ich dann für die eigent­liche Struktur halten und damit das Ein­zel­ver­halten erklären wollen, ohne dass es diese Struk­turen freilich gar nicht gäbe. Aber das ist offen­sichtlich kate­gorial nicht in Ordnung.
Es ist also eher von ‚Ordnung‘ als von ‚System‘ zu sprechen?
Ja, der Ord­nungs­rahmen ist kapi­ta­lis­tisch, aber ein kapi­ta­lis­ti­sches Wirt­schafts- oder Gesell­schafts­system exis­tiert nicht, auch wenn ich nichts dagegen ein­wenden kann, wenn umgangs­sprachlich von Wirt­schafts­system gesprochen wird. Das hat sich ein­ge­bürgert, trifft im Kern aber nicht zu. Für Pro­bleme kann ich dann auch nicht den Ord­nungs­rahmen ver­ant­wortlich machen oder bes­ten­falls in dem Sinne, dass er Hand­lungen zulässt, die ethisch nicht ver­tretbar sind, wobei das nicht einfach ist, denn der Rahmen erzwingt ja gerade kein gleich­för­miges Handeln, sondern lässt eben eine Vielzahl von Vari­anten zu. Es sind folglich immer die empi­risch auf­zu­klä­renden Hand­lungen, um die es geht, nicht um irgend­welche abs­trakte Sys­te­m­an­nahmen, die ver­meintlich unser Handeln deter­mi­nieren. Wir leben insofern (noch) unter den Bedin­gungen einer kapi­ta­lis­ti­schen Ordnung des öko­no­mi­schen Han­delns, kei­nes­falls aber in einem unsere Welt deter­mi­nie­renden kapi­ta­lis­ti­schen System. Wäre das so, dann besäße der Kapi­ta­lismus freilich iro­nische Züge, denn zu seinen Launen gehörte es dann ja auch, ständig neue kapi­ta­lis­mus­kri­tische Pro­dukte hervorzubringen.
Sie beschäf­tigen sich in Ihrem Buch auch intensiv mit dem Begriff der ‚Ungleichheit‘. Die her­vor­zu­rufen, wird dem Kapi­ta­lismus ja auch häufig vor­ge­worfen. Ist das eine all­ge­meine Fehleinschätzung?
Soziale Ungleichheit ist sehr viel älter als die kapi­ta­lis­tische Ordnung wirt­schaft­lichen Han­delns. Ihr Cha­rakter ändert sich mit dieser Ordnung aller­dings fun­da­mental. Von Kapi­ta­lismus sprechen wir ja auch deshalb, weil mit dieser Ordnung kapi­tal­in­ten­sives Wirt­schaften zur Regel öko­no­mi­schen Han­delns wird, was es vorher nicht war. Und diese kapi­tal­in­tensive Pro­duktion findet unter der Vor­herr­schaft des Pri­vat­ei­gentums statt, sodass Kapi­tal­ak­ku­mu­lation im Pri­vaten nunmehr maß­geb­liche Ursache sozialer Ungleichheit wird. Nur was bedeutet das? Es bedeutet, dass die großen Ver­mögen zur Pro­duktion von Gütern genutzt werden, und zwar nicht zu irgend­einer, sondern zur Mas­sen­pro­duktion von Gütern und Dienst­leis­tungen, die durch diese Mas­sen­pro­duktion zugleich derart preiswert werden, dass die Ent­stehung von Mas­sen­märkten möglich wird, auf denen wie­derum sich ska­len­öko­no­misch opti­mierte Mas­sen­pro­duktion erst lohnt. Soziale Ungleichheit in dieser Sicht ist zugleich funk­tionale Bedingung wirt­schaft­lichen Wachstums, wie schon John Maynard Keynes fest­stellte und Simon Kuznets empi­risch beob­achtete. Zwi­schen der Höhe der Inves­ti­ti­ons­quote, dem Wirt­schafts­wachstum und den Dimen­sionen sozialer Ungleichheit besteht insofern ein enger Zusam­menhang, der solange nicht zum sozialen Skandal wird, wie durch diese Form der Eigen­tums­nutzung der Wohl­stand ins­gesamt zunimmt. Das soll keine Recht­fer­tigung der gegen­wärtig zum Teil gro­tesken Ein­kom­mens­ge­fälle sein, zeigt aber, dass soziale Ungleichheit nicht einfach naiv beklagt, sondern zunächst einmal in ihrer öko­no­mi­schen Funk­tio­na­lität begriffen werden sollte.
Lassen Sie uns über die Rolle des Staates sprechen. Vor 1914, schreiben Sie, war ‚rein quan­ti­tativ die Bedeutung des Staates viel zu gering‘, als dass man z.B. von einem Inter­ven­ti­ons­staat sprechen könnte. Wie sehen Sie die Situation heute?
Man muss zwi­schen der quan­ti­ta­tiven Bedeutung der Staats­tä­tigkeit, ihren qua­li­ta­tiven Impli­ka­tionen, und dessen insti­tu­tio­neller Bedeutung als Garant der insti­tu­tio­nellen Rah­men­be­din­gungen wirt­schaft­lichen Han­delns deutlich unter­scheiden. Bis zur soge­nannten Finan­zi­ellen Revo­lution, die sich nach Vor­läufern in Venedig zuerst in den Nie­der­landen des 17. Jahr­hun­derts abspielte und im Wesent­lichen in einer Ver­bindung von gere­gelten öffent­lichen Haus­halten mit einem modernen Bank- und Kre­dit­system bestand, war die quan­ti­tative Rolle des Staates erra­tisch schwankend. Über­schul­dungen, Staats­ban­kerotte, Münz­ver­schlech­terung, Raub und Plün­derung waren an der Tages­ordnung und für die Ent­faltung des öko­no­mi­schen Alltags eine große Belastung; man denke nur an das überaus reiche Spanien des 16. Und 17. Jahr­hun­derts und seine zahl­reichen Staats­ban­kerotte, die nicht nur schwer auf der Wirt­schaft der ibe­ri­schen Halb­insel las­teten, sondern auch zahl­reiche große Bank­häuser rui­nierten. Während die Nie­der­lande, nach 1688 Groß­bri­tannien und einige kleinere deutsche Ter­ri­torien ihr Finanz­wesen im Großen und Ganzen jeden­falls ord­neten und damit die Bedin­gungen für eine kapi­ta­lis­tisch orga­ni­sierte Öko­nomie deutlich ver­bes­serten (niedrige Zins­sätze, reguläre Haus­halts­führung, fun­dierte Staats­ver­schuldung, Ver­zicht auf Münz­ver­schlech­terung u.a.), dauerte das in anderen Ländern (Frank­reich, Russland, die grö­ßeren deut­schen Ter­ri­torien) nicht nur länger; auch die wirt­schaft­lichen Folgen waren desaströs, wie der säch­sische Ban­kerott Mitte des 18. Jahr­hun­derts zeigt. Die Kriege, namentlich die Napo­leo­ni­schen Kriege hatten nun eine Art wider­sprüch­licher Wirkung. Einer­seits rui­nierten sie die Staats­fi­nanzen zahl­reicher Länder, ande­rer­seits zwangen sie die Staaten zu einer soli­deren Haus­halts­po­litik, ja über­haupt erst zur Schaffung regu­lärer Haus­halte und einer fun­dierten Staats­ver­schuldung. Das bedingte die nied­rigen Staats­quoten im 19. Jahr­hundert wohl mehr als die Parole vom Nacht­wäch­ter­staat, der im Nach­hinein recht­fer­tigte, was ohnehin kaum anders möglich gewesen wäre. „Preis­werte“ Staaten sind für die Ent­faltung der Wirt­schaft nicht zwangs­läufig schlecht, auch wenn der Staat seiner sozialen Ver­ant­wortung nicht nach­zu­kommen scheint. Die suk­zessive anstei­genden Inves­ti­ti­ons­quoten im 19. Jahr­hundert (zunächst Land­wirt­schaft, dann Infra­struktur, dann Industrie, dann Städ­tebau etc.) reflek­tieren auch das niedrige Besteue­rungs­niveau und schufen zusammen mit der libe­ralen Gestaltung der Wirt­schafts­regeln und des Außen­handels eine günstige Wachst­ums­at­mo­sphäre. Mit dem indus­tri­ellen Auf­schwung ent­standen zugleich die indus­tri­ellen Ver­dich­tungs­zonen mit ihren gewal­tigen sozialen Pro­blemen, die im Zuge der Ent­faltung der Lebens­vor­sorge nach und nach auch ange­gangen wurden (Nah­verkehr, Kana­li­sation, Gesund­heits­wesen, Bil­dungs­sektor etc.), doch waren die Auf­wen­dungen hier trotz ihrer deut­lichen Zunahme kaum geeignet, eine Art Inter­ven­ti­ons­staat zu begründen. Dazu waren die Staats­quoten, die in den großen kapi­ta­lis­ti­schen Staaten zwi­schen 10 und 16% lagen, einfach viel zu gering. Die his­to­rio­gra­phisch eine Zeit lang gepflegte Vor­stellung vom Inter­ven­ti­ons­staat wird daher heute auch nicht mehr ver­treten. Das geringe Enga­gement des Staates hatte zumindest in Europa zwei­fellos auch mit dessen noch vor- oder besser pro­to­de­mo­kra­ti­scher Orga­ni­sation zu tun, in der Mas­sen­er­war­tungen an das Staats­handeln noch keine aus­schlag­ge­bende Rolle spielten. Die Wahl­er­folge der Arbei­ter­par­teien zeigten aber, dass das anders werden würde…
Und es wurde anders …
In der Tat: Mit dem Welt­krieg und den sich anschlie­ßenden Umwäl­zungen setzte sich nicht nur zumeist das Prinzip der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kratie durch; ange­sichts der wirt­schaft­lichen Zwänge der Kriegs­führung und ihrer sozialen Folgen war nach 1918 an eine Rückkehr zu den libe­ralen Ver­hält­nissen der Vor­kriegszeit nicht zu denken. Seither haben wir „Wohl­fahrts­staaten“ oder zumindest die Tendenz dorthin und mas­sen­zu­stim­mungs­ab­hängige Regie­rungen, die ent­spre­chend handeln müssen. Die Staats­quoten gingen hoch, in Deutschland auf etwa 30% um 1930, um seither nicht mehr wirklich zurück­zu­gehen. Von der Rüs­tungs­wirt­schaft im Krieg abge­sehen, lagen die Staats­quoten der 1950er und 1960er Jahre in diesem Bereich; seit dem Ende der 1960er Jahre sind sie nach und nach auf einen Satz zwi­schen 40 und 50% ange­stiegen. Seither lässt sich von einem Inter­ven­ti­ons­staat sprechen, der sich ja auch selbst so ver­steht, nämlich durch Umver­teilung (und Ver­schuldung) die sozialen Struk­turen zu kor­ri­gieren und die Lebens­be­din­gungen der Men­schen zu gestalten. Ver­glichen mit dem 19. Jahr­hundert ist der Staat insofern sehr viel „sozialer“; die öko­no­mi­schen Folgen dieser Sozi­al­staat­lichkeit sind freilich sehr viel dif­fe­ren­zierter zu sehen. Hier hat sich die Situation in gewisser Hin­sicht umge­kehrt, auch wenn die staat­lichen Sozi­al­aus­gaben in Kri­sen­zeiten zwei­fellos so wie „auto­ma­tische Sta­bi­li­sa­toren“ wirken können.
Inwiefern haben bei der Ent­wicklung dahin macht­po­li­tische Inten­tionen eine Rolle gespielt?
Die mar­xis­tische Kritik hat im Staat stets so etwas wie den geschäfts­füh­renden Aus­schuss des Kapitals gesehen, doch so einfach ist die Situation nicht. Macht­po­li­tische Erwä­gungen spielen immer eine Rolle, doch so einfach ist die Situation, wie die his­to­ri­schen Bei­spiele zeigen, gerade nicht. Ein zu macht­be­wusster Staat ist zumeist auch ein teurer Staat, der seine eigenen öko­no­mi­schen Hand­lungs­be­din­gungen zu rui­nieren geneigt ist. Spanien ist hier wieder als Bei­spiel zu sehen, aber auch im 20. Jahr­hundert sind die Staaten, die die Funk­ti­ons­be­din­gungen der Wirt­schaft in ihrer Macht­ent­faltung igno­rierten oder gar beschränkten, nicht gut gefahren. Das ist viel­leicht der ent­schei­dende Punkt: Es gibt eine Prag­matik von Macht­ent­faltung und öko­no­mi­scher Pro­spe­rität, die die Respek­tierung der Pro­spe­ri­täts­be­din­gungen durch den Staat ver­langt, die dieser aber wie­derum nicht selten glaubt, aus über­ge­ord­neten Gesichts­punkten (heute etwa Kli­ma­wandel) igno­rieren zu können. Geht diese Prag­matik ver­loren, die das staat­liche Wünschbare mit dem öko­no­misch Sinn­vollen stets aufs Neue abwägt, dann sind die Folgen nicht selten desaströs. Dabei sind höhere Staats­quoten nicht unbe­dingt etwas, was die kapi­ta­lis­tische Ordnung rui­niert; aber macht­ge­stützte Vor­stel­lungen der Beschränkung des Pri­vat­ei­gentums, der Ein­griffe in die Preis­bildung oder der Beschränkung der öko­no­mi­schen Hand­lungs­freiheit tuen das schon.
Diese Beschrän­kungen und Ein­griffe, die Sie ansprechen, nehmen in jüngster Zeit massiv zu. Auch die Geld­po­litik der EZB muss man ja hier ins Kalkül mit ein­be­ziehen. Geht diese Prag­matik, das ’staatlich wünschbare mit dem öko­no­misch Sinn­vollen stets aufs Neue abzu­wägen‘ nicht gerade schon verloren?
Das ist stets eine Art Grat­wan­derung, denn die poli­ti­schen Zwecke und Ziele und die öko­no­mische Ver­nunft sind ja nicht not­wendig deckungs­gleich. Solange die poli­ti­schen Vor­haben und die zu ihrer Rea­li­sierung ergrif­fenen Maß­nahmen zurück­haltend sind und die staat­lichen Vor­gaben, Ein­griffe und vor allem Besteuerung/Schuldenwirtschaft/Geldpolitik maßvoll bleiben, ist gegen ent­spre­chendes staat­liches Handeln wenig ein­zu­wenden, ja die insti­tu­tio­nelle Sta­bi­li­sierung der kapi­ta­lis­ti­schen Mecha­nismen benötigt einen insofern klugen Staat. Pro­ble­ma­tisch wird es erst, wenn poli­tische Mehr­heiten sich roman­tische Ziele setzen (etwa Gleichheit, gutes Wetter, Gesell­schafts­quo­tierung nach poli­ti­schen Kri­terien, dau­er­haftes öko­no­mi­sches Gleich­ge­wicht etc.), die spontan nicht ent­stehen, sondern mit erheb­lichem Aufwand durch­ge­setzt werden müssen. Dieser Aufwand, der ent­weder in einer Kor­rektur der vor­han­denen Koor­di­na­ti­ons­me­cha­nismen des Han­delns (also Ersetzung indi­vi­du­eller Hand­lungs­freiheit durch staat­liche Planung, von preis­bil­denden Märkten durch staat­liche Zuteilung, von eigen­tums­kon­sti­tu­ierter Lokal­ra­tio­na­lität durch kol­lektive Zwangs­vor­gaben) oder in deren Per­ver­tierung durch extreme finan­zielle Ein­griffe (pro­hi­bitiv teure Ener­gie­wende, staat­liche Schul­den­wirt­schaft, Garantie einer nicht funk­ti­ons­fä­higen Wäh­rungs­union, sozi­al­po­li­tische Ali­men­tierung inef­fi­zi­enter Fak­to­ral­lo­kation etc.) besteht, zer­stört die kapi­ta­lis­tische Ordnung und ihre Effi­zienz ent­weder direkt (etwa rus­sische Revo­lution 1917/18) oder schlei­chend, wie wir das spä­testens seit der großen Finanz­krise von 2007/8 beob­achten können. Die Anlässe für diesen Verlust an Prag­matik und das Abrut­schen in roman­tische Vor­stel­lungen sind dabei nicht einmal falsch gesehen; auf die Finanz­krise musste ebenso reagiert werden wie etwa auf die Pro­bleme der Eurozone oder die über­bor­dende öffent­liche und private Schul­den­wirt­schaft. Aus­schlag­gebend für das Ver­blassen maß­voller Über­le­gungen ist das um sich grei­fende roman­tische Milieu, das sich einer­seits durch einen naiven Manich­äismus aus­zeichnet („an den Pro­blemen des Woh­nungs­marktes sind die bösen Ver­mieter schuld“), ande­rer­seits auf überaus ein­fache, ja naive Lösungen setzt („Mie­ten­deckel und Ver­staat­li­chung lösen die Pro­bleme auf dem Woh­nungs­markt“). Diese Kom­bi­nation von ein­fachen Erklä­rungen und naiven Hoff­nungen hat es immer gegeben; nur ist heute diese Sicht der Dinge nicht mehr eine peri­phere Position; sie ist in vie­lerlei Hin­sicht in das Zentrum poli­ti­scher Vor­stel­lungen getreten. Da die kapi­ta­lis­tische Ordnung, wie gesagt, von der Garantie ihrer Funk­ti­ons­be­din­gungen durch poli­tisch bin­dende Ent­schei­dungen abhängt, zeichnet sich hier eine Unwucht ab, ja ist bereits ein­ge­treten, die zumindest wirt­schaftlich nicht sehr viel Gutes erwarten lässt. Wie Hayek bereits in den drei­ßiger Jahren in der Wirt­schafts­rech­nungs­de­batte betonte, ist eine der­artige Politik nicht unmöglich, ihr Preis ist aller­dings sehr hoch. Es scheint, als sei ein Teil unserer Gesell­schaft bereit, das aus Nai­vität oder Über­zeugung trotzdem einmal aus­pro­bieren zu wollen.
Vielen Dank, Herr Pro­fessor Plumpe.

Quelle: misesde.org