Der Brexit kommt — Zer­bricht Groß­bri­tannien daran?

Die Wahl in Groß­bri­tannien war ein Don­ner­schlag, der von Medien und Politik erstaunlich gelassen auf­ge­nommen wurde, wenn man die medialen Feu­er­werke der letzten Jahre wegen des Brexit in Erin­nerung hat.
Immerhin geht es ja nicht nur um den Aus­tritt Groß­bri­tan­niens aus der EU, es geht nun auch um die Einheit Groß­bri­tan­niens selbst. In Schottland will ein neues Refe­rendum über die Unab­hän­gigkeit durch­führen und auch die Situation in Nord­irland, wo die Men­schen eben­falls gegen die jetzt kom­mende Brexit-Regelung sind, ist unklar. Sogar über eine Ver­ei­nigung Nord­ir­lands mit Irland wird gesprochen.
Das rus­sische Fern­sehen hat die Ent­wick­lungen am Sonntag in der Sendung „Nach­richten der Woche“ ange­schaut und aus seiner Sicht zusam­men­ge­fasst und ich habe den Bericht übersetzt.
Beginn der Übersetzung:
Die Ergeb­nisse der vor­ge­zo­genen Par­la­ments­wahlen im Ver­ei­nigten König­reich haben viele ver­blüfft. Tat­sache ist, dass sowohl die massive Akti­vität auf den Strassen, als auch die Mehrheit der bri­ti­schen Medien gegen Boris Johnson und seine Kon­ser­vative Partei und damit gegen den Brexit waren. Aber Boris Johnson und die Kon­ser­va­tiven haben die Wahl trotzdem gewonnen, was bedeutet, dass der Brexit wirklich kommt. Eine wert­volle Erfahrung, wie sehr sich die laute Stimmung auf Ver­an­stal­tungen und in den Medien vom Willen der Men­schen unter­scheiden. Das ist tat­sächlich nicht das­selbe. Auf der einen Seite öffent­liche Kund­ge­bungen, und getrennt davon der Wille der Menschen.
Der amtie­rende Pre­mier­mi­nister Boris Johnson ris­kierte mit der vor­ge­zo­genen Wahl viel und gewann. Er gewann ver­nichtend. Man braucht min­destens 326 Sitzen im Unterhaus, um eine Regierung zu bilden, die Kon­ser­va­tiven haben nun bis zu 370. Nur Mar­garet Thatcher gewann für die Tories ähnlich über­zeugend, aber das war vor drei Jahrzehnten.
Die aktu­ellen Wahlen sind eigentlich ein zweites Refe­rendum über den Brexit, wie die Befür­worter eines Ver­bleibs Groß­bri­tan­niens in der EU betont haben. Das Ergebnis bedeutet nun, dass ein großes Stück von der EU abfällt.
Aber auch von Groß­bri­tannien könnten Stücke abfallen. Zumindest feiert man in Schottland einen Sieg. Die Scottish National Party gewann 12 Sitze hinzu und hat nun 48 Sitze. Die Schotten wollen den Brexit nicht und sie ziehen es mög­li­cher­weise vor, das Ver­ei­nigte König­reich zu ver­lassen, um in der EU zu bleiben. Das ist aber noch Zukunftsmusik.
Aus Groß­bri­tannien berichtet unser Korrespondent.
Fotos von Boris Johnson im Moment, als die Hoch­rech­nungen ver­kündet wurden, erschienen in bri­ti­schen Zei­tungen. Sie sagten den Kon­ser­va­tiven einen über­wäl­ti­genden Sieg voraus.
Die Umfra­ge­er­geb­nisse ent­sprachen sehr den tat­säch­lichen Ergeb­nissen. Johnsons Partei hat nun die absolute Mehrheit von 365 Abge­ord­neten im Par­lament. Der Abstand zur Oppo­sition beträgt 80 Sitze. Quellen, die Johnson nahe stehen, sagen, der Pre­mier­mi­nister habe sogar sein eigenes Ver­sprechen gebrochen, vor dem Brexit keinen Tropfen Alkohol anzurühren.
Etwas Ähn­liches pas­sierte ihm vor drei­einhalb Jahren, als Groß­bri­tannien in einem Refe­rendum für den Brexit abstimmte. Johnson führte damals de facto die Kam­pagne für den Aus­tritt aus der Euro­päi­schen Union an, zwei­felte aber, wie sich später her­aus­stellte, bis zuletzt an seinem Erfolg.
Auch diesmal setzte er alles auf eine Karte, auf vor­ge­zogene Wahlen. Der Pre­mier­mi­nister hat sich völlig den Inter­essen des Wahl­kampfes unter­ge­ordnet. Es gab keinen Tag, an dem er nicht in ver­schie­denen Teilen des Landes unterwegs war. Johnson ver­teilte Milch, hat Torten gebacken und for­derte, ihn bei der Abstimmung zu unterstützen.
„Er ist kein gewöhn­licher Poli­tiker und seine Fehler und Schwächen werden von vielen als Beweis für Authen­ti­zität wahr­ge­nommen. Ich sah mit Interesse ein Interview mit einer Frau im bri­ti­schen Fern­sehen, die gefragt wurde, ob sie Boris Johnson ver­traue. Sie lachte und sagte dann, sie glaube ihm nicht, aber sie mochte ihn. Ich denke, es gibt eine Erklärung dafür, warum Johnson mit Dingen davon­kommt, die sich andere Poli­tiker nicht leisten können, nicht nur in Groß­bri­tannien, sondern auch in anderen Teilen der Welt“, sagte Tony Travers, Pro­fessor an der London School of Economics.
Das Ver­sprechen des Brexit war sein Köder. Viele Ana­lysten waren ver­blüfft über die Bilder von Mas­sen­de­mons­tra­tionen im Zentrum Londons, wo zu Pro­testen gegen einen Aus­tritt aus der EU manchmal bis zu einer Million Men­schen kamen. Aber sie spie­gelten nicht das wirk­liche Bild dessen wider, was im Land geschieht. Oppo­si­ti­ons­führer Jeremy Corbyn, der ein zweites Refe­rendum über den Aus­tritt aus der Euro­päi­schen Union gefordert hat, hat das nicht verstanden.
„Herr Corbyn hat einen unglaub­lichen, kolos­salen stra­te­gi­schen Fehler begangen. Er hat sich vom Brexit abge­wandt. Es war nicht nur poli­ti­scher Selbstmord, es war eine Idiotie von höchstem Ausmaß, die ich in der bri­ti­schen Politik noch nie erlebt habe“, sagte der Poli­tologe Marcus Papadopoulos.
Ein solcher Gegner war ein echtes Geschenk für Johnson. Corbyn hat seine tra­di­tio­nellen Anhänger in Mittel- und Nord­england verloren.
Bei dieser Wahl gewann Johnsons Partei sogar an Orten, an denen die Kon­ser­va­tiven immer gegen Labour ver­loren hatten. Zum Bei­spiel in der Stadt Peter­bo­rough. Beim Refe­rendum 2016 stimmte die Mehrheit hier für den Brexit und dieses Mal stimmten sie für den, der ver­sprochen hatte, ihn umzusetzen.
Corbyn halfen nicht einmal groß­zügige soziale Ver­spre­chungen, die Frage der Situation mit der EU war den Men­schen wichtiger.
Die bri­tische Wahl wurde in den Ver­ei­nigten Staaten auf­merksam ver­folgt. Roger Cohen, Kolumnist der New York Times, nannte seinen Artikel „Boris Johnson und Trumps Sieg im Jahr 2020“. Er ist der Ansicht, dass die ame­ri­ka­ni­schen Demo­kraten die not­wen­digen Lehren für sich selbst ziehen sollten.
„Labours offen­sicht­liche Ablehnung ihrer sozia­lis­ti­schen Idee einer all­ge­gen­wär­tigen Regierung scheint eine ominöse Warnung an die Demo­kraten zu sein, die glauben, sie können sich nach links bewegen und so gewinnen. Die bri­tische Arbei­ter­klasse inter­es­siert sich nicht für die Ver­staat­li­chung von Eisen­bahnen, Elek­tri­zitäts- und Was­ser­ver­sorgung, wenn sie die gesichts­losen Büro­kraten in Brüssel treffen kann. So sinnlos dieser unsterb­liche Satz auch klingen mag: „Nimm die Kon­trolle über Dein Land zurück“. Das ist die ganze neue Welt. Um zu gewinnen, müssen Liberale die Emo­tionen der Men­schen ansprechen und sich nicht mit Moral beschäf­tigen. Sie müssen auf­hören, Erb­sen­zähler zu sein. Sie müssen sich selbst ändern und den Kontakt zu Men­schen finden. Das ist nicht einfach“, heißt es in dem Artikel.
Am Tag nach seinem Sieg reiste Johnson in den Nord­osten Eng­lands, in die Wahl­kreise, die die Kon­ser­va­tiven Labour abge­nommen hatten. Er hofft, diesen Erfolg zu fes­tigen. Die Regierung beab­sichtigt, 78 Mil­li­arden Pfund für den Ausbau der Infra­struktur in Nord­england bereit­zu­stellen und bis 2023 wird sie die Mittel für das bri­tische Gesund­heits­system um 34 Mil­li­arden erhöhen.
Dem­nächst wird das Pro­gramm der neuen Regierung von Königin Elizabeth II. bekannt gegeben. Im nächsten Jahr plant Johnson, das Kabinett ernsthaft umzu­struk­tu­rieren, indem er das Brexit-Minis­terium abschafft und eine Reihe von Minis­terien zusam­menlegt, um sich auf die Ent­wicklung neuer Han­dels­be­zie­hungen nach dem Aus­tritt aus der Euro­päi­schen Union zu konzentrieren.
„Wir werden unser herr­liches Ver­ei­nigtes König­reich – England, Schottland, Wales, Nord­irland – zusam­men­bringen und auf­richten, um gemeinsam vor­an­zu­kommen, das Potenzial des ganzen Landes zu ent­decken und eine Gele­genheit zur Ent­wicklung unserer Nation zu bieten. Nach fünf Wochen Wahl­kampf habe ich gemerkt, dass das Land eine Pause von Debatte und Politik ver­dient und es an der Zeit ist, das Gerede über den Brexit zu beenden“, sagte Johnson.
Viel wird vom Ergebnis der Ver­hand­lungen über ein neues Han­dels­ab­kommen mit der Euro­päi­schen Union abhängen. Michel Barnier, der Chef­un­ter­händler aus Brüssel, hat die Frist bis Ende 2020 bereits als unrea­lis­tisch bezeichnet. Das bedeutet, dass sich die Zeit der Unsi­cherheit für das Ver­ei­nigte König­reich hin­ziehen und negative Folgen für die Wirt­schaft des Landes drohen könnten.
Aber auf jeden Fall hat Johnsons Sieg den Brexit aus einer Sack­gasse befreit und wird viele Ver­än­de­rungen her­bei­führen. Der Aus­tritt des Ver­ei­nigten König­reichs wird unwei­gerlich die Dynamik in der Euro­päi­schen Union beein­flussen. Die Bal­kan­länder Serbien, Mon­te­negro, Nord­ma­ze­donien und Albanien, die den Status von EU-Bei­tritts­kan­di­daten haben, können nicht mehr auf die Unter­stützung Londons zählen. Die Briten selbst haben eine Reihe akuter ter­ri­to­rialer Probleme.
Schottland fordert ein zweites Unab­hän­gig­keits­re­fe­rendum. Die Scottish National Party gewann bei dieser Wahl 48 Sitze im bri­ti­schen Par­lament, ein Rekord. Schottland hat gegen den Brexit gestimmt und die Vor­sit­zende Nicola Sturgeon hat bereits in einem Tele­fonat mit Johnson gesagt, dass die Ergeb­nisse der Wahlen die Not­wen­digkeit einer wei­teren Volks­ab­stimmung zeigen.
„Ich habe ihm klar gemacht, dass ich das Mandat habe, den Men­schen eine Wahl zu ermög­lichen. Er bekräf­tigte seine Position, dass er dagegen sei. Aber schauen wir uns die Rea­lität an. Diese Wahl bedeutet für Schottland einen klaren Wen­de­punkt. Es ist klar, dass Schottland eine andere Zukunft will. Nicht das, was der Rest des Ver­ei­nigten König­reichs gewählt hat. Und Schottland will das Recht, seine Zukunft selbst zu bestimmen“, sagte Sturgeon.
Die Situation in Nord­irland, das eben­falls gegen den Brexit gestimmt hat, ist noch kom­pli­zierter. Selbst seine Anhänger unter­stützen die jet­zigen Bedin­gungen für den Aus­tritt aus der Euro­päi­schen Union nicht, denen Johnson zuge­stimmt hat. Die soge­nannten Loya­listen – Befür­worter der Auf­recht­erhaltung der Union mit dem Ver­ei­nigten König­reich – fürchten, dass Zoll­schranken sie vom Rest des Landes abschneiden werden. Darüber hinaus ver­än­derten die Wahlen die Macht­ver­hält­nisse in der Region und schwächten die Position der wich­tigsten Ver­bün­deten Londons, der Demo­cratic Unionist Party.
„In Nord­irland ver­loren demo­kra­tische Unio­nisten zwei von zehn Sitzen. Es gibt heute weniger von ihnen im bri­ti­schen Par­lament als Natio­na­listen und Repu­bli­kaner. Sinn Fein glaubt, dass der Brexit die Ver­ei­nigung Irlands ermög­lichen wird, wenn der Norden im nächsten Jahr gegen seinen Willen aus der EU ent­fernt wird. Jetzt geht Johnsons Deal mit der EU über den Brexit fast garan­tiert durch das Unterhaus, die kom­menden Jahre werden für die Provinz große Ver­än­de­rungen bringen – Gerüchte über ein Refe­rendum über die irische Einheit wachsen“, schreiben die Medien.
Durch seinem über­zeu­genden Sieg und den garan­tierten Brexit läuft Johnson Gefahr, die Einheit des Landes zu ver­lieren. Und es ist nicht bekannt, wie das König­reich bei den nächsten Wahlen aus­sehen wird, die in fünf Jahren statt­finden werden, wenn nichts Außer­ge­wöhn­liches dazwi­schen kommt.
Ende der Übersetzung


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“