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Zuruf aus der Schweiz: „Nur die aller­dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber“

Bei uns in der Schweiz stehen wieder einmal nationale Par­la­ments­wahlen an. Da kommt mir jeweils dieser schöne, rhyth­misch und auch sonst so stimmige Vers von den Kälbern in den Sinn, die dumm genug sind, ihre eigenen Metzger zu wählen. Man schreibt den Vers oft Bertolt Brecht zu, was aber nicht stimmt. 
(von Prof. Dr. iur. David Dürr)
Bloss andeu­tungs­weise kommt Brecht in einem anderen Gedicht auf die zum Schlacht­hof trot­tenden Kälber zu sprechen. Der Vers scheint älter zu sein als Brecht. Eine frühe Fund­stelle fin­det sich offenbar in der Schweiz, als im Jahr 1874 bei der Volkswahl der Zürcher Steu­er­kom­mission ein anonymer Wähler diesen Vers auf seinen Stimm­zettel schrieb, was man alsbald amü­siert in den Zei­tungen berichtete. Das war die Zeit, als man in der Schweiz über solche Dinge noch lachen konnte, als die Steuern – obwohl auch damals schon purer Dieb­stahl – noch nicht so hoch und so allgegen­wärtig waren wie heute, wo es noch keinen glä­sernen Bürger gab wie heute, wo Steu­er­hin­ter­ziehung noch ein Kava­liers­delikt war. Das ist schon ziemlich lange her.

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Dem Ver­nehmen nach soll der Vers von den dummen Kälbern, die ihre Metzger selber wählen, ge­gen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts immer mal wieder zitiert worden sein, und zwar – wie ich kürzlich gelesen habe – vor­nehmlich von Sozi­al­de­mo­kraten, die in jener Zeit hoff­nungslos in der Min­derheit waren. Wegen des damals auf natio­naler Ebene gel­tenden Majorz­systems hatten sie keine Chance, im Par­lament geschweige denn in der Regierung ver­treten zu sein. Dort sas­sen vor allem die soge­nannt Libe­ralen (die Vor­läufer der heu­tigen FDP) fest im Sattel und hielten die Sozi­al­de­mo­kraten (die Vor­läufer der heu­tigen SP) erfolg­reich auf Distanz. Diesen blieb damals nichts an­deres übrig, als die Wahlen als Farce bloss­zu­stellen, wofür sich der lustige Vers von den Käl­bern und den Metzgern natürlich eignete.
100 Jahre Proporz
Als im Jahr 1919 nach schweren sozialen Unruhen das Pro­porz­wahl­system ein­ge­führt wurde, hatten die Sozi­al­de­mo­kraten endlich die Chance, ins Bun­des­par­lament ein­zu­ziehen und gut 20 Jahre später sogar in die Lan­des­re­gierung. Heute, ein Jahr­hundert später, wird das in der offi­zi­ellen Schweiz als demo­kra­tische Errun­gen­schaft gefeiert. Man freut sich offen­sichtlich darüber, dass es den Sozialde­mokraten vor 100 Jahren gelungen ist, von Kälbern zu Metzgern zu mutieren. Es steht zu ver­muten, dass sie seither den lus­tigen Vers von den dummen Kälbern nicht mehr so lustig finden.
Auch die dritte his­to­risch wichtige poli­ti­schen Kraft, die soge­nannten Katho­lisch-Kon­ser­va­tiven (die Vor­läufer der heu­tigen CVP), hatte zunächst eine typische Käl­ber­rolle. Es war dies nach dem soge­nannten Son­der­bunds­krieg von 1847, bei dem die sieg­reichen pro­tes­tan­tisch-libe­ralen Kantone die unter­le­genen katho­lisch-kon­ser­va­tiven Kantone in einer völ­ker­rechts­wid­rigen Mehr­heits­ab­stimmung in den neu gegrün­deten Bun­destaat namens «Schwei­ze­rische Eid­ge­nos­sen­schaft» zwangen. Völker­rechtswidrig war es deshalb, weil von Rechts wegen Ein­stim­migkeit not­wendig gewesen wäre. Mit der gleichen rechts­wid­rigen Mehrheit wurde auch gleich das erwähnte Majorz­system ein­ge­führt, das dafür sorgte, dass die Refor­miert-Libe­ralen die Metzer- und die Katho­­lisch-Kon­ser­va­tiven die Kälber­rollen bekamen. Immerhin gelang es den Katho­liken bereits im 19. Jahr­hundert, in die Landesregie­rung, sprich zu den Metzgern zu wechseln. Ver­mutlich ist das auch der Grund dafür, dass der Vers von den Kälbern und den Metzgern nie zum tra­di­tio­nellen Reper­toire der Katho­liken gehörte.
Seither und noch heute sitzen die drei genannten Par­teien FDP, CVP und SP in der schwei­ze­ri­schen Lan­des­re­gierung. Im 20. Jahr­hundert hat sich zu ihnen noch die anfänglich bloss kan­tonal prä­sente Bauern- und Gewer­be­partei gesellt, die sich inzwi­schen zur national gewich­tigen Schwei­ze­ri­schen Volks­partei (SVP) ent­wi­ckelt hat. Diese vier Kräfte also stellen seit Jahr­zehnten das Kernteam der Metzger, die zu wäh­len die schwei­ze­ri­schen Kälber nun wieder auf­ge­rufen sind.
Dummheit ist erlaubt
Doch wo genau liegt denn nun das Problem? Wenn unser lus­tiger Vers von dummen Kälbern spricht, die ihre Metzger wählen, so heisst dies nicht zwingend, dass diese Wahl ille­gitim wäre. Denn ange­nom­men, die Kälber wählen ihre Metzger aus freiem Willen, so mag dies zwar dumm sein, aber Dumm­heit ist erlaubt. Solange man selbst die Kon­se­quenzen daraus zu spüren kommt, kann Dumm­heit so­gar nützlich sein. Aus Fehlern wird man bekanntlich klug. Und wahre Freiheit beinhaltet stets auch die Freiheit, Dumm­heiten zu begehen.
Das Problem ist nun aber, dass die Kon­se­quenzen der Dummheit, die eigenen Metzger zu wählen, nicht nur die wäh­lenden Kälber, sondern die ganze Bevöl­kerung zu spüren bekommt, also auch dieje­nigen, die nicht so dumm sind, wählen zu gehen, ebenso wie die­je­nigen, die gar nicht wählen dürfen. Letztere machen immerhin rund ein Drittel der Bevöl­kerung aus (Aus­länder und Min­der­jährige). Von den Wahl­be­rech­tigten wie­derum macht im Durch­schnitt weniger als die Hälfte von ihrem «Recht» Gebrauch, die eigenen Metzger zu wählen, also knapp ein Drittel der Gesamt­be­völ­kerung. Von die­sen rund 30% wie­derum haben bloss zwei Drittel das Glück, dass es die von ihnen gewählten Partei­listen bis ins Par­lament schaffen, und aus den Listen wie­derum knappe 40% der na­mentlich ausge­wählten Per­sonen. Wirklich gewählt werden die amtie­renden Metzger demnach von weniger als 10% der lan­desweit sich tum­melnden Kälber, je nach Zähl­weise auch noch von denjeni­gen, die so dumm waren, an der Wahl teil­zu­nehmen, ihre Kan­di­daten aber nicht durch­brachten, wo­mit man auf rund 30% der Gesamt­herde käme. Dass diese 10% oder bes­ten­falls 30% nun ihren Metz­gern aus­ge­liefert sind, mag zwar dumm sein, aber ille­gitim ist es letztlich nicht. Denn sie haben es ja gewollt.
Das Problem ist aber das Schicksal der anderen 70% oder je nach Zähl­weise gar 90%, welche die Metzger nicht gewählt haben, ihnen aber trotzdem aus­ge­liefert sind. Die nun anste­henden Neuwah­len sind leider nicht geeignet, daran etwas zu ändern.
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Prof. Dr. iur. David Dürr lehrt Pri­vat­recht und Rechts­theorie an der Uni­ver­sität Zürich und ist Wirt­schafts­anwalt und Notar in Basel. Stu­diert hat er an den Uni­ver­si­täten Basel und Genf sowie an der Harvard Law School. Er publi­ziert regel­mäßig zu den Themen Pri­vat­recht, Rechts­theorie und Metho­den­lehre. Nebst zahl­reichen Sach­bü­chern und Artikeln ver­öf­fent­lichte er unter anderem auch die Polit­satire „Staats-Oper Schweiz – wenige Stars, viele Staa­tisten” (2011) sowie eine Auswahl seiner regel­mä­ßigen anar­chis­ti­schen Kolumnen bei der Basler Zeitung unter dem Titel „Das Wort zum Freitag” (2014). David Dürr ist Mit­glied des wis­sen­schaft­lichen Bei­rates des „Ludwig von Mises Institut Deutschland”.

Quelle: misesde.org