Was sind die Gründe für den Eklat wegen Putins Äuße­rungen über den Zweiten Weltkrieg?

Polen hat den rus­si­schen Bot­schafter ein­be­rufen, weil Putin den pol­ni­schen Bot­schafter der 1930er Jahre in Deutschland, Jozef Lipski, ein „anti­se­mi­ti­sches Schwein“ genannt hat. Was sind die Hintergründe?

Ich habe immer mal wieder auf­ge­zeigt, dass die Geschichts­schreibung in Russland ganz anders auf die Vor­ge­schichte des Zweiten Welt­krieges blickt, als wir es aus Deutschland kennen. Und da derzeit im Westen Ver­suche gemacht werden, die Kriegs­schuld nicht nur bei Deutschland zu suchen, sondern auch bei der Sowjet­union, die in dem Krieg so viele Men­schen ver­loren hat, wie alle anderen Kriegs­teil­nehmer zusammen, stößt das in Russland auf sehr deut­liche Reaktionen.

Zuletzt hat Putin selbst mit­ge­teilt, sich die Akten aus den Archiven bestellt zu haben, um sich mit dem Ori­gi­nal­do­ku­menten ein eigenes Bild zu machen. Die Ergeb­nisse hat er prä­sen­tiert und er hat ange­kündigt, selbst einen Artikel über das Thema schreiben zu wollen. Ich habe darüber vor einigen Tagen bereits berichtet.

Ich mache mir hier aus­drücklich keine Sicht zu eigen, mein Fach­gebiet ist die aktuelle Politik, nicht die Geschichte. Aber ich habe zumindest die Behaup­tungen, die in Russland auf­ge­stellt werden, über­prüft, soweit mir das möglich war. Und wenn Russland zum Bei­spiel Polen vor­wirft, dass es sich an der Zer­schlagung der Tsche­cho­slo­wakei beteiligt und zusammen mit Deutschland Teile des Landes annek­tiert hat, dann stellt sich das als wahr heraus. Nur steht das nicht in deut­schen Geschichts­bü­chern, aber wer zum Bei­spiel über die Geschichte des Teschener Gebietes recher­chiert, der findet heraus, dass es tat­sächlich so war.

Meine Aufgabe ist es als Jour­nalist, der sich für die Wahrheit inter­es­siert, auch darüber zu berichten, wie Russland auf die Vor­ge­schichte des Zweiten Welt­krieges blickt, wenn dieses Thema Teil der aktu­ellen Tages­po­litik wird. Und das ist geschehen, denn die Ver­suche des Westens, die Geschichte des Zweiten Welt­krieges umzu­schreiben, haben in Russland dazu geführt, dass das Thema auf der aktu­ellen Tages­ordnung gelandet ist. Und nun hat auch der Spiegel darüber berichtet, dass Polen den rus­si­schen Bot­schafter ein­be­rufen hat.

Die deut­schen Medien können mit dem Thema bisher nicht viel anfangen und ent­spre­chend kurz war der Artikel im Spiegel. Aber da ich vermute, dass wir davon dem­nächst noch mehr hören werden, will ich zum bes­seren Ver­ständnis die rus­sische Sicht wie­der­geben, die deutsche ist ja all­gemein bekannt. Ich mache mir die rus­sische Sicht wie gesagt nicht zu eigen, sondern über­setze dazu heute zwei Berichte aus der Sendung „Nach­richten der Woche“, die am Sonntag im rus­si­schen Fern­sehen aus­ge­strahlt wurden. Auf einen Kom­mentar des Mode­rators folgte noch eine Reportage aus Polen, die Sie beide hier in einem Stück lesen können.

Beginn der Übersetzung:

Vor dem 75. Jah­res­tages des Sieges über den Faschismus müssen wir alle zumindest ein bisschen His­to­riker werden, damit niemand uns oder unsere Kinder durch den bös­wil­ligen Unsinn über die Gründe für den Beginn des Zweiten Welt­kriegs und die Bei­träge ver­schie­dener Staaten und Völker zum Sieg täu­schen kann.

Prä­sident Putin begann bei sich selbst und stu­dierte his­to­rische Doku­mente, um noch einmal die Details zu ver­stehen und Akzente zu setzen. In letzter Zeit hat sich das Staats­ober­haupt zweimal mit dem Thema befasst, zuerst auf der Großen Pres­se­kon­ferenz und dann bei einem infor­mellen Treffen der GUS-Staats- und Regie­rungs­chefs in St. Petersburg. Auch bei der Sitzung des Ver­tei­di­gungs­aus­schusses und – mit vielen Details – bei einem Treffen mit der Führung der Kammern der Föde­ral­ver­sammlung sprach er über die Vorkriegszeit.

Seine Aus­sagen fanden eine große Resonanz, es ging so weit, dass der rus­sische Bot­schafter in War­schau ins pol­nische Außen­mi­nis­terium geladen wurde, um den pol­ni­schen Unmut zum Aus­druck zu bringen. Warum regt sich in erster Linie Polen auf? Weil Putin Polens Rolle bei der Zusam­men­arbeit mit Hitler einen Großteil seiner his­to­ri­schen Aus­füh­rungen gewidmet hat.

Warum Polen? Weil es heute Polen ist, das aktiver als andere die These ver­tritt, die UdSSR und Hitler-Deutschland seien glei­cher­maßen für die Ent­fes­selung des Zweiten Welt­kriegs ver­ant­wortlich. In einer kürz­lichen Ent­schließung des Euro­päi­schen Par­la­ments wurde das zu einer fast hei­lig­ge­spro­chenen Position der Euro­päi­schen Union. Putin ent­schied, dass es so nicht geht. Russland hat ein rie­siges Archiv aus Tro­phä­en­do­ku­menten, Bot­schaf­ter­be­richten, Auf­zeich­nungen von Gesprächen und Augen­zeu­gen­be­richten aus dem Zweiten Welt­krieg, mit dem Putin zwei wesent­liche Punkte belegt hat.

Erstens: Polen bildete vor dem Krieges tat­sächlich ein mili­tä­ri­sches Bündnis mit Hitler-Deutschland und agierte koor­di­niert mit Deutschland, als es darum ging, Teile fremder Staaten zu erobern.

Zweitens: Der Anti­se­mi­tismus war in Polen vor dem Zweiten Welt­krieg zu einer Staats­ideo­logie geworden, die in der Gesell­schaft weit ver­breitet war. Ideell war die damalige pol­nische Führung Hitler sehr nahe.

Daraus folgt, dass, wenn man jemandem die gleiche Ver­ant­wortung für die Ent­fes­selung des Zweiten Welt­kriegs in Europa geben möchte, das zweite Land nach Deutschland Polen und nicht die UdSSR ist. Schließlich war es Polen, das Deutschland 1938 die sichere Zer­stü­ckelung der Tsche­cho­slo­wakei garan­tierte und sich sogar an diesem Raubzug betei­ligte, indem es zuerst das schle­sische Teschen besetzte, das waren 800 Qua­drat­ki­lo­meter Ter­ri­torium, was die Schwer­industrie Polens ver­doppelt hat und später nahm Polen sich auch Orawa und Spisch, Gebiete der Nordslowakei.

Geblendet von räu­be­ri­schem Natio­na­lismus genoss die pol­nische Presse die Tri­umphe und Per­spek­tiven. Zum Bei­spiel schrieb die Gazeta Polska am 9. Oktober 1938: „Der Weg zu einer mäch­tigen Füh­rungs­rolle in unserem Teil Europas ist offen und er erfordert in naher Zukunft enorme Anstren­gungen und die Lösung unglaublich schwie­riger Probleme.“

Hitler berauschte Polen in der Zwi­schenzeit mit der Aus­sicht auf Zugang zum Schwarzen Meer auf Kosten des Ter­ri­to­riums der Sowjet­ukraine In Polen sprach man vom Polen von einem Meer bis zum anderen Meer, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.

Unter­dessen war die Sowjet­union bereit, der Tsche­cho­slo­wakei gemeinsam mit Frank­reich zu helfen, aber Polen wei­gerte sich – mit Garantien aus Deutschland – die sowje­ti­schen Truppen pas­sieren zu lassen und drohte, sowje­tische Flug­zeuge abzu­schießen. Frank­reich traute sich im Alleingang nicht, sich Hitler ent­ge­gen­zu­stellen. So wurde das Schicksal der Tsche­cho­slo­wakei entschieden.

„Ver­festigt“ wurde diese Bar­barei in der soge­nannten Münchner Ver­schwörung. Wichtig ist: Ohne Polen hätte Hitler diese Expansion nicht gewagt. Es war Polen, das es geschafft hat, Frank­reich und danach auch Groß­bri­tannien zu lähmen. Damit begann der Krieg. So müsste eigentlich das Münchner Abkommen den Beginn des Krieges in Europa mar­kieren. Unmit­telbar danach begannen die Trup­pen­be­we­gungen. Diese Chro­no­logie macht die Ereig­nisse ver­ständlich. Und Putin lenkt die Auf­merk­samkeit auf die wich­tigsten Ereignisse.

„Während der Nürn­berger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zesse ant­wortete Feld­mar­schall Keitel auf die Frage, ob Deutschland 1938 die Tsche­cho­slo­wakei ange­griffen hätte, wenn die West­mächte Prag unter­stützt hätten: „Nein. Wir waren mili­tä­risch nicht stark genug““, erklärte der Präsident.

Und jetzt kommt das, was die nervöse Reaktion des pol­ni­schen Außen­mi­nis­te­riums aus­gelöst hat. Putin sprach über den Anti­se­mi­tismus, der die Bande der dama­ligen Führung Polens mit Hitler zementierte.

„Hitler sagte dem Außen­mi­nister und dann dem pol­nische Bot­schafter in Deutschland unver­blümt, dass er eine Idee hätte, nämlich die Juden nach Afrika zu ver­treiben, in eine Kolonie. Stellen Sie sich vor, 1938 wollten sie Juden aus Europa nach Afrika schicken. Zum Sterben, um sie zu ver­nichten. Darauf ant­wortete ihm der pol­nische Bot­schafter, und das schrieb er auch in seinen Bericht an den pol­ni­schen Außen­mi­nister Beck: „Als ich das hörte, sagte ich ihm, dass wir ihm ein groß­ar­tiges Denkmal in War­schau setzen würden, wenn er das täte.“ Er war ein anti­se­mi­ti­sches Schwein, man kann es nicht anderes sagen. Er stimmte Hitler in seinen anti­se­mi­ti­schen Gefühlen voll und ganz zu und ver­sprach außerdem, Hitler für die Ver­treibung des jüdi­schen Volkes in War­schau ein Denkmal zu setzen. Und er schreibt das an seinen Chef, den Außen­mi­nister, offenbar in der Hoffnung auf Zustimmung. Einfach so hätte er das kaum geschrieben“, sagte Putin.

Putin nennt den pol­ni­schen Bot­schafter Jozef Lipski ein „anti­se­mi­ti­sches Schwein“ und gibt eine Ein­schätzung des dama­ligen pol­ni­schen Anti­se­mi­tismus ab. Natürlich waren nicht alle Polen Anti­se­miten, aber aus irgend­einem Grund funk­tio­nierten sozialen Lifte, wie man sagt, besser für Anti­se­miten. Ein Bei­spiel ist Bot­schafter Jozef Lipsky. Und die wich­tigsten Todes­lager für Juden hat Hitler, wahr­scheinlich nicht zufällig, aus irgend­einem Grund in Polen plat­ziert und nicht irgendwo im besetzten Dänemark oder im besiegten Frank­reich. Ihre Namen lassen einen heute noch erschaudern: Auschwitz, Treb­linka, Sobibor, Mai­danek. Und in Polen wurden nicht nur Juden aus Ost­europa, sondern auch aus dem Westen – aus Italien, Frank­reich, Öster­reich – vernichtet.

Natürlich gab es auch Kon­zen­tra­ti­ons­lager in Deutschland, aber das waren keine Todes­lager. Und während die Berichte über die in Polen ver­nich­teten Holo­caust-Opfer in die Mil­lionen gehen, lag die Zahl der Todes­opfer in so schreck­lichen Lagern wie Buchenwald, Sach­sen­hausen, Neu­en­gamme, Ravens­brück oder Dachau in den Zehn­tau­senden. Ganz andere Maß­stäbe. Natürlich wurden Gefangene dort erschossen oder für medi­zi­nische Expe­ri­mente miss­braucht, aber der Haupt­zweck der Lager in Deutschland war ein anderer. Es waren Lager zur Zwangs­arbeit, ob in den Waf­fen­fa­briken oder für Deutsche Unter­nehmen, die die Wehr­macht beliefert haben.

Die Deut­schen nutzten den pol­ni­schen Anti­se­mi­tismus buch­stäblich aus. Nach Hitlers Invasion und der Eroberung War­schaus fühlten sich die Juden in der Haupt­stadt nicht nur von den Deut­schen, sondern auch von den Polen selbst bedroht.

Das Buch des His­to­rikers Valentin Alekseev, her­aus­ge­geben von der Gesell­schaft „Memorial“, erzählt die Geschichte des War­schauer Ghettos. Er spricht auch über die Situation gegen Ende des Jahres 1939: „Das nationale Unglück brachte Juden und Polen Ende 1939 näher zusammen, aber der Anti­se­mi­tismus, der eine Weile in den Hin­ter­grund getreten war, begann nach der Nie­derlage Polens wieder den Kopf zu erheben. Anti­se­miten halfen den Deut­schen, Juden zu fangen, die der Zwangs­arbeit zu ent­gehen ver­suchten, zeigten deut­schen Sol­daten und Beamten Woh­nungen und Geschäften wohl­ha­bender Juden. Die pflicht­be­wussten Denun­zi­anten zeigten mit den Fingern auf die Juden, die es trotz des Verbots wagten, in Züge ein­zu­steigen. Die Ban­diten brachen in die Häuser ein, jagten Juden, die tra­di­tio­nelle Bärte und Kippas trugen, auf der Straße und brachten diese Unglück­lichen zu den Deut­schen, die unter dem Kichern und Lachen des ver­sam­melten Mobs den Juden mit Messern die Haare oft bis ins Fleisch abschnitten.“

Man muss es noch einmal sagen: Nicht alle Polen haben sich so ver­halten. Aber das schrieb der pol­nische jüdische His­to­riker Emmanuel Rin­gelblum kurz vor seinem Tod. Sein Ver­steck wurde den Deut­schen übrigens Anfang 1944 von einem pol­ni­schen Teenager ver­raten und Rin­gelblum wurde erschossen.

„Niemand, niemand wird das pol­nische Volk für diese stän­digen Exzesse und Pogrome an der jüdi­schen Bevöl­kerung ver­ant­wortlich machen. Die große Mehrheit der Nation und ihre bewusste Arbei­ter­klasse und die Intel­ligenz ver­ur­teilten zwei­fellos diese Exzesse und sahen sie als deut­sches Instrument zur Schwä­chung des Zusam­men­halts der Gesell­schaft. Unser Vorwurf ist jedoch, dass niemand ein Wort des Wider­spruches sagte, nicht einmal in Pre­digten in Kirchen, und dass es keinen Wider­stand gegen das anti­se­mi­tische Tier gab, das mit den Deut­schen zusam­men­ar­beitete, dass es keinen wirk­samen Wider­stand gegen die unauf­hör­lichen Exzesse gab, so dass nichts den Ein­druck abschwächen kann, dass die gesamte pol­nische Bevöl­kerung die Anti­se­miten unter­stützte“, schrieb Ringelblum.

In dieser Situation wurden im Herbst 1940 Hun­dert­tau­sende Juden in einem Ghetto im Norden War­schaus zusam­men­ge­trieben. Das Gebiet war von einer Back­stein­mauer umgeben. Anfangs lag die Bevöl­kerung des jüdi­schen Ghettos bei knapp einer halben Million, mehr als ein Drittel der Bevöl­kerung von ganz War­schau. Offi­ziell bekamen die iso­lierten Juden nur 184 Kilo­ka­lorien pro Tag. Nur der Schwarz­markt und illegale Lie­fe­rungen halfen zu überleben.

Ab Januar 1942 wurden Juden aus dem War­schauer Ghetto in Güter­wagen nach Treb­linka gebracht, um in Gas­kammern getötet zu werden. Die Razzien im Ghetto wurden von deut­schen Gen­darmen geleitet, vor allem aber von let­ti­schen und litaui­schen SS-Truppen und mit aktiver Unter­stützung der pol­ni­schen Polizei.

Nicht einmal Kinder wurden ver­schont. Der berühmte Lehrer Janusz Korczak ging frei­willig mit seinen Schülern ins Lager. In Treb­linka wurden Men­schen in Gruppen in gemauerte Räume getrieben und Abgase vom Motor eines schweren Panzers hin­ein­ge­pumpt. Nach einer halben Stunde waren alle tot. Danach kam die nächste Gruppe. So funk­tio­nierte das Holo­caust-Fließband in Polen. Als im War­schauer Ghetto weniger als 30.000 Juden übrig waren, weniger als ein Zehntel der ursprüng­lichen Bevöl­kerung, brach ein Auf­stand aus. Es war im April-Mai 1943. Die Kräfte waren ungleich. Die Rebellen hatten nur Pis­tolen und impro­vi­sierte Spreng­sätze. Und ihr Gebiet war mit einer Mauer umgeben. Die Nazis gingen brutal vor, etwa 7.000 wurden erschossen, weitere 6.000 Juden ver­brannten in ihren Häusern. Die rest­lichen 15.000 wurden ein­ge­fangen und nach Treb­linka gebracht. So endete das War­schauer Ghetto. Das war Ostern.

Und so beschreibt der His­to­riker Valentin Alekseev diesen Horror in seinem Buch „Das War­schauer Ghetto gibt es nicht mehr“: „Der Beginn der Kämpfe im Ghetto fiel mit Ostern zusammen. Die Nazis, die übrigens eine „große Aktion“ planten, rech­neten damit, dass die gläu­bigen Katho­liken an den Fei­er­tagen abge­lenkt seien und sich die Ereig­nisse im Ghetto nicht zu Herzen nehmen würden. Und tat­sächlich über­schat­teten diese Ereig­nisse den Fei­ertag nicht. Massen von Schau­lus­tigen ver­sam­melten sich in der Nähe der Mauern des Ghettos, um das aus­ge­fallene Spek­takel zu beob­achten: die bren­nenden Straßen, ver­kohlte Leichen, die von Bal­konen hingen, lebende Fackeln, die von den Dächern fielen. Die Deut­schen ver­trieben die Zuschauer nicht und manchmal wiesen diese die Maschi­nen­ge­wehr­schützen auf Rebellen hin, die außerhalb der Mauern des Rebel­len­ghettos erschienen. Andere, die nicht wussten, was im Ghetto geschah, fei­erten in der Nähe ein Stra­ßenfest mit fest­lichen Karussells.“

Heute erscheinen uns solche Berichte unvor­stellbar. Die Europäer ver­suchen, his­to­risch gut aus­zu­schauen, sie sagen, ihr Tota­li­ta­rismus sei nicht schuld. Eine extreme Vereinfachung.

Aus Polen berichtet unser Korrespondent.

Das pol­nische Dorf Jedwane liegt 2 Stunden Fahrt von War­schau ent­fernt. Im Zentrum steht die Kirche, der Platz ist nach Papst Johannes Paul II. benannt. Gepflegte Bau­ern­häuser und Gemü­se­gärten. Die Bevöl­kerung von Jedwane beträgt weniger als zwei­tausend Men­schen, meist sind es Polen. Das scheint schon ewig so zu sein. Tat­sächlich waren vor 80 Jahren die meisten hier Juden und die Siedlung war ein jüdi­scher Ort.

All dies geriet schnell in Ver­ges­senheit, aber hier fand einer der blu­tigsten Pogrome in der Geschichte Polens statt. Am 10. Juli 1941 wurden hier mehr als andert­halb­tausend Juden getötet.

An der Stelle, an der sich die Tra­gödie ereignete, wurde ein Denkmal errichtet. Es zeigt ver­kohlte Bretter als Symbol für eine schreck­liche Erin­nerung an den Schuppen, in dem Hun­derte von Men­schen bei leben­digem Leib ver­brannt wurden. Jahr­zehn­telang glaubte man, das Mas­saker sei von den deut­schen Sol­daten verübt worden, doch dann wurde bekannt: Der Mas­senmord an Juden im pol­ni­schen Dorf Jedwane war das Werk der Polen selbst.

Der Princeton-Pro­fessor Jan Tomasz Gross führte eine Unter­su­chung durch und schrieb ein Buch mit dem Titel „Nachbarn“, in dem er den gesamten Verlauf der Zusam­men­arbeit der Polen mit den Deut­schen dokumentierte.

„Am Morgen des 10. Juli 1941 kamen acht Per­sonen von der Gestapo, um sich mit den ört­lichen Behörden zu treffen. Als die Gestapo sie fragte, was sie mit den Juden machen würden, ant­wor­teten sie ein­stimmig, dass alle Juden getötet werden sollten. Als die Deut­schen vor­schlugen, eine jüdische Familie aus jedem Beruf am Leben zu lassen, ant­wortete der ört­liche Zim­mermann Bro­nislaw Schles­inski, der bei dem Treffen anwesend war: Wir haben genug eigene Meister, wir müssen alle Juden ver­nichten, niemand darf am Leben bleiben. Bür­ger­meister Karolak und alle anderen stimmten seinen Worten zu. Zu diesem Zweck stellte Schles­inski seinen Schuppen zur Ver­fügung, der in der Nähe stand. Nach diesem Treffen begann das Blutbad“, heißt es in dem Buch.

Wie Gross schreibt, drückten die Polen in Jedwane den Juden die Augen aus und schnitten ihnen die Zungen ab, schlugen ihnen mit Äxten die Köpfe ab und prü­gelten sie mit Stöcken mit Nägeln zu Tode. Weder alte Männer noch Kinder wurden ver­schont, so dass die Mütter selbst ihre Babys im Teich ertränkten, damit sie nicht in die Hände der Schlächter fielen. Für diese Ereig­nisse bat Prä­sident Kwas­niewski offi­ziell um Ver­zeihung, obwohl er dafür keine breite Unter­stützung in der pol­ni­schen Gesell­schaft fand.

In Jedwane gibt es die bis heute nicht.

„Das war ein Befehl der Deut­schen, die Polen waren gezwungen, ihn aus­zu­führen. Es stimmt nicht, dass die Bewohner von Jedwane das selbst getan haben. Ich hatte sogar einmal Pro­bleme an der schwe­di­schen Grenze. Der Grenz­beamte nahm meinen Pass und sah, dass ich aus Jedwane komme und sagte: Wie viele Juden hast du getötet? Ich sagte ihm unhöflich: „Da muss ich erst zählen.“ Und er: Soll ich dich sofort wieder nach Hause schicken? So etwas ist mir pas­siert“, sagte ein Anwohner.

In den 1930er Jahren lebten in den Gebieten, die Polen durch den Ver­sailler Vertrag bekommen hatte, Mil­lionen von Juden, die War­schau gerne los­werden wollte. Die Idee war, die Juden an einen Ort zu schicken, von dem sie nie zurück­kehren würden. Zum Bei­spiel nach Afrika. Polen fand im Dritten Reich Ver­ständnis für die Idee. Deshalb ver­sprach der pol­nische Bot­schafter in Berlin, Jozef Lipsky, dem Führer ein „schönes Denkmal“ zu bauen.

„Wir wissen, dass Hitler nicht sofort auf die Idee einer end­gül­tigen Lösung der Juden­frage gekommen ist. Aber solche, wie Polens Bot­schafter in Deutschland, Lipski, gab es viele in der Führung Polens und in den meisten pol­ni­schen Kreisen waren solche Ideen weit ver­breitet und sie drängten Hitler all­mählich zu der Idee einer end­gül­tigen Lösung der Juden­frage. Als Hitler darüber nach­dachte, wie man die Juden in Europa los­werden könnte, sagten die euro­päi­schen Länder: Wir bewundern Ihren Umgang mit Juden. Das bestärkte den Kri­mi­nellen sicherlich in seinem Ver­brechen“, sagte Alex­ander Boroda, Prä­sident des Ver­bandes der Jüdi­schen Gemeinden in Russland.

Mit Kriegs­beginn errich­teten die Nazis Todes­lager in Polen: Auschwitz, Treb­linka, Mai­danek, Chelmno, Belzec, Sobibor. Mil­lionen ermor­deter und brutal gefol­terter Juden, Zigeuner, Russen und Polen selbst, was viele der lokalen pol­ni­schen Bevöl­kerung nicht daran hin­derte, mit den Henkern zusammenzuarbeiten.

„Die Polen brachten die Kinder in diese Kon­zen­tra­ti­ons­lager, wie mir Henry Guberman, ein alter Jude in New York, erzählte. Ich erinnere mich sehr gut an ihn. Er wurde von rus­si­schen Sol­daten gerettet, aber die Polen hatten ihn ins Lager gebracht und sich gefreut, dass andere mit den Juden in Polen Schluss machten“, sagte Dr. Natalia Naroch­nit­skaya, Prä­si­dentin der Stiftung für his­to­rische Perspektiven.

Es gab auch hel­den­hafte Polen, die die Juden ret­teten. Mit­glieder der „Jegota“-Bewegung, der Codename des Unter­grund­rates für die Unter­stützung von Juden, schützten sie in sicheren Häusern, ver­sorgten sie mit gefälschten Doku­menten und brachten Kinder in Pfle­ge­fa­milien unter. Aber die Zahl der Geret­teten ist natürlich viel geringer als die, die in den sicheren Tod geschickt wurden. In Polen gab es viele, die sich an dem unmensch­lichen Leid berei­chert haben.

„Es gab mas­senhaft Jagd auf Juden und es gab dafür sogar einen Begriff „Schmalzniks“. Das heißt, den Schmalz, also das Geld, von diesen Flüch­tigen, von diesen ver­zwei­felten Men­schen zu ein­zu­sammeln. Sie wurden aus­ge­raubt, getötet, den Deut­schen über­geben und ihr Eigentum gestohlen. Für die Aus­lie­ferung von Juden wurden fest­ge­legte Beloh­nungen aus­ge­schrieben, die die Deut­schen bereit­willig bezahlten“, bemerkte der His­to­riker Aron Schneier.

Das Thema ist für die pol­nische Regierung so unan­genehm, dass im ver­gan­genen Jahr ein Gesetz ver­ab­schiedet wurde. Es drohte jedem eine Haft­strafe an, der Polen der Betei­ligung an den Ver­brechen des Natio­nal­so­zia­lismus beschuldigt. Es drohten bis zu drei Jahre Haft. Nach einer Welle von Pro­testen, vor allem durch Israel, wurde die Haft­strafe wieder abge­schafft, jetzt ist es eine Ord­nungs­wid­rigkeit. Aber das Gesetz tut seine Wirkung.

„For­scher können jetzt vor Gerichte gezogen werden und Gott weiß, wie viel sie für ihre Ver­tei­digung aus­geben müssen, nur um nach der Wahrheit zu suchen. Nicht jeder Jude in Polen wurde von den Nazis getötet, es wurden auch viele von Polen getötet. Das ist eine Tat­sache, die man unmöglich leugnen kann. Es gab viele Fälle, in denen Polen Juden der Gestapo über­geben haben: zwi­schen 130.000 und 200.000 wurden nicht von den Deut­schen getötet oder den Deut­schen von Polen zur Ermordung über­geben“, sagte Ephraim Suroff, Leiter des Jeru­sa­lemer Zweigs des Simon Wie­senthal Zentrums.

Im Juli 1944 befreite die Rote Armee das Ver­nich­tungs­lager Mai­danek. Im Januar 1945 befreiten sowje­tische Sol­daten War­schau und Auschwitz. Im Mai 1945 folgte der Sieg. Aber auch nach der Nie­derlage des Faschismus war die Gefahr für Juden in Polen nicht zu Ende.

„Der einzige Land auf der Welt, wo es nach dem Krieg noch anti-jüdische Pogrome gab, ist Polen. Als die Juden, die auf wun­dersame Weise überlebt hatten, in ihre Häuser zurück­kehren wollten, lebten dort Polen, die sie töteten. Das sind Dinge, die geschehen sind.“, sagte Alex­ander Boroda.

Im August 1945 gab es ein anti-jüdi­sches Pogrom in Krakau. Es wurde durch Gerüchte pro­vo­ziert, dass Juden katho­lische Kinder für rituelle Tötungen ent­führten. Im Juli 1946 gab es ein Pogrom in einer anderen pol­ni­schen Stadt, in Kelce. Wegen des gleichen Gerüchtes. Es gab aber auch andere Gründe.

„Etwa 1.500 Juden wurden nach dem Ende des Zweiten Welt­kriegs in Polen getötet. Es ging um ihr Eigentum. Die Men­schen waren in ihre Häuser gezogen und waren über­haupt nicht glücklich, Juden zu sehen, die den Holo­caust überlebt hatten und in ihre Häuser zurück­kehren wollten. Ihnen wurde oft gesagt: Schade, dass Hitler dich nicht getötet hat“, sagte Ephraim Suroff.

Und in den 60er Jahren gab es in Polen noch eine Mas­sen­ver­treibung. Die einst größte jüdische Gemeinde in Europa, die pol­nische, hat sich nie wieder erholt. Anstatt drei Mil­lionen leben heute nur noch 30.000 Juden in Polen.

Ende der Übersetzung


Wenn Sie sich dafür inter­es­sieren, wie Russland auf die Fragen der inter­na­tio­nalen Politik blickt, dann sollten Sie sich die Beschreibung meines Buches ansehen, in dem ich Putin direkt und unge­kürzt in langen Zitaten zu Wort kommen lasse. Auch über Putins Sicht auf den Zweiten Welt­krieg gibt es in dem Buch ein Kapitel.


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru

Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“