Auf der russischen Investoren-Konferenz „Russia is calling“ hat Präsident Putin sich bei der Podiumsdiskussion eineinhalb Stunden den Fragen der Teilnehmer gestellt. Besonders unerwartet war seine Antwort auf eine Frage nach einem Vergleich zwischen der Sowjetunion und der Europäischen Union. Auch seine Analyse über das aktuelle Verhältnis zwischen der EU und den USA lässt aufhorchen. Ich habe die Frage zu dem Thema und seine Antwort daher übersetzt.
Beginn der Übersetzung:
Frage: Vielen Dank, VTB Capital, vielen Dank, Herr Putin, für die Teilnahme an dieser Veranstaltung.
Ich sehe gewisse Parallelen zwischen der Sowjetunion und der modernen Europäischen Union. Wir sehen einen Zusammenprall unterschiedlicher Menschen, unterschiedlicher Kulturen und Sprachen, die unter einer einzigen Flagge, unter einem einzigen Banner, einer einheitlichen Währung mit Unterstützung einer Zentralregierung und mit der Unterstützung von Satellitenstaaten vereint sind, so ist es jetzt in Europäische Union. Sie alle sind durch eine gemeinsame Idee vereint.
Die Europäische Zentralbank scheint Geld aus dem Nichts zu erschaffen und zu versuchen, die Mitgliedsstaaten durch künstliche Maßnahmen zu vereinen, indem sie eine militärische Präsenz schafft, wie es auch in der Sowjetunion der Fall war. Und der Brexit erinnert in vielerlei Hinsicht an die Situation von 1988 in der Sowjetunion mit dem Aufstieg des Nationalismus in den baltischen Ländern, der schließlich zum Zerfall der Union führte.
Daher lautet meine konkrete Frage: Was ist Ihre Meinung zur Sowjetunion oder besser gesagt zur Europäischen Union?
Wladimir Putin: Was die Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion betrifft, so hat das wenig mit dem Aufstieg des Nationalismus in den baltischen Ländern zu tun. Der Grund dafür lag natürlich in der sehr ineffizienten Wirtschaftspolitik der Sowjetunion, die dann zum Zusammenbruch des Sozialsystems geführt und in der Folge den politischen Bereich erfasst hat.
Die Volksrepublik China hat es in meinen Augen übrigens geschafft, die Möglichkeiten einer zentralen Verwaltung der Wirtschaft und die Entwicklung der Marktwirtschaft optimal zu nutzen. Wir analysieren genau, was dort geschieht. Der Kollege aus China wird das wahrscheinlich bestätigen: Wenn es staatliche Ausschreibungen auf Landesebene bis runter zur regionalen Ebene gibt, gibt es einen Kampf um diese Verträge, um diese zentralen Ressourcen. Warum? Zwischen wem? Zwischen den Teilnehmern des Wirtschaftslebens, die unter Marktbedingungen arbeiten und das sehr effektiv tun.
Ich will jetzt nicht in die Details im Zusammenhang mit den gegenseitigen Anschuldigungen zwischen den USA und China über den Yuan-Wechselkurs und so weiter gehen, aber dies sind Werkzeuge, die effektiv verwendet werden. In der Sowjetunion wurde nichts dergleichen getan und die Ergebnisse einer ineffektiven Wirtschaftspolitik haben sich auch auf die politische Sphäre ausgewirkt. Die Ergebnisse der Zerfalls der Sowjetunion waren viel schlimmer als das, was die Leute erwartet hatten und was sie selbst in ihren schlimmsten Träumen befürchtet haben. Darüber will ich jetzt nicht sprechen, das ist nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Ort dafür.
Was die Europäische Union betrifft, so gibt es einige Parallelen, obwohl einige EU-Länder multinationale Länder sind. Aber ich habe es bereits gesagt, es sind nicht meine Zahlen, es sind die Zahlen meiner Kollegen aus einigen EU-Ländern: Die Anzahl der Themen, bei denen das Europäische Parlament verbindliche Entscheidungen für alle EU-Länder trifft, ist größer als die Anzahl der Themen, bei denen der Oberste Sowjet der Sowjetunion verbindliche Entscheidungen für die Sowjetrepubliken treffen konnte. Und in diesem Sinne kann man natürlich einige Parallelen erkennen, auch wenn es immer noch unterschiedliche Dinge sind. Die Sowjetunion war immerhin ein ziemlich starr zentralisierter Staat und die Europäische Union ist nicht so ein Gebilde.
Schon während des Ersten Weltkriegs wurde, wie Sie wissen, die Frage der Schaffung einer Union europäischer Staaten, vereinter europäischer Staaten, diskutiert. Aber das wurde dann nicht umgesetzt. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Montanunion und so weiter und so weiter. Und jetzt haben wir die EU.
Doch dann kamen plötzlich Streitpunkte auf. Sie entstanden aus ganz konkreten Dingen. Ich glaube nicht, dass die britischen Steuerzahler gerne Steuern zahlen, wenn sie wissen, dass ein erheblicher Teil ihres Geldes in die Taschen derer fließt, die wirtschaftlich noch nicht so weit entwickelt sind. Und wir sprechen von Dutzenden Milliarden. Es gibt noch andere Gründe. Die Beschlüsse des Europäischen Parlaments betreffen auf die eine oder andere Weise alle Mitglieder der Europäischen Union. Natürlich gefällt das nicht jedem.
Ich glaube nicht, dass ich das Recht habe, das zu bewerten, aber ich möchte darauf aufmerksam machen. Einige Länder Osteuropas werden bis 2028 ein Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht haben, dass sie keine Empfänger von Zuschüssen aus dem gesamteuropäischen Haushalt mehr sein werden, sondern zahlen müssen – so, wie es das Vereinigte Königreich bisher getan hat. Und ich bin mir nicht sicher, ob die dann nicht auf die gleichen Gedanken kommen werden, wie Großbritannien sie heute hat.
Damit die Europäischen Union erhalten bleibt… Daran sind wir übrigens sehr interessiert. Wir, Russland, wollen mit einem berechenbaren, verständlichen Partner arbeiten. Wir beobachten besorgt, was dort geschieht. Ein erheblicher Teil unserer Devisenreserven ist in Euro. Trotz des Rückgangs unseres Handels mit der EU nach der Einführung verschiedener Sanktionen – der Handel umfasst jetzt etwas weniger als 300 Milliarden Dollar, vorher waren es 450 Milliarden – aber immerhin wächst der Handel wieder, trotz alldem bleibt die Europäische Union unser größter Handels- und Wirtschaftspartner. Deshalb sind wir daran interessiert, alles zu erhalten, damit es weiterhin effektiv funktioniert. Aber wir analysieren natürlich, was dort geschieht und geschehen wird.
Zu Ihrer Frage, ab man die Europäische Union mit der Sowjetunion vergleichen kann: Ich denke, nein, das ist etwas anderes, aber einige Parallelen kann man möglicherweise erkennen. Ich weiß nicht, ob sie angesichts einiger Trends, über die ich eben gesprochen habe, die EU in ihrer jetzigen Form erhalten können, aber ich weiß, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs darüber Bescheid wissen und natürlich darüber nachdenken. Und sie haben verschiedene Szenarien, wie die Mitglieder konsolidiert werden können, wie nachhaltigere Formen der Integration erreicht werden können. Ob sie Erfolg haben werden oder nicht, weiß ich nicht. Ich wünsche ihnen jedenfalls Erfolg.
Es gibt noch einen sehr wichtigen Aspekt: die Sicherheit, das ist eine extrem wichtige Sache. Schließlich haben die Vereinigten Staaten bisher gesagt: „Wir sind Euer Schutz gegen die sowjetische Bedrohung, und für den Schutz müsst Ihr bezahlen.“ Heute funktioniert das nicht mehr so gut, trotz aller Probleme mit der Ukraine, der Krim und dem Donbass. Jeder versteht, dass Russland niemanden angreifen will. Verstehen Sie, wie viele Menschen es in der Europäischen Union gibt, wie viele Menschen in den NATO-Ländern, wie groß ihr wirtschaftliches und militärisches Potenzial ist?
Die russische Bedrohung ist einfach Unsinn, sie ist eine Erfindung derer, die von ihrer Rolle als Beschützer im Kampfes gegen Russland profitieren wollen, um Geld und Vorteile zu erhalten. Das alles ist ein zeitlich begrenztes Thema, das ist offensichtlich und für die Führer der führenden Länder Europas ist es absolut offensichtlich.
Daher werden die Vereinigten Staaten Schritte unternehmen müssen, um die Qualität ihrer Beziehungen zu den NATO-Verbündeten zu ändern. Es reicht jetzt nicht mehr, zu sagen: „Wir beschützen Euch, bezahlt dafür.“ Warum sollen sie zahlen, um die US-Rüstungsindustrie zu unterstützen und Arbeitsplätze in den USA zu erhalten? Sie werden ihre eigene Rüstungsindustrie entwickeln. Das ist es, worüber sie gerade sprechen. Deshalb müssen die Jungs hier vorsichtiger sein.
Ende der Übersetzung
Wenn Sie sich dafür interessieren, wie Russland auf die Fragen der internationalen Politik blickt, dann sollten Sie sich die Beschreibung meines Buches ansehen, in dem ich Putin direkt und ungekürzt in langen Zitaten zu Wort kommen lasse.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“