Ver­schwindet die Wirk­lichkeit in uns, dann ver­schwinden wir mit der Zeit aus ihr

Warum sehnen sich so viele Men­schen nach völ­ligem Rea­li­täts­verlust? Darauf gibt es zwei Ant­worten, eine auf der Hand lie­gende und eine tiefer gehende. Schaut man man offen und ehrlich überall genau hin, ent­deckt man viel Unschönes und Des­il­lu­sio­nie­rendes. Das ver­kraften viele Seelen einfach nicht. Also ent­werfen sie für sich ein Bild von der Welt, wie sie schöner, tröst­licher und erträg­licher wäre, und igno­rieren einfach, was diesem Bild wider­spricht. Doch es kommt noch etwas wei­teres hinzu, was mit Macht und Unter­werfung zu tun hat.

Die Rea­lität und die Logik rauben uns Freiheit

Sich aus­malen, wie die Welt ist, ist natürlich auch eine Form von Herr­schaft und Macht. Man macht sich sein Weltbild selbst und lässt es sich nicht von der Welt vor­schreiben. Insofern könnte man sagen, die Neuen Linken gehen den Weg der Eman­zi­pation einfach kon­se­quent weiter: Sie eman­zi­pieren sich auch von der Wirk­lichkeit und den Gesetzen des rich­tigen Denkens, der Logik, die ja beide in gewisser Weise einen Zwang über uns ausüben. Denn diese schreiben uns vor, wie wir die Welt zu sehen haben, wenn wir sie richtig sehen wollen. Damit rauben uns die Rea­lität und die Logik ein Stück weit unsere Freiheit.

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Es bleibt natürlich die Phan­tasie. Dafür gibt es Geschichten, Erzäh­lungen, Sagen, Märchen, Romane, Filme, PC-Spiele, die Welt der Kunst und Poesie und der­gleichen mehr. So können wir eine zweite, eine lite­ra­rische, eine von uns geschaffene Welt erzeugen, in welche wir immer wieder flüchten können, die uns quasi eine Zufluchts­stätte vor der rauhen Wirk­lichkeit und ihren uner­bitt­lichen Natur­ge­setzen bietet. Auch der Konsum von Drogen wäre hier zu nennen und die meta­phy­sisch spe­ku­la­tiven Welt­bilder (Reli­gionen), welche den Men­schen ein Jen­seits (Tran­szendenz) und ein zweites, ewiges Leben in dieser ver­sprechen, so dass sie das erste Leben besser aus­halten können.

Doch ist den­je­nigen, die in diese von uns erschaffene fiktive Welt flüchten und auch den Dro­gen­kon­su­menten anders als den meta­phy­si­schen Spe­ku­lanten meist bewusst, dass sie sich dann eben nicht mehr in der Rea­lität bewegen, sondern eben in einer fik­tiven Welt, während die spe­ku­la­tiven Meta­phy­siker ihre Fik­tionen quasi über die Rea­lität dar­über­legen und zur wahren Wirk­lichkeit erklären. Sie pos­tu­lieren mithin ihre Fik­tionen, die von Spe­kulant zu Spe­kulant unter­schiedlich und alle ein­ander wider­spre­chend, oft sogar schon in sich wider­sprüchlich, zur Realität.

Um das Auf­decken der Wider­sprüche zu unter­binden wird ihre als Wahrheit pos­tu­lierte jeweilige Fiktion dann dog­ma­ti­siert, um ihr ideo­lo­gi­sches Bild der Welt gegen Kritik zu immu­ni­sieren, was freilich nie ganz gelingt. Dies macht sie im höchsten Grade gewalt­affin, weil sie sich ja ihre Kri­tiker, ihre Luft­bla­sen­zer­störer, die ihre „Hei­lig­tümer“ hin­ter­fragen, vom Leib halten müssen.

Neue Linke ver­suchen, sich von der Wirk­lichkeit und der Logik, mithin vom fol­ge­rich­tigen Denken zu emanzipieren

Zugleich besteht in den meisten von uns ein tiefer Wunsch, ja das Bedürfnis, dass die wahre Welt, also nicht die fiktive, sondern die Wirk­lichkeit doch anders sein möge – schöner, besser, weniger brutal und grausam, gerechter als sie es ist. Natürlich kann jeder daran arbeiten, dass sie ein klein wenig besser wird. Das ist durchaus auch sinnvoll und gut. Gleichwohl merken wir meist, wie wenig wir dabei doch erreichen. Also werden wir emp­fänglich für solche, die uns erzählen, dass die Welt und der Mensch viel besser wären, als sie es tat­sächlich sind. Solchen hören wir gerne zu, weil uns das Trost spendet, Hoffnung und Sinn ver­mittelt. Wir möchten uns mithin von der Wirk­lichkeit ein Stück weit befreien.

Genau diese Weg beschreiten Neue Linke, die sich deutlich von den ganz alten Linken unter­scheiden – nach Wahrheit und Freiheit stre­bende Auf­klärer, welche die Men­schen von fal­schen Erzäh­lungen, die als Wahr­heiten aus­ge­geben werden, und Unter­drü­ckung durch andere befreien wollten -, aber auch von den mitt­leren Linken unter­scheiden – Sozia­listen, welche vor allem am Gleich­heits­ideal ori­en­tiert sind, welches sie mehr und mehr zur Gleichheit nicht in den Rechten, sondern Gleichheit im Ergebnis trans­for­mierten (Gleich­ma­cherei).

Neue Linke streben auch nach Freiheit, aber doch ganz anders als die ganz alten auf­klä­re­ri­schen Linken. Wollten diese die Men­schen vor allem von Unter­drü­ckung und Indok­tri­nierung befreien, so wollen jene nun sich gleichsam von allem befreien, nicht nur von Fremd­herr­schaft und Unter­drü­ckung, sondern auch von der Rea­lität und der Logik, dem fol­ge­rich­tigen Denken, was natürlich unwei­gerlich in den Untergang führen wird, weil man sich nicht dau­erhaft von der Wirk­lichkeit eman­zi­pieren kann, da man ja in dieser lebt, ihr mithin unter­worfen ist und sie nicht ein reines von allem los­ge­löstes Kon­strukt in einem selbst darstellt.

Ver­schwindet die Wirk­lichkeit in uns, dann ver­schwinden wir mit der Zeit aus ihr

Die Wirk­lichkeit – nicht unser Bild von ihr, sondern sie selbst – ist mithin letztlich immer stärker, da wir ja Teil von ihr, da wir in ihr sind und nicht sie in uns, wie ein Bild, das wir nach Belieben malen können. Wenn wir uns also nicht der Wirk­lichkeit unter­werfen, sie zunächst einmal in ihrem So-sein aner­kennen – was nicht heißt, dass wir sie nicht ein Stück weit ver­ändern könnten, doch auch diese Ver­än­derung muss sich innerhalb der Natur­ge­setz­lichkeit, mithin innerhalb der vor­ge­ge­benen Wirk­lichkeit bewegen -, wenn wir das nicht aner­kennen, dann weicht unser Weltbild in essen­ti­ellen Punkten zu sehr von der Welt selbst ab. Dies aber führt unwei­gerlich dazu, dass wir uns in ihr irgendwann nicht mehr zurecht­finden und mit der Zeit aus ihr ver­schwinden werden.

Auf das Ver­schwinden der Wirk­lichkeit in uns (völlig unrea­lis­ti­sches Weltbild) folgt dann gleichsam unser Ver­schwinden in ihr. Auf unsere Befreiung von der Logik und der Rea­lität folgt, dass die Welt sich von solch wirk­lich­keits­ne­gie­renden Wesen befreien wird.


Jürgen Fritz — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog des Autors www.juergenfritz.com