Obdachlose Berlin – das Zählen der Opfer fal­scher Politik

Letzte Woche Mitt­woch­abend. Es startet eine Aktion, wie es sie bis dahin nicht gab. Frei­willige Helfer sollten die Obdach­losen in Berlin zählen. Dazu wurde eine Schulung abge­halten für die 2.600 Helfer. Solche Zäh­lungen wurden schon in anderen Groß­städten gemacht. In Berlin die Zahlen sind bisher lediglich Schät­zungen. Zwi­schen 6.000 und 10.000 Woh­nungslose soll es geben.

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Große Bereit­schaft an Freiwilligen

Die Frei­wil­ligen Zähler wurden genau ein­ge­wiesen, wie das Obdach­lo­sen­zählen von­statten zu gehen hatte. Nicht wecken, nicht mit Lampen anleuchten, nicht duzen, wenn man jemanden anspricht, auf gar keinen Fall foto­gra­fieren. Kein Kör­per­kontakt, keine Zelte betreten, das Alter nicht schätzen, denn Obdachlose sehen meistens viel älter aus, als sie sind.

Von den 3.700 ange­mel­deten Frei­wil­ligen kamen trotz eis­kalten Wetters und Nie­sel­regen immerhin 2.600, was schon erstaunlich ist. Als Anlauf­stellen waren 61 Zähl­büros ein­ge­richtet worden. Die ein­tref­fenden Zähler hatten sich dick ein­ge­mummelt wegen der Tem­pe­ra­turen. Das unter­scheidet sie nicht besonders von den Obdach­losen, nur, dass sie schicker sind dabei. Ther­mos­kannen mit heißen Getränken zum Auf­wärmen, und dann werden Klemm­bretter mit For­mu­laren ver­teilt, die es aus­zu­füllen gilt. Dann schwärmen sie aus.

Ein­tauchen in ein anderes Berlin

Der Tages­spiegel lässt einen der Helfer mit einem Artikel voller Ein­drücke dieser Nacht zu Wort kommen. Sie finden Ver­stecke, die aus Hin­ter­las­sen­schaften des Zivi­li­sa­ti­ons­konsums der Stadt gebaut wurden: Plas­tik­planen und alte, durch­weichte Tex­tilien als Zelte in Ecken, die man nor­ma­ler­weise nicht auf­sucht. Die Schil­de­rungen der Orte und Behau­sungen wirken, als seien sie Par­al­lel­welten – aus der Zeit gefallen und nicht von dieser Stadt. Sozi­al­ar­beiter konnten Tipps geben, wo man nach den Woh­nungs­losen suchen kann, denn sie kennen ihre Kli­entel recht gut. So bilden sich bei­spiels­weise „Reviere“, in denen man die Deut­schen findet, in anderen Rumänen oder Polen. Oft Strandgut zer­bro­chener Träume von einem guten Job in Deutschland. Es leben auch viele Paare auf der Straße, weil sie nicht in die Not­un­ter­künfte gehen wollen. Denn dort werden Männer und Frauen getrennt.

Jede kleine Gruppe hat einen lami­nierten Stadtplan, auf dem das zu unter­su­chende Revier genau ein­ge­grenzt wird um zu ver­meiden, dass doppelt gezählt wird. Die Aktion wurde ein halbes Jahr lang vor­be­reitet. Die Stadt­pläne Berlins wurden aus­ge­druckt in einem Maßstab, dass auch jedes Detail, jeder Unter­schlupf, jede Parkbank, jeder beheizte Bank-Vorraum oder über­dachter Super­markt-Ein­kaufs­wagen-Unter­stand, jede U‑Bahnstation darin zu finden war. Die Pläne wurden lami­niert, um in jedem Wetter benutzt werden zu können. Ins­gesamt 250 lami­nierte DIN A3 Pläne … das ist Arbeit.

Dann wurden die Helfer auf jede erdenk­liche Situation vor­be­reitet. Obdachlose sind miss­trauische Men­schen – mit gutem Grund. Sie sind Außen­seiter und schutzlos und oft Ziel von Aggres­si­vität, Schmä­hungen und Miss­hand­lungen. Aber sie sind auch selbst oft aggressiv, ihre Lebens­ge­schichten hoch­pro­ble­ma­tisch. Es gibt Hunde, die auf Ver­tei­digung gepolt sind. Es gibt Scham und Ver­schlos­senheit, und es gibt unbe­wäl­tigte Kon­flikte, die sich urplötzlich Bahn brechen können. Viele sind psy­chisch krank und Alko­hol­miss­brauch ist keine Sel­tenheit. Niemand kommt ohne Grund in eine solche Lebens­si­tuation, und die Helfer sind uner­fahren und mit solchen Situa­tionen schnell überfordert.

Es ist vor­bildlich und gut, dass sich Bürger enga­gieren, um etwas für die Schwächsten der Gesell­schaft zu tun. Nur reicht sen­sibles Auf­treten beim Zählen und Mit­gefühl nicht.

Die Grenze der Armut frisst sich in die Mitte der Gesell­schaft vor

Die Zählung erfolgt auf Initiative der Armuts­for­scherin Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hoch­schule. Sie ist Pro­fes­sorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit dem Schwer­punkt Armut, Arbeits­lo­sigkeit und Woh­nungs­lo­sigkeit. Sie kennt viele Lebens­läufe und weiß, dass die Vor­stellung, nur Faule, Säufer und Ver­lierer geraten in die Situation, obdachlos zu sein, nicht stimmt. Man weiß mitt­ler­weile, dass es die unter­schied­lichsten Gründe gibt, auf der Straße zu landen. Alle Gesell­schafts­schichten sind da zu finden, einstmals Erfolg­reiche und Aka­de­miker, über­schuldete Unter­nehmer, Opfer von Schei­dungs­dramen, Lang­zeit­ar­beitslose, junge Leute, die von Zuhause weg­liefen, um frei zu sein, Zuwan­derer, die arbeits­willig und voller Hoffnung kamen, nur um fest­zu­stellen, dass niemand sie braucht, Trinker, die alles ver­spielt haben. Straf­täter, die nach der Haftzeit keinen Ein­stieg mehr finden konnten oder wollten. Jeder lebt mit seiner per­sön­lichen Tra­gödie, selbst ver­schuldet oder als Opfer der Umstände. Und die Umstände erzeugen immer mehr Wohnungslose.

Vor zwei Jahren bot Frau Prof. Gerull eine Lehr­ver­an­staltung unter dem Titel „Woh­nungslos in Berlin“ an. Auch zurzeit, im Win­ter­se­mester und im kom­menden Som­mer­se­mester, ist die Lehr­ver­an­staltung sehr gut besucht.

Zwei der Bereiche, die erforscht und ana­ly­siert werden, sind „Räu­mungen auf­grund von Miet­schulden“ und „behörd­liche Maß­nahmen bei dro­hendem Woh­nungs­verlust“. Pro­blem­felder, die in den letzten Jahren an Dring­lichkeit gewonnen haben und in Zukunft sehr wahr­scheinlich noch weiter aus­ufern werden.

Die Stu­denten sind, ganz ent­gegen der Erwar­tungen von Pro­fessor Gerull, hoch inter­es­siert an dem Stoff. Sie rennen ihr prak­tisch „die Bude ein“ sagt sie. Nicht so sehr aus wis­sen­schaft­lichem Interesse, sondern weil sie zum einen überall die Obdach­lo­sigkeit sehen und weil sie zum anderen oft spüren, dass sie selbst nicht allzu weit davon ent­fernt sind. Billige Woh­nungen für Stu­denten werden immer rarer und schwer zu bekommen. Viele Stu­denten können sich ihre „Butze“ nur durch einen Nebenjob leisten und kommen in Exis­tenznöte, wenn sie den Job ver­lieren. Denn auch diese Jobs sind hart umkämpft. Für eine Weile kann man zwar bei Kom­mi­li­tonen oder Freunden unter­kommen, aber auch meist nur für ein paar Wochen oder Monate, bis die Geduld des (selbst äußerst klammen) Gast­gebers erschöpft ist. Eine Lösung ist das nicht. Dann muss man seine Taschen wieder packen und beim nächsten anfragen. Falls dessen Sofa noch nicht belegt ist.

Die Schäden in der Gesell­schaft zu zählen reicht nicht

Viele lassen sich etwas ein­fallen und suchen selbst nach Lösungen. Manche Stu­denten enga­gieren sich ein wenig bei Pfar­reien oder sozialen Initia­tiven mit Senio­ren­treff­punkten und ‑akti­vi­täten. Dort sind oft einsame, alte Leute, die gern ein Zimmer für einen freund­lichen jungen Men­schen kos­tenlos oder für kleines Geld frei­machen. Sie freuen sich über Gesell­schaft und jemanden, der Besor­gungen für sie erledigt. Die um sich grei­fende Alters­armut lässt manchen Rentner, der ein Zim­merchen räumen kann, besser leben. Sowohl die Rentner, als auch die Stu­denten kann das vor Obdach­lo­sigkeit und Armut retten. Gerade in den Außen­be­zirken großer Städte gibt es viele alte, kleine Häuschen, die früher, vor 50 Jahren, einmal Dorf­kerne waren und von der Stadt über­wu­chert und ein­ge­meindet wurden, aber immer noch im Eigentum der alt gewor­denen Bewohner sind und wo kein Ver­mieter einen Unter­mieter ver­bieten kann.

Mit der fort­schrei­tenden Ver­armung der Deut­schen steigen die Arbeits­losen- und Obdach­lo­sen­zahlen. Mit dem Zählen der Opfer der herr­schenden Politik ist es nicht getan. Links­so­zia­lis­tische Mie­ten­deckel sind kon­tra­pro­duktiv, da sie Inves­ti­tionen in den Bau neuer Woh­nungen oder die Reno­vierung alter Bau­sub­stanz defi­zitär machen und so die Woh­nungs­knappheit weiter anheizen. Wenn sogar die Ber­liner Bau­ge­nos­sen­schaften aus den groß ange­kün­digten Ber­liner Bau­pro­jekten für die „Neuen Stadt­quar­tiere“ aus­steigen, weil sie durch die Mie­ten­deckel Mil­lio­nen­ver­luste ein­fahren würden, spricht das Bände. Sozia­lis­tische Plan­wirt­schaft endet erfah­rungs­gemäß immer in Mangelwirtschaft.

Hier zeigt sich auch die Kehr­seite der hyper­mo­ra­li­schen, ideo­lo­gi­schen Politik unter Frau Bun­des­kanz­lerin Dr. Merkel: Der unge­bremster Zuzug in die großen Städte durch unge­re­gelte Ein­wan­derung ist einer der wich­tigsten Gründe für die kata­stro­phale Wohn­raum­ver­knappung. Gegen staatlich finan­zierte Woh­nungen für Zuwan­derer haben die ein­kom­mens­schwä­cheren Ein­hei­mi­schen und die nicht sub­ven­tio­nierten Zuwan­derer von innerhalb der EU meist keine Chance mehr.

Die „Nacht der Soli­da­rität“ zum Zählen der Opfer dieser Politik ist sicher sinnvoll, um über­haupt valide Infor­ma­tionen zum Ausmaß des wach­senden Pro­blems zu erhalten. Aber in Zeiten, wo der Mit­tel­stand der Gesell­schaft durch diese Politik dras­tisch schrumpft und immer mehr Men­schen in Armut abgleiten, brauchen wir neue, kreative Ideen und Struk­turen, neuen Prag­ma­tismus, neue Freiheit, neue Wege — ohne links-ideo­lo­gi­schen Büro­kra­tismus, Bevor­mundung und Inves­to­ren­feind­lichkeit aus­zu­pro­bieren. Das Zählen und Erkennen der gesell­schaft­lichen Schäden mag ein Anfang sein.