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Kom­mentar zum“Skandal” in Thü­ringen: Was ist eigentlich wirklich wichtig in Deutschland?

Das Chaos im thü­rin­gi­schen Landtag beherrscht die Schlag­zeilen wie kein anderes Ereignis und man fragt sich: „Was ist los in Deutschland?“ Ein Kommentar.

Ein Kom­mentar ist eine Mei­nungs­äu­ßerung und so bitte ich schon jetzt, dass alle Leser diesen Kom­mentar von mir gerne auch dis­ku­tieren sollen. Und natürlich wagt man sich als Kom­men­tator bei kon­tro­versen Themen immer auch auf dünnes Eis. Aber sei es drum.

Regel­mäßige Leser des Anti-Spiegel wissen, dass ich keine Partei in Deutschland für wählbar halte oder unter­stütze. Daher soll mein Kom­mentar auch nicht um die Frage der Par­teien gehen, sondern generell die Frage stellen, was in Deutschland falsch läuft. Die Geschichte in Thü­ringen ist ja kein von der Bun­des­po­litik los­ge­löstes Ereignis, kein Ein­zelfall, sondern nur ein Aus­druck dessen, was in Deutschland falsch läuft.

Demo­kratie bedeutet, dass die Mehrheit ent­scheidet. Demo­kratie bedeutet, dass alle mit­ein­ander reden können, dass Mei­nungen kon­trovers dis­ku­tiert werden können, dass man den anderen respek­tiert, auch wenn man seine Meinung nicht teilt.

Und genau das funk­tio­niert in Deutschland offen­sichtlich nicht. Und das ist kein neues Phänomen.

Man kann sehr schön beob­achten, dass die Demo­kratie in Deutschland eine große Schwäche hat: Neue Par­teien haben es schwer und das alleine ist streng genommen schon unde­mo­kra­tisch. Aber das ist nicht neu und das hat nichts mit der AfD zu tun.

Die Älteren unter uns erinnern sich an die 1980er Jahre, als die Grünen die neue Partei waren. Sie wurden von den Medien zer­rissen und von den alten Par­teien gemieden, wie eine Pest­beule. Und als es in Hessen die erste rot-grüne Koalition mit „Turn­schuh-Fischer“ als Umwelt­mi­nister gab, war das Geschrei groß. Inzwi­schen gehören die Grünen selbst zu den „alten“ Par­teien und sind von denen auch kaum mehr zu unterscheiden.

Das gleiche haben wir mit der Linken erlebt. In den 1990ern war sie die Mani­fes­tation des Bösen. Noch 2008 war es ein Skandal, dass Frau Ypsi­lanti in Hessen ein Koalition bilden wollte, die von der Linken nur geduldet werden sollte. Es ging noch nicht einmal um eine Regie­rungs­be­tei­ligung der Linken. Das Geschrei war groß, SPD-Chef Beck hat sich davon nie wieder erholt und Ypsi­lantis Kar­riere war damit de facto beendet.

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Heute ist die Linke auch schon fast eine eta­blierte Partei und zumindest für Grüne und SPD sind selbst Koali­tionen mit der Linken kein Problem mehr.

Dafür ist heute ist AfD in der Rolle, die vor 30 Jahren die Grünen und vor noch 10 Jahren die Linke gespielt haben: Sie ist das Schmud­delkind, mit dem keiner spielen möchte. Und so wie Grüne und Linke mit der Zeit Teil des Estab­lish­ments wurden, wird es in ein paar Jahren auch die AfD sein. Das ist der Lauf der Dinge in Deutschland.

Aber heute bedeutet die Tat­sache, dass die AfD für jemanden stimmt, der sonst keine Mehrheit hätte, noch den poli­ti­schen Tod. So war es auch 2008 mit der Linken in Hessen, so wird es nun wohl auch in Thü­ringen sein.

Das war also alles irgendwie schon mal da, es nichts Neues.

Aber merken Sie was?

Es geht um die Ent­schei­dungen für das Land, für die Men­schen im Land, es geht um Leh­rer­mangel, Alters­armut, Infra­struk­tur­pro­bleme, Pfle­ge­not­stand und so weiter und so fort. Aber davon war hier in dem Kom­mentar noch gar nicht die Rede. Und warum?

Weil es der deut­schen Politik heute wich­tiger ist, Posten zu ver­teilen, klein­liche Eifer­süch­te­leien aus­zu­kämpfen und par­tei­po­li­tische Ideo­logien zu ver­tei­digen, als die Pro­bleme der Men­schen und des Landes auch nur zu besprechen, von lösen gar nicht zu reden.

Über die Pro­bleme, die es in Thü­ringen gibt, steht in den Zei­tungen kein Wort. Nicht ein Wort wurde ver­loren über die Frage, was welche Partei tun möchte, um das Leben der Men­schen dort zu ver­bessern. Statt­dessen beherrscht nun der „Skandal“ die Schlag­zeilen, wie schlimm es ist, wenn die „fal­schen“ Leute jemanden stimmen.

Mal ehrlich: Na und?

Wird etwas Rich­tiges dadurch falsch, dass die „fal­schen“ Leute dafür sind? Wird etwas Fal­sches dadurch richtig, dass die „rich­tigen“ Leute dafür sind?

Es sollte doch um Sach­themen, um Pro­blem­lö­sungen gehen. Oder nicht?

Statt­dessen geht es darum, mit wem man reden darf und mit wem nicht.

Nochmal: Das ist kein Plä­dyoer für die AfD. Das hätte ich wort­gleich genauso 2008 über Hessen geschrieben, als es um die Linke ging.

Zur Demo­kratie gehört, dass jeder mit jedem reden kann. Man kann der AfD eine Menge vor­werfen, aber nicht, dass sie unde­mo­kra­tisch sei. Als einzige Partei ist sie für Volks­ent­scheide, die basis­de­mo­kra­tischste Form der Demo­kratie. Die AfD ist aus anderen Gründen für mich nicht wählbar, aber anti-demo­kra­tisch ist sie nicht.

Was glauben Sie, woher fol­gende Sätze stammen?

„Deutschland ist ein welt­of­fenes und gast­freund­liches Land. Mit einem Anteil der Aus­länder an der Bevöl­kerung von 9 % nimmt Deutschland unter den großen west­lichen Indus­trie­na­tionen den Spit­zen­platz ein. (…) Die Aus­län­der­ar­beits­lo­sigkeit hat sich in dieser Zeit massiv erhöht und liegt heute mit rund 20% doppelt so hoch wie in der Gesamt­be­völ­kerung. Die Zuwan­derung erfolgte also über­wiegend nicht in Arbeits­plätze, sondern in die sozialen Siche­rungs­systeme. (…) Deutschland muss Zuwan­derung stärker steuern und begrenzen als bisher. Zuwan­derung kann kein Ausweg aus den demo­gra­fi­schen Ver­än­de­rungen in Deutschland sein. Wir erteilen einer Aus­weitung der Zuwan­derung aus Dritt­staaten eine klare Absage, denn sie würde die Inte­gra­ti­ons­fä­higkeit unserer Gesell­schaft über­fordern. (…) Wir wollen Zuwan­de­rungs­an­reize für nicht aner­ken­nungs­fähige Asyl­be­werber weiter ein­schränken. Nur staat­liche Ver­folgung darf einen Anspruch auf Asyl und Auf­enthalt aus­lösen. Wir werden die ver­wal­tungs­ge­richt­lichen Ent­schei­dungen in Asyl­ver­fahren beschleu­nigen und dazu die gericht­lichen Zustän­dig­keiten zur Über­prüfung von Asy­l­ent­schei­dungen kon­zen­trieren, um den Miss­brauch des Asyl­rechts zu bekämpfen. Wir wollen Schleu­ser­or­ga­ni­sa­tionen das Handwerk legen.“

Diese Sätze sind nicht aus dem Pro­gramm der AfD. Sie stammen aus dem Wahl­pro­gramm der CDU aus dem Jahr 2002. (Einen inter­es­santen Ver­gleich der Wahl­pro­gramme der CDU 2002 und der AfD heute finden Sie hier.)

Man muss dem nicht zustimmen, man muss die AfD nicht mögen. Aber was vor 18 Jahren noch das offi­zielle Pro­gramm der CDU unter Par­tei­chefin Merkel war, kann nicht plötzlich rechts­ra­dikal, rechts­extrem oder gar „Nazi“ sein. Oder waren Merkel, Schäuble, Merz und so weiter 2002 Nazis?

Man muss diese Posi­tionen nicht teilen, aber man muss offen, sachlich und ohne Beschimp­fungen dis­ku­tieren können. Wenn das nicht geht, dann ist die Demo­kratie in Gefahr. Sie ist nicht in Gefahr, wenn jemand unliebsame Posi­tionen ver­tritt, im Gegenteil: Unliebsame Posi­tionen gehören zur Demo­kratie, ja sie sind die Basis einer Demokratie.

Wenn alle einer Meinung sind, ist die Demo­kratie tot. Wozu noch wählen, wenn alle das gleiche wollen?

Wahlen machen nur Sinn, wenn auch fun­da­mental unter­schied­liche Posi­tionen zur Wahl stehen.

Nochmal: Es geht mir nicht um die AfD, es geht mir um den sach­lichen und fairen Umgang mit­ein­ander und der ist Deutschland nicht gegeben. Und es geht mir um Lösungen der Pro­bleme, die die Men­schen beschäf­tigen, aber die Politik beschäftigt sich statt­dessen mit sich selbst und die Medien richten den Schein­werfer auf diese Schau­kämpfe, anstatt den Poli­tikern, die sich nun wieder nur um sich selbst kümmern, eine Frage zu stellen: Wann kümmert Ihr Euch endlich um die Dinge, die die Men­schen wirklich bewegen?

Das ist das Problem der Demo­kratie in Deutschland und deshalb miss­traut inzwi­schen eine Mehrheit der Deut­schen dem poli­ti­schen System in Deutschland. Das sage nicht ich, das sagt eine Umfrage der SPD nahen Friedrich-Ebert-Stiftung.

Aber die Poli­tiker haben das nicht ver­standen und gießen wei­terhin Öl ins Feuer.


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru

Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“