Der Brexit und die Folgen

Bevor wir ein­steigen, kurz eine Stand­ort­be­stimmung mei­ner­seits. Ich bin kein Fan des Brexits, vor allem aus Eigen­in­teresse. Es wäre für alle Betei­ligten öko­no­misch und wohl auch poli­tisch besser, wenn es keinen Brexit gäbe:

  • Es gäbe keine zusätz­liche Ver­schlech­terung der wirt­schaft­lichen Lage in Groß­bri­tannien, in der EU, der Eurozone und vor allem auch nicht in Deutschland.
  • Ein Aus­tritt aus der EU macht Groß­bri­tannien nicht weniger anfällig für Krisen in der EU/Eurozone, die unab­hängig vom Brexit auf uns zukommen – even­tuell wegen der von einem Brexit aus­ge­lösten Rezession sogar früher.
  • Groß­bri­tannien könnte ohne Brexit eine wichtige Stimme der Ver­nunft sein, um weitere Fehl­ent­wick­lungen in der EU zu ver­hindern – vor allem den unwei­ger­lichen Marsch in eine immer mehr staats­gläubige Umver­tei­lungs- und Schuldenwirtschaft.
  • Deutschland wäre nicht in der Min­derheit bei wich­tigen Wei­chen­stel­lungen in der EU.

Was nun zu den ver­schie­denen Fragen führt:

  1. Wie kam es zum Brexit?
  2. Wie wird sich Groß­bri­tannien nach dem Brexit entwickeln?
  3. Was bedeutet der Brexit für Deutschland und die EU?
  4. Wie hätten EU und Deutschland nach reagieren sollen?
  5. Was pas­siert bis Ende 2020?

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich für treue Leser wie­derhole, hier also der Versuch von Antworten:

1. Wie kam es zum Brexit?

Viel wurde zu diesem Thema geschrieben. Im Kern sehe ich fol­gende Gründe für die (kleine) Mehrheit der Briten, die für einen Brexit gestimmt haben:

  • Eine Ursache ist die zunehmend größere Schicht der Bevöl­kerung, die relativ zurück­ge­fallen ist. Man sieht es eklatant an der unter­schied­lichen Ent­wicklung in der Welt­stadt London und auf dem Land. Hier hat sich Frust auf­ge­staut, ähnlich der Unzu­frie­denheit, die Donald Trump und anderen Stimmen bescheren.
  • Das springt aber zu kurz. Die 52 Prozent stammen wahrlich nicht nur aus den „weniger pri­vi­le­gierten Schichten“. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Brexit-Unter­stützung bis weit in die soge­nannte „Elite“ hin­ein­reicht: alt­ein­ge­sessene Familien, erfolg­reiche Unter­nehmer und Banker, Akademiker.
  • Dazu gehört auch die Fest­stellung, dass viele Briten zwar die Wirt­schafts­ge­mein­schaft schätzen, nicht jedoch die Idee der Ver­einten Staaten von Europa mit immer mehr Zen­tra­li­sierung und Verlust an natio­naler Sou­ve­rä­nität. Ich denke, dass in vielen Ländern bei Volks­ab­stim­mungen durchaus ähn­liche Ergeb­nisse her­aus­kämen, wenn man diesen Punkt betonte. Die Deut­schen dürften mit ihrer Bereit­schaft, in den Ver­ei­nigten Staaten von Europa auf­zu­gehen, recht allein sein, zumindest wenn man die Umfra­ge­er­geb­nisse ansieht:
    Quelle: Euro­ba­ro­meter der EU-Kom­mission, Oktober 2018,abrufbar hier.
  • Nach Luxemburg und Irland liegen wir auf Platz 3. Die anderen großen Länder, Frank­reich, Groß­bri­tannien und Italien befinden sich am anderen Ende des Spek­trums. Ja, es ist immer noch eine (kleine!) Mehrheit, die sich als „Bürger der EU“ fühlen. Aber ganz anders als bei uns.
  • Was damit auch bedeutet, dass man mit einer Kam­pagne, die gegen die EU zielt, auch dort erfolg­reich sein könnte. Die Kam­pagne hat bekanntlich mit einer Mischung aus Ver­sprechen und Unwahr­heiten mobi­li­siert. Trifft das auf ein durchaus begrün­detes nega­tives Gefühl, ist alles möglich.

Hinzu kommt – wie ich immer wieder geschrieben habe – das Ver­sagen der EU in den zwei zen­tralen Ver­sprechen: der Schaffung von Wohl­stand und der Sicherung der Außengrenzen.

  • Seit der Ein­führung des Euro ent­wi­ckelt sich die Wirt­schaft immer schlechter – nach einer kurzen schul­den­fi­nan­zierten Blüte. Die Spar­po­litik nach der Euro­krise hat das ver­stärkt. Und das wirkt eben­falls auf Groß­bri­tannien aus, auch wenn es nicht Mit­glied im Euro ist. Die Löhne sta­gnieren seit Langem.
  • Die Brexit-Abstimmung fand zum Höhe­punkt der Migra­ti­ons­krise statt. UKIP, die Partei von Nigel Farage, hat das Land damals mit Pla­katen über­zogen, die die Kolonnen der Zuwan­derer zeigte und damit für den Brexit geworben. Nach dem Motto: Deutschland ist die Zwi­schen­station, danach kommen alle zu uns. David Cameron hatte auf dem EU-Gipfel vor der Volks­ab­stimmung darum gebeten, die Per­so­nen­frei­zü­gigkeit tem­porär aus­zu­setzen. Also die Zuwan­derung nach Groß­bri­tannien aus Ländern der EU begrenzen zu dürfen. Dies wurde abge­lehnt, vor allem auf Betreiben von Kanz­lerin Merkel. Das war schon deshalb falsch, weil die Briten im Unter­schied zu Deutschland von Anfang an Per­so­nen­frei­zü­gigkeit für Ost­eu­ropäer hatten. Wir hatten da eine Über­gangs­frist. Es wäre also ein Leichtes gewesen, den Briten diese „Pause“ nach­träglich zu gönnen.

Deshalb haben Kri­tiker wie Thomas Piketty durchaus recht: Deutschland unter Führung von Frau Merkel hat einen Anteil am Brexit. Er fokus­siert auf die Austeri­täts­po­litik. Ich würde die Wei­gerung, die Frei­zü­gigkeit tem­porär ein­zu­schränken, dazurechnen.

2. Wie wird sich Groß­bri­tannien nach dem Brexit entwickeln?

Bei diesem Punkt sind sich die Kom­men­ta­toren weit­gehend einig. Kurz- und mit­tel­fristig droht ein Ein­bruch der Wirt­schafts­leistung. Doch was dann?

Zunächst die Fest­stellung von Michael Cem­balest, CIO von JPMorgan Asset Management:

  • UK growth will suffer a huge hit. Of all the ana­lyses I’ve read about a pos­sible Brexit sce­nario, I found Open Europe’s report to be the most clear-headed and balanced. Their rea­listic case esti­mates the cumu­lative impact of Brexit on UK GDP at just –0.8% to 0.6% by the year 2030; hardly the stuff that eco­nomic calamity is made of.” – Stelter: Über­haupt sind die Berech­nungen so von Annahmen abhängig.
  • UK-EU trade will col­lapse.Not neces­s­arily. Norway, Iceland and Switz­erland have entered into agree­ments with the EU on trade and labor mobility (European Eco­nomic Area, European Free Trade Area). These three non-EU countries export as much to the EU as its members do.” – Stelter: Vor allem haben wir ein großes Interesse am bri­ti­schen Markt.

Unzwei­felhaft würde ein No-Deal-Brexit die Wirt­schaft Groß­bri­tan­niens hart treffen. Und das Risiko bleibt bestehen, muss doch der Vertrag zu den neuen Bezie­hungen zwi­schen UK und der EU bis Ende 2020 aus­ge­handelt werden. Die Frage ist nur, wie es auf lange Sicht aus­sieht? Hier meine – bekannten – Über­le­gungen dazu:

  1. Kein Absturz der Konjunktur

Ginge es nach den Experten, müsste sich die bri­tische Wirt­schaft heute in einer tiefen Rezession befinden. Alle nam­haften Auguren vom IWF bis zur Bank of England haben vor dra­ma­ti­schen Folgen gewarnt, sollten die Befür­worter eines Brexits bei der Volks­ab­stimmung Erfolg haben. Der Immo­bi­li­en­markt würde kol­la­bieren, der Konsum ein­brechen und die Wirt­schaft abstürzen. Nichts davon ist geschehen. Zwar stimmt es, dass sich die Preise für Woh­nungen im obersten Preis­segment in London um circa zehn Prozent ermäßigt haben, dies aber von einem sehr hohen Niveau aus.

  1. Heil­samer Schock zur Moder­ni­sierung der Wirtschaft

Richtig ist, dass das Pfund, wie vor­her­gesagt, deutlich ein­ge­brochen ist. Dadurch wurden Exporte gefördert und Importe ver­teuert. Ein höchst will­kom­mener Effekt, war doch das Han­dels­de­fizit von rund fünf Prozent des BIP ohnehin nicht auf Dauer tragbar. Im Zuge des Brexits stellt die Regierung das bis­herige Wirt­schafts­modell infrage und strebt eine Moder­ni­sierung und Re-Indus­tria­li­sierung an. Tiefere Steuern können das Land zudem attraktiv für aus­län­dische Inves­toren machen. Gut möglich also, dass der Brexit-Schock die Grundlage für einen mit­tel­fris­tigen Auf­schwung der bri­ti­schen Wirt­schaft legt.

  1. Positive demo­gra­fische Entwicklung

Groß­bri­tannien wird spä­testens 2050 mehr Ein­wohner haben als Deutschland. Die Bevöl­kerung ist kon­ti­nu­ierlich gewachsen und es sieht so aus, als würde sich an diesem Trend nichts ändern. Wir hin­gegen stehen vor einem dra­ma­ti­schen Rückgang der Bevöl­kerung von heute rund 82 auf dann 75 Mil­lionen. Daran ändert auch die jüngste Zuwan­derung der Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika nichts. Besonders die Erwerbs­be­völ­kerung steht in den nächsten zehn Jahren vor einem dra­ma­ti­schen Ein­bruch. Da Wirt­schafts­wachstum im Kern von der Ent­wicklung der Erwerbs­be­völ­kerung und deren Pro­duk­ti­vität abhängt, stehen die Chancen Groß­bri­tan­niens also gar nicht so schlecht.

  1. Attraktiv für qua­li­fi­zierte Zuwanderung

Die positive Ent­wicklung der Bevöl­kerung hat natürlich etwas mit der Zuwan­derung der letzten Jahre zu tun, die auch zu der Brexit-Stimmung beitrug. Man könnte also davon aus­gehen, dass die Briten in Zukunft deutlich restrik­tiver mit der Zuwan­derung umgehen und damit das Wachs­tums­po­tenzial beschränken.

Was hier in der Dis­kussion immer wieder über­sehen wird, ist, dass die Befür­worter des Brexits kei­neswegs gegen jede Ein­wan­derung sind. Im Gegenteil, ein Punk­te­system wurde nach kana­di­schem Vorbild dis­ku­tiert. Ver­bunden mit dem Vorteil der Sprache, bliebe das Land damit nicht nur für qua­li­fi­zierte Zuwan­derer attraktiv, es könnte sogar gerade gegenüber der EU noch attrak­tiver werden. Länder, die sich die Migranten aus­suchen können, haben weniger Zuwan­derung in Sozi­al­systeme und deutlich mehr Erfolg bei der Inte­gration. Deshalb sind die Lasten der Umver­teilung geringer, was wie­derum das Wirt­schafts­wachstum und die Attrak­ti­vität für qua­li­fi­zierte Zuwan­derer erhöht.

  1. Füh­rende Stellung in Elitenbildung

Dabei hilft auch die Tat­sache, dass die Spit­zen­bildung in Groß­bri­tannien durchaus etwas zu bieten hat. Neben den berühmten Pri­vat­schulen sind dies vor allem die Uni­ver­si­täten. Im letzten Ranking der 100 besten Uni­ver­si­täten der Welt ist Groß­bri­tannien mit immerhin achtzehn Uni­ver­si­täten ver­treten. Die EU bringt es (ohne GB) auf 12, davon je drei in Deutschland, Frank­reich und den Nie­der­landen und je eine in Schweden, Dänemark und Belgien. In den Kri­sen­ländern der EU gibt es übrigens keine Uni­ver­sität in den welt­weiten Top 100. → Die besten Uni­ver­si­täten der Welt

Eine gesteuerte Ein­wan­derung, ein her­aus­ra­gendes Bil­dungs­system und die geringe Sprach­bar­riere dürften für Groß­bri­tannien in den kom­menden Jahren außerhalb der EU zu einem deut­lichen Wett­be­werbs­vorteil werden.

  1. Markt­wirt­schaft­liche Tradition

Schon vor dem Votum hat JPMorgan auf­ge­zeigt, dass die EU Groß­bri­tannien an Länder bindet, die nicht das gleiche Wirt­schafts­profil und eine unter­schied­liche Wett­be­werbs­fä­higkeit haben. Deutschland, Holland, Schweden und Irland fallen in die­selbe Kate­gorie wie UK. Frank­reich, Italien, Spanien und Por­tugal ein­deutig nicht. Deshalb sei es für Groß­bri­tannien gut, nicht mehr in diesem Klub dabei zu sein. Höhere Pro­duk­ti­vität und geringere Umver­teilung zugunsten der schwä­cheren Länder würden sich ent­spre­chend positiv für Groß­bri­tannien aus­zahlen. Hinzu kommt eine stark markt­wirt­schaft­liche Tra­dition, die noch mehr als wir auf die Kraft der Märkte und per­sön­liche Freiheit setzt als auf staat­liche Umver­teilung. Auch dies dürfte sich ent­spre­chend positiv auf das lang­fristige Wachstum auswirken.

  1. Unbe­strit­tenes Weltfinanzzentrum

Mögen Frankfurt und Paris noch so träumen, die City of London bleibt das Welt­fi­nanz­zentrum. Es ist nicht so einfach, ein Kom­pe­tenz­zentrum zu ver­lagern. Zu eng sind die Ver­bin­dungen, zu bedeutend das vor­handene Geschäft. Zwar gab es eine Welle von Grün­dungen von Toch­ter­ge­sell­schaften im Euroraum, die Masse der Kom­petenz wird bleiben, wo sie ist: in London.

Den Unken­rufen zum Trotz könnte London von der unstrit­tigen Kom­petenz, der eigenen Währung und der Befreiung von Brüs­seler Büro­kratie sogar pro­fi­tieren. Erste Stimmen sprechen bereits von einer künf­tigen Schweiz für die Flucht­gelder aus aller Welt. Gerade aus der Eurozone dürfte die große Flucht noch bevorstehen.

  1. Höheres Wirt­schafts­wachstum

Groß­bri­tannien hat gute Chancen, in den kom­menden Jahr­zehnten schneller zu wachsen als die Eurozone und auch Deutschland. Zwar beab­sichtigt die EU, mit ihrer harten Ver­hand­lungs­haltung ein Exempel sta­tu­ieren, doch ist das für beide Seiten ein Verlust.

Das höhere Wachstum in Groß­bri­tannien ist ange­sichts der auf­ge­zählten Fak­toren fast garan­tiert. Eine wach­sende Bevöl­kerung, gesteuerte Zuwan­derung, her­aus­ra­gende Bil­dungs­ein­rich­tungen und das Welt­fi­nanz­zentrum sind die Treiber.

  1. Renais­sance des Commonwealth

Kri­tiker der bri­ti­schen Ent­scheidung machen sich gerne über jene Brexit-Befür­worter lustig, die eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten des Com­mon­wealth beschwören. Natürlich wird es nicht dazu kommen. Aller­dings ist auch mit Blick auf die Haltung der der­zei­tigen US-Regierung das Sze­nario eines großen angel­säch­si­schen Han­dels­raums nicht so abwegig. Die USA, Groß­bri­tannien, Aus­tralien, Neu­seeland als Kern. Kanada dürfte sich dem nicht ent­ziehen können. Zugleich dürfte aus Sicht der skan­di­na­vi­schen Staaten ein solcher Bund, der mehr auf markt­wirt­schaft­liche Freiheit setzt, über Zeit eine deut­liche Sog­wirkung ent­falten. Es könnte ein attrak­tiver Gegen­entwurf zu einer EU werden, die auf immer mehr Büro­kratie und Umver­teilung setzt.

Wie man ange­sichts dieser Fakten zu der Ein­schätzung kommen kann, dass Groß­bri­tannien eine nach­haltige schlechtere wirt­schaft­liche Ent­wicklung haben muss, nach dem Brexit ver­schließt sich mir. Mit der rich­tigen Politik hat das Land viele Trümpfe in der Hand für eine gute Ent­wicklung, vor allem relativ zur EU und Deutsch­lands. Und darum geht es ja bei der Frage, wo man inves­tieren soll und sich per­sönlich aus­richtet.

3. Was bedeutet der Brexit für Deutschland und die EU?

Hier­zu­lande herrscht derweil die Über­zeugung vor, dass uns der Brexit nicht betrifft. Das halte ich für eine Fehleinschätzung:

  • Deutschland im fal­schen Boot: JPMorgan hat basierend auf Daten der Wett­be­werbs­fä­higkeit von Ländern des Welt­wirt­schafts­forums aus­ge­wertet, welche Länder mehr oder weniger gemein haben. Deutschland, Schweden, Irland und die Nie­der­länder haben mehr mit Groß­bri­tannien gemein als mit Frank­reich, Spanien, Por­tugal und Italien. Mit dem Aus­scheiden Groß­bri­tan­niens fehlt uns dieser Anker und wir sitzen mit jenen im Boot, die weniger wett­be­werbs­fähig sind und vor allem aus Tra­dition auf Umver­teilung und Staats­wirt­schaft setzen.


  • Deshalb ist es auch so bedau­erlich, dass die Bun­des­re­gierung im Falle Grie­chen­lands, das wirt­schaftlich und poli­tisch unbe­deutend ist, alle Grund­sätze über Bord geworfen hat (Bail-out-Verbot), um das Land im Euro und in der EU zu halten. Hin­gegen lässt sich Deutschland bei dem ungleich wich­ti­geren Groß­bri­tannien auf einen harten Kurs ein – ange­führt von Frank­reich und der EU-Kom­mission –, anstatt alles zu tun, um das Land in der EU zu halten. Zur Erin­nerung: → Das BIP Grie­chen­lands liegt bei rund 180 Mil­li­arden Euro, das Groß­bri­tan­niens bei 2320 Mil­li­arden! Nach Groß­bri­tannien expor­tiert die deutsche Wirt­schaft Waren im Wert von 85 Mil­li­arden, nach Grie­chenland im Wert von etwas über fünf Mil­li­arden. Die Wirt­schafts­kraft des Ver­ei­nigten König­reichs ist genauso groß wie die der 20 kleinsten EU-Länder zusam­men­ge­nommen. Es ist, als würden 20 von 28 Ländern gleich­zeitig austreten.
  • Eurozone gefangen in Dau­er­sta­gnation: bedingt durch zu viele faule Schulden, rück­läufige Erwerbs­be­völ­kerung, schwaches Pro­duk­ti­vi­täts­wachstum, Reformstau und eine Men­ta­lität, die die Umver­teilung von Wohl­stand über die Schaffung von Wohl­stand stellt. Was wir brauchen, sind Schul­den­re­struk­tu­rie­rungen, Reformen und eine Neu­ordnung der Eurozone. In keinem der drei Punkte ist auch nur ansatz­weise ein Fort­schritt zu sehen. Nur noch dank der Geld­schwemme der EZB ist es bisher nicht zum Kollaps gekommen.
  • Mehr Umver­teilung: Die Vor­stellung der Politik, durch eine „sozialere“ Gestaltung der EU den gefühlten Wohl­stand und damit die Attrak­ti­vität der EU zu erhöhen, wird das Gegenteil bewirken: Es ist die Fort­setzung einer Politik, die Ver­teilen vor Schaffen von Wohl­stand stellt. Gerade für uns Deutsche sind das keine guten Aus­sichten, weil unsere Han­dels­über­schüsse fälsch­li­cher­weise mit Reichtum gleich­ge­setzt werden, obwohl alle Studien zeigen, dass in den meisten EU-Ländern das Pri­vat­ver­mögen pro Kopf deutlich über hie­sigem Niveau liegt.
  • Stim­men­mehrheit für die Umver­teiler: Der Ökonom Hans-Werner Sinn ver­weist auf das Stim­men­ge­wicht im Minis­terrat, das sich durch den Aus­tritt Groß­bri­tan­niens zulasten Deutsch­lands ver­ändert: „Für die meisten Abstim­mungen braucht man dort 55 Prozent der Länder und 65 Prozent der dahinter ste­henden Bevöl­kerung, was umge­kehrt bedeutet, dass Länder, die zusammen min­destens 35 Prozent der EU-Bevöl­kerung auf sich ver­einen, eine Sperr­mi­no­rität bilden können. Zusammen mit Groß­bri­tannien hat der ehe­malige „D‑Mark-Block“ (Deutschland, Nie­der­lande, Öster­reich und Finnland) einen Bevöl­ke­rungs­anteil von 35 Prozent, also gerade die Sperr­mi­no­rität. Das sind allesamt Länder, die sich dem Frei­handel ver­schrieben haben. Gleich­zeitig haben die eher staats­gläu­bigen Anrainer des Mit­tel­meers, denen man wegen der Schwäche der eigenen Indus­trien pro­tek­tio­nis­tische Atti­tüden unter­stellen kann, mit 36 Prozent der EU Bevöl­kerung eben­falls die Sperr­mi­no­rität. Diese im Lis­sabon-Vertrag ange­strebte Balance ist nun zer­stört, denn der erste Block schrumpft mit dem Brexit auf einen Bevöl­ke­rungs­anteil von 25 Prozent, und die Mit­tel­meer­staaten erhöhen ihren Anteil auf 42 Prozent.“
  • Mili­tä­rische Bedeutung: Ohne Groß­bri­tannien wird Europa noch schwächer auf der mili­tä­ri­schen Bühne. Immerhin 75 Prozent der Mili­tär­aus­gaben im Rahmen der NATO werden von den USA getragen, die sich immer unzu­frie­dener mit dem Beitrag der Europäer zeigen. Groß­bri­tannien hat nicht nur das Zwei-Prozent-Ziel ein­ge­halten, es verfügt auch über Atomwaffen.

    FAZIT:
    Der Aus­tritt Groß­bri­tan­niens ist auch aus Sicht der EU ein Desaster und vor allem für Deutschland dürfte es sich als fatal her­aus­stellen. Weshalb ich bei meiner Ein­schätzung bleibe, dass wir even­tuell in zehn Jahren traurig nach Groß­bri­tannien blicken. Ange­sichts des Nie­der­gangs hierzulande.

4. Wie hätte man meiner Meinung nach reagieren sollen auf­seiten der EU/Deutschlands?

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich nach dem oben genannten von allein:

  • Kritik ernst nehmen: Statt selbst­ge­fällig auf das Votum zu reagieren, hätte die EU die Kritik von Groß­bri­tannien ernst nehmen sollen und das nach­holen, was man vor der Volks­ab­stimmung ver­säumt hat: mehr Sub­si­dia­rität statt Ein­mi­schung in Details von Bana­nen­krümmung bis Trink­was­ser­qua­lität, Lösung der Migra­ti­ons­krise durch wirk­samen Schutz der Außen­grenzen und Anpassung der Sozi­al­leis­tungen, Lösung der Euro­krise durch wirk­liche Reformen und Schuldenschnitte.
  • Versuch, durch Reformen Groß­bri­tannien zu halten: Mit solch einem Reform­pro­gramm hätte man Groß­bri­tannien viel­leicht in der EU halten können, hätte man doch den Brexi­teers Argu­mente weg­ge­nommen – vor allem mit Blick auf die Souveränitätsrechte. 
  • Ver­hand­lungen statt Straf­aktion: Dazu gehört auch, dass man kon­struktiv ver­handelt. Der Vertrag mit Theresa May war für die Briten nicht ernsthaft zu akzep­tieren, hätte es doch eine  Fort­setzung des Status quo ohne Mit­spra­che­recht bedeutet. Und dies noch unbe­fristet. Das war weder für Remain noch für Leave eine akzep­table Option.
  • Regelung des neuen Ver­hält­nisses im selben Vertrag: Im Artikel 50 des Ver­trages über die Euro­päische Union wird der Aus­tritt eines Landes geregelt. Dort steht: „Ein Mit­glied­staat, der aus­zu­treten beschließt, teilt dem Euro­päi­schen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leit­linien des Euro­päi­schen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Ein­zel­heiten des Aus­tritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künf­tigen Bezie­hungen dieses Staates zur Union berück­sichtigt wird.“ Genau das haben die Fran­zosen ver­hindert. Sie bestanden darauf, den Aus­tritt zu regeln und erst danach über das künftige Ver­hältnis zu reden. Nur deshalb hatten wir das Backstop-Theater. Das passt aller­dings zu einer Politik, die auf Sank­tio­nierung statt Attrak­ti­vität der EU setzt. 
  • Deutschland hätte die eigenen Inter­essen ver­folgen sollen: Dies bedeutet zum einen eine andere Ver­hand­lungs­stra­tegie, zum anderen, dass wir – wie Hans-Werner Sinn vor­schlägt – auf eine Neu­ordnung des Lis­sa­bonner Ver­trages hätten drängen müssen, um die Stimm­rechte im Rat wieder so zu ordnen, dass wir nicht dau­erhaft über­stimmt werden können.
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5. Was pas­siert bis Ende 2020?

Ich bin auch kein Hell­seher, denke aber, dass es nach dem letzten Jahr recht klar ist, was auf uns zukommt:

  • Die Briten treten wie geplant am 31. Januar 2020 aus der EU aus. Das steht nach dem Ergebnis der Wahlen fest.
  • Nun beginnen die Ver­hand­lungen zu den neuen Bezie­hungen zwi­schen der EU und UK, mit dem Ziel bis Ende 2020 einen ent­spre­chenden Vertrag zu haben. Gelingt dies nicht, gäbe es theo­re­tisch die Mög­lichkeit einer Ver­län­gerung. Dies setzt aber voraus, dass beide Seiten zustimmen. Boris Johnson hat bereits erklärt, unter keinen Umständen einer Ver­län­gerung zuzu­stimmen. Einig man sich nicht, kommt es doch noch zum gefürch­teten Hard-Brexit.
  • Die EU stellt sich recht hart auf, wie man den Äuße­rungen von Frau von der Leyen ent­nehmen konnte. In London sagte sie bei einem Vortrag an der LSE: „But the truth is that our part­nership cannot and will not be the same as before. And it cannot and will not be as close as before – because with every choice comes a con­se­quence. With every decision comes a trade-off. Without the free movement of people, you cannot have the free movement of capital, goods and ser­vices. Without a level playing field on envi­ronment, labour, taxation and state aid, you cannot have the highest quality access to the world’s largest single market. The more diver­gence there is, the more distant the part­nership has to be. And without an extension of the tran­sition period beyond 2020, you cannot expect to agree on every single aspect of our new part­nership. We will have to prio­ritise. The European Union’s objec­tives in the nego­tiation are clear. We will work for solu­tions that uphold the inte­grity of the EU, its single market and its Customs Union. There can be no com­promise on this.“ Über­setzt bedeutet dies, die EU ist zwar freundlich in der Wortwahl, aber knallhart in ihren Inter­essen. Der Franzose Barnier, der die Ver­hand­lungen führt sagte gleich zu Jah­res­beginn: „Nobody, nobody should doubt the deter­mi­nation of the com­mission, and my deter­mi­nation, to con­tinue to defend the inte­rests of EU27 citizens and busi­nesses, and to defend the inte­grity of the single market (…).“
  • Aus Sicht von Groß­bri­tannien kann es kein Interesse daran geben, alle Regeln der EU – siehe Äußerung von vdL – zu akzep­tieren, denn dann hätte man in der EU bleiben können. Der Reiz liegt doch gerade darin, sich positiv zu unter­scheiden. Andere/weniger Regu­lierung, Auto­nomie bei der Zuwan­derung, güns­tigere Steuern. All dies will die EU ver­hindern, fürchtet sie doch eine offen­sichtlich bessere Alter­native vor ihren Toren.
  • Boris Johnson wird also die erfolg­reiche Stra­tegie der letzten Monate fort­setzen. Er stärkt seine Ver­hand­lungs­po­sition, indem er klar macht, dass das Par­lament ihm nicht in den Rücken fallen kann. Es gibt nun eine breite Mehrheit und seine Drohung mit einem No-Deal/harten Brexit ist realistisch.
  • So werden wir ein hoch­vo­la­tiles Jahr erleben. Mit Ach­ter­bahn­fahrt an Börsen und Devi­sen­märkten, je nachdem welche Nach­richten gerade aus den Ver­hand­lungs­räumen kommen. Am Ende wird es einen Deal geben. Davon bin ich über­zeugt und sei es einen, in dem bestimmte Dinge im Nach­hinein kon­kre­ti­siert werden.

Konkret:

  • UK wird bei den Fische­rei­rechten hart bleiben, allein schon, um es für Schottland unat­trak­tiver zu machen, das UK zu verlassen.
  • Das liegt vor allem an Irland. Ein No-Deal würde zu einem Ein­bruch des iri­schen BIP von über vier Prozent führen. Das kann die EU nicht zulassen – eben, weil es EU und Euro weiter destabilisiert.
  • UK ist für die EU ein viel zu großer Markt, um einen Export­ein­bruch und damit eine weitere Desta­bi­li­sierung der EU und der Eurozone zu ris­kieren. Deshalb gibt es einen Deal. Spät, aber noch rechtzeitig.
  • Deshalb wird es auf jeden Fall bis zum Jah­resende zu einer Ver­ein­barung kommen, die den EU-Waren-Expor­teuren freien Zugang nach Groß­bri­tannien sichert. Dafür wird die EU mehr Kon­zes­sionen machen, als sie heute zugibt.

Und damit wird UK zur attrak­tiven Alter­native zum euro­päi­schen Super­staat, der dabei ist, zur zweit­größten Plan­wirt­schaft der Welt zu werden.


Dr. Daniel Stelter – www. think-beyondtheobvious.com