Deutschland und Europa: Zeit für eine „bri­tische Rolle“ Deutschlands

Trifft die Rezession Deutschland, trifft sie auch Europa. Und damit eine Region, die

  • sich bis heute nicht von den Folgen von Finanz- und Euro­krise erholt hat.
  • noch immer nicht wahr­haben will, wie sehr der Brexit die Gemein­schaft schwächt.
  • bei den zen­tralen Ver­sprechen der Schaffung von Wohl­stand und der Sicherung der Außen­grenzen offen­sichtlich versagt.
  • wei­terhin die poli­ti­schen Schwer­punkte falsch setzt.

Die Eurozone, aber auch die EU sind denkbar schlecht auf eine neue Rezession vor­be­reitet. Die poli­ti­schen Span­nungen werden sich inten­si­vieren und es wird für die EZB zu einer immer grö­ßeren Aufgabe, das poli­tische Kon­strukt des Euro zu ver­tei­digen. Fällt Deutschland in eine Krise (kon­junk­turell, aber vor allem struk­turell, Stichwort Auto­mobil) und damit als Anker von Euro und EU aus, dürfte es tur­bulent werden. Hier rächt sich, dass in den letzten zehn Jahren keine ernst­haften Fort­schritte gemacht wurden. 

Kurze Erin­nerung: Warum der Euro nicht funktioniert

Leser von Stelter wissen, warum der Euro nicht funk­tio­niert. Nach einer Studie der US-Bank JP Morgan haben die Mit­glieds­länder der Wäh­rungs­union weniger mit­ein­ander wirt­schaftlich gemein als eine hypo­the­tische Wäh­rungs­union aller Länder der Welt, die mit einem „M“ beginnen. Gemessen wird dies an Kri­terien wie der Wett­be­werbs­fä­higkeit – vor allem an den Lohn­stück­kosten, den Löhnen und der Pro­duk­ti­vität, dem Gleichlauf der Wirt­schafts­zyklen und der Frage, ob sich die Mit­gleis­länder hier annähern, also, ob sie „kon­ver­gieren“.

Ver­schiedene Studien kommen zum gleichen Schluss. Hatten wir ab dem Beschluss der Ein­führung des Euro tat­sächlich eine „Kon­vergenz“, ent­wi­ckeln sich die Mit­glieds­länder mehr aus­ein­ander. Starke Länder – weil relativ pro­duk­tiver und inno­va­tiver – werden immer stärker, schwache schwächer. So der Befund des Inter­na­tio­nalen Wäh­rungs­fonds.[i]

Die Geschichte des Euro ist schnell erzählt. Wer sie genauer nach­voll­ziehen will, kann das hier tun:

STELTERS MAILBOX: Wie rette ich mein Geld vor dem Eurocrash?

  • Mit der Ein­führung des Euro begannen die Zinsen in ganz Europa zu sinken – in Richtung des immer schon deutlich tie­feren deut­schen Niveaus. Dahinter stand die Erwartung, dass der Euro ebenso stabil sein würde wie die D‑Mark, also die Infla­ti­onsrate deutlich sta­biler und tiefer als zuvor in Spanien, Italien, Frank­reich und Por­tugal. Da die Infla­ti­ons­raten aber nicht genauso schnell sanken, wie die Zinsen, wurden die Real­zinsen – also der Nomi­nalzins abzüglich der Infla­ti­onsrate – negativ, was einen starken Anreiz gab sich zu verschulden.
  • Während Länder wie Italien die Zins­sen­kungen dazu nutzen, den Staats­haushalt zu ent­lasten und so weniger Anpas­sungs­druck ver­spürten, kam es in anderen Ländern – vor allem in Por­tugal, Irland und Spanien – zu einem pri­vaten Ver­schul­dungsboom. Damit einher ging ein Boom im Immo­bi­li­en­markt, weil Banken nichts lieber finan­zieren als ver­meintlich risi­koarme Immo­bilien. Damit kam ein sich selbst ver­stär­kender Boom in Gang. Die Immo­bi­li­en­preise stiegen, zeigten wie sicher die Spe­ku­lation auf weiter stei­gende Preise war und führten so zu noch mehr kre­dit­fi­nan­zierter Nach­frage. Zugleich begann ein Bauboom, der wie­derum die gesamte Wirt­schaft sti­mu­lierte und die Nach­frage nach Immo­bilien noch weiter befeuerte.
  • Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Blase platzen musste. Aus­löser – aber nicht Ursache! – war das Ein­ge­ständnis Grie­chen­lands, deutlich höhere Staats­schulden zu haben als zuvor offi­ziell zuge­geben. Die ein­set­zende Ver­trau­ens­krise in den Euro konnte erst gestoppt werden, als Mario Draghi sein berühmtes Ver­sprechen abgab, „alles Erdenk­liche zu tun“, um den Euro zu ver­tei­digen, nicht, ohne zuvor grünes Licht aus Berlin dafür bekommen zu haben. Da niemand erfolg­reich gegen eine Notenbank spe­ku­lieren, die beliebige Mengen an eigener Währung in die Märkte pumpen kann, endete die Euro­krise damit. Zumindest der sichtbare Teil. In Wahrheit schwelt die Krise weiter und zwingt die EZB zu anhal­tender Niedrigzinspolitik.

Seit Beginn der Euro­krise ver­suchen die Länder, die Folgen der schul­den­fi­nan­zierten Party zu berei­nigen. Dies bedeutet, die Wett­be­werbs­fä­higkeit wie­der­zu­er­langen, die Banken finan­ziell wieder zu gesunden und die faulen Schulden, die sich im Boom ange­häuft haben, abzu­bauen. Dieser Prozess ist schmerzhaft und dauert. Vor allem führt er nicht zu einer wei­teren Annä­herung, sondern zu Divergenz.

Die Euro-Länder haben immer weniger mit­ein­ander gemein. Auf der einen Seite haben wir

  • Italien, das bereits auf zwei ver­lorene Jahr­zehnte zurück­blickt und im eigenen „japa­ni­schen Sze­nario“ geringen Wachstums feststeckt;
  • Spanien, das die Staats­schulden deutlich erhöhte, um so den tiefsten Ein­bruch zu verhindern;
  • Por­tugal, wo Staat und Private hoch ver­schuldet sind und das die geringste Inno­va­ti­ons­kraft aller Euro­länder aufweist
  • und schließlich Grie­chenland, das trotz Schul­den­schnitt und Hilfe der anderen Euro­länder immer noch eine hohe Staats­ver­schuldung vor sich her­schiebt.[ii]

Auf der anderen Seite haben wir Länder wie die Nie­der­lande und Deutschland, die auch dank des Euro an inter­na­tio­naler Wett­be­werbs­fä­higkeit gewinnen. Frank­reich hängt dazwi­schen, nicht so schwach wie die Kri­sen­länder, nicht so stark wie die öst­lichen Nachbarn.

Wie schon bei der latei­ni­schen Münz­union von 1865 muss man fest­stellen, dass sich hete­rogene Staaten mit natio­naler Sou­ve­rä­nität nicht über ein Geld­system inte­grieren lassen. Und wie damals kann man davon aus­gehen, dass der Euro noch länger exis­tiert, weil die Mit­glieds­länder die Kosten eines Aus­tritts scheuen.[iii]

Die Latei­nische Münz­union: ein Prä­ze­denzfall für den Euro

Auch heute wären die Kosten eines unge­ord­neten Zer­falls der Eurozone enorm. Ernst­hafte Studien rechnen mit einem Schock für das Welt­fi­nanz­system und die Welt­wirt­schaft, der größer wäre als die Finanz­krise. Deutschland wäre in mehr­facher Hin­sicht schwer getroffen. Die Exporte würden ange­sichts einer rela­tiven Auf­wertung der Deut­schen Mark ein­brechen, während zugleich die auf­ge­bauten For­de­rungen – nicht nur aber auch die TARGET2-For­de­rungen der Bun­desbank – deutlich an Wert ver­lören.[iv]

Es kann nicht wundern, dass die Politik dieses Sze­nario scheut. Das Problem ist nur, dass sie nicht handelt, um es zu ver­hindern. Alle Bemü­hungen, über gemeinsame Haftung (ESM, Ban­ken­union) und über mehr Umver­teilung (gemeinsame Arbeits­lo­sen­ver­si­cherung) den Euro zu sta­bi­li­sieren, müssen scheitern, weil sie nicht das erfor­der­liche Volumen erreichen können, so der IWF[v], und weil sie nichts an den grund­le­genden Kon­struk­ti­ons­mängeln des Euro ändern. Damit ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis es zu neuen Span­nungen und Krisen kommt. Eine Situation, die nach­haltig nicht funk­tio­nieren kann, wird auch nicht auf Dauer funktionieren.

Dabei wird das Problem über Zeit nicht kleiner, sondern größer. Die Schulden bleiben wei­terhin auf zu hohem Niveau, die Wirt­schaft wächst ange­sichts sta­gnie­render und bald schrump­fender Erwerbs­be­völ­kerung und geringen Pro­duk­ti­vi­täts­fort­schritten immer weniger. Eine Ent­wicklung, die nicht zum Happy End führen kann, wenn man nicht ent­schieden und deutlich gegen­steuert. Im eigenen Interesse muss Deutschland handeln und eine Sanierung der Eurozone voranbringen.

Kurze Erin­nerung: Warum die EU nicht funktioniert

Bevor wir dazu kommen, die mög­liche Rolle Deutsch­lands bei der Über­windung der Euro­krise zu defi­nieren, ein eben­falls kurz gehal­tener Blick auf den Zustand der EU.

Die EU hat es in den letzten 20 Jahren nicht geschafft, die selbst gesetzten Ziele zu erreichen. Im März 2020 haben die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs auf einem Son­der­gipfel in Lis­sabon ein Pro­gramm ver­ab­schiedet, mit dem die EU bis zum Jahr 2010 zum „wett­be­werbs­fä­higsten und dyna­mischsten wis­sens­ge­stützten Wirt­schaftsraum der Welt zu machen“. Ziel war es, die Pro­duk­ti­vität und Inno­va­ti­ons­kraft relativ zu Japan und vor allem den USA zu verbessern.

Nachdem die Ziele nicht erreicht wurden, ver­ab­schiedete die EU eine „Nach­folge-Stra­tegie“, um bis 2020 die Ziele doch noch zu rea­li­sieren: EUROPA 2020 – Eine Stra­tegie für intel­li­gentes, nach­hal­tiges und inte­gra­tives Wachstum.[vi] Doch der Erfolg blieb aus.

  • Die For­schungs­aus­gaben sollten EU-weit bei drei Prozent vom BIP liegen. Tat­sächlich betragen sie 2,07 Prozent. Nur Schweden, Öster­reich, Dänemark und Deutschland liegen über der gefor­derten Schwelle.[vii]
  • Auch bei der Anzahl der Patente relativ zur Bevöl­ke­rungszahl liegen die Staaten der EU deutlich hinter den Wett­be­werbern in Asien, den USA aber auch der Schweiz.[viii]
  • Nur zwölf der füh­renden 100 Tech­no­lo­gie­kon­zerne der Welt haben ihren Sitz in einem EU-Land. In den USA sitzen 45, in Japan und Taiwan jeweils 13.[ix]
  • Die Zahl der Schul­ab­brecher sollte EU-weit nicht mehr über zehn Prozent liegen. Deutschland, aber noch mehr Spanien, Por­tugal und Italien ran­gieren deutlich über dem Niveau.
  • Es ist nicht gelungen, Uni­ver­si­täten aus der EU in den Top 20 der welt­besten Uni­ver­si­täten zu haben. Nach dem Brexit befindet sich keine EU-Uni­ver­sität unter den Top 20, Kopen­hagen ist auf Platz 26.[x]
  • Auch vom Ziel eines Breit­band­an­schlusses für jedermann im Jahr 2013, sehr viel höheren Internet-Geschwin­dig­keiten –30 Mbps (oder mehr) – bis 2020 und einen Inter­net­an­schluss von über 100 Mbps für 50 Prozent oder mehr aller euro­päi­schen Haus­halte sind wir weit entfernt.
  • Das Wachstum der Pro­duk­ti­vität war in der EU noch schlechter als beim Rest der Welt. Seit dem Jahr 2000 stieg das reale Pro-Kopf-Ein­kommen in Süd-Korea um 63 Prozent, in den USA um 27 Prozent und sogar in Japan um 17 Prozent. Die Nie­der­lande sind das einzige der grö­ßeren EU-Länder,  das mit einem Zuwachs von 18 Prozent halbwegs mit­halten kann. Frank­reich und Spanien schafften 14 Prozent, Deutschland 13 Prozent und in Italien sank das Pro-Kopf-Ein­kommen seit dem Jahr 2000 real um drei Prozent![xi]

Es dürfte unstrittig sein, dass die EU in den letzten Jahren an Wett­be­werbs­fä­higkeit ver­loren, nicht gewonnen hat. Als Indi­kator mag die Ent­wicklung des Anteils am Welt-BIP dienen: Er muss sinken, weil die Schwel­len­länder, namentlich China und Indien, so stark auf­holen. Dennoch zeigt der Markt­an­teils­verlust der EU von weit über 20 Prozent auf heute rund 16 Prozent deutlich, dass sie auf­grund des Ver­sagens bei der Erhaltung von Wett­be­werbs­fä­higkeit und Wirt­schafts­kraft auf der inter­na­tio­nalen Bühne rasch an Gewicht verliert.

Für die Bürger bedeutet das konkret, dass ein wesent­liches Ver­sprechen der EU nicht ein­gelöst wird: die Schaffung von wei­terem Wohl­stand. Im Gegenteil, die EU steht vor den­selben exis­ten­zi­ellen Her­aus­for­de­rungen wie Deutschland: absehbar schrump­fende Erwerbs­be­völ­kerung, unge­deckte Ver­sprechen für die alternde Gesell­schaft in Bil­lio­nenhöhe[xii], feh­lende Pro­duk­ti­vi­täts­zu­wächse und Innovationskraft.

Nicht wenige Beob­achter sehen deshalb die EU auf dem Weg in ihr eigenes „japa­ni­sches Sze­nario“. In der Tat sind die Par­al­lelen zu Japan immer deut­licher – neben den bereits genannten, auch die hohe Ver­schuldung und die feh­lende Bereit­schaft, ein offen­sichtlich krankes Ban­ken­system ernsthaft zu sanieren. [xiii]

Inves­toren und Finanz­märkte stellen sich immer mehr darauf ein. Dabei hinkt der Ver­gleich mit Japan in ent­schei­denden Dimensionen:

  • Die EU ist nicht ein ein­zelner Staat, sondern ein Zusam­men­schluss ver­schie­dener Staaten, die zunehmend mehr auf die eigenen Inter­essen achten.
  • Die Bevöl­ke­rungen der Mit­glieds­länder sind nicht so homogen und ver­mutlich auch nicht so lei­dens­bereit wie die Japaner.
  • Der Euro legte den Mit­glieds­ländern ein straffes Gerüst an, das Anpas­sungen noch schwerer machte und deshalb das japa­nische Sze­nario weiter verschärft.
  • Packen wir dazu noch das Ver­sagen der Politik, eine stra­te­gische Antwort auf den sich ver­schär­fenden Migra­ti­ons­druck – hier Schrumpf­ver­greisung, jedoch vor unseren Toren Bevöl­ke­rungs­explosion – zu finden, sind wir nicht weit von einer exis­ten­zi­ellen Krise der EU entfernt.

Trotz aller berech­tigten Kritik an der EU, ist es jedoch in unserem größten Interesse, eine Krise und einen per­spek­ti­visch abseh­baren Zerfall der EU zu verhindern.

Deutschland muss führen, aber anders als früher

Die wirt­schaft­liche Logik für eine enge Zusam­men­arbeit der Europäer liegt auf der Hand. Gemeinsam haben sie poli­tisch inter­na­tional mehr Gewicht, der Bin­nen­markt ist der größte der Welt und damit stellt sich jedes Land besser als allein.

Der Aus­tritt Groß­bri­tan­niens wider­spricht dieser Logik offen­sichtlich. Dennoch kam es bekanntlich zum Brexit und auch wenn es Hoffnung gibt, das Land künftig nahe an der EU zu halten – gerade wegen der enormen mili­tä­ri­schen Bedeutung und der engen Han­dels­be­zie­hungen –, ist der Aus­tritt ein Warn­signal für die EU. Scheitert sie weiter dabei, den theo­re­ti­schen Nutzen prak­tisch zu rea­li­sieren und für die Bürger spürbar zu machen, wird der Druck wachsen. Ein wirt­schaftlich erfolg­reiches Groß­bri­tannien nach dem Aus­tritt ist zwei­fellos einer der größten Alb­träume in Brüssel.

Deutschland muss deshalb seine in den letzten Jahren für gewöhnlich abwar­tende Rolle auf­geben und ver­suchen, die EU und eng damit ver­bunden, den Euro zu sanieren. Dies aber meiner Meinung anders, als es hier poli­tisch dis­ku­tiert wird. Ein breiter Konsens unter deut­schen Poli­tikern lautet: Wir brauchen mehr Inte­gration bei jedem Problem der EU und wir sollten bereit sein, mehr in den Gemein­schaftstopf ein­zu­zahlen. Begründet wird das mit dem großen wirt­schaft­lichen Nutzen, den wir aus der EU (und dem Euro) zögen.

Abge­sehen davon, dass es mit dem wirt­schaft­lichen Nutzen kei­neswegs so ein­deutig ist, wie behauptet[xiv], sind erheb­liche Zweifel ange­bracht, dass die Pro­bleme der EU mit mehr Umver­teilung und mehr Inte­gration wirklich zu lösen sind. Die Argu­men­tation der Politik erinnert an den Phi­lo­sophen Paul Watz­lawick, der treffend fest­stellte, dass, wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, in jedem Problem einen Nagel sieht. Für die EU und die EU-fokus­sierten Poli­tiker ist die Antwort auf jede Krise ein „Mehr“ an Inte­gration. Doch das ist weder richtig, noch ent­spricht es den Wün­schen der Bevöl­kerung.[xv] Aus diesem Grunde muss die EU dringend umsteuern, will sie sich selbst erhalten und den Nutzen für die Bürger, den es gibt.

Mit dem Weggang Groß­bri­tan­niens fehlt auf Ebene der EU eine wichtige Stimme für den Gedanken des Wett­be­werbs, der Markt­wirt­schaft und der Sub­si­dia­rität. Die Mehrheit der Mit­glieds­staaten steht in einer eher plan­wirt­schaft­lichen und zen­tra­lis­ti­schen Tra­dition. Nicht zufällig hat der Ökonom Hans-Werner Sinn gefordert, den Vertrag von Lis­sabon zu ändern, um den ver­än­derten Stimm­ge­wichten in der EU nach dem Aus­tritt Rechnung zu tragen. Ohne Groß­bri­tannien liegt die Mehrheit der Stimmen eher bei den süd­lichen Ländern und Frankreich.

Für Deutschland bedeutet dies, dass wir uns nicht mehr wie früher hinter den Briten ver­stecken können, wenn es um bestimmte Themen geht. Vor allem bei Bud­get­fragen und Ver­suchen, mehr Macht nach Brüssel zu ver­lagern, war in dieser Hin­sicht auf die Briten Verlass. Da es offen­sichtlich ist, dass die Pro­bleme der EU sich nicht einfach nur durch mehr Geld und mehr Zen­tra­li­sierung lösen lassen, muss nun Deutschland die Rolle der öko­no­mi­schen Ver­nunft ein­nehmen. Ein erheb­licher Rol­len­wechsel – dessen bin ich mir bewusst – aber nur so dürfte es gelingen, die EU erfolg­reich in die Zukunft zu führen.

Konkret bedeutet dies natürlich, dass wir zunächst unsere Haus­auf­gaben im Inland machen. Denn nur, wenn wir den Wohl­stand und die Wirt­schafts­kraft Deutsch­lands erhalten, hat die EU eine Zukunft. Die Erwartung, dass künftig die anderen Länder Transfers nach Deutschland leisten, ist eine Illusion. Ohne ein starkes Deutschland ist die EU Geschichte.

Damit haben wir aber auch den erfor­der­lichen Hebel für Reformen. Diese umfassen:

  • Stei­gerung des Wirt­schafts­wachstums durch Struk­tur­re­formen, die den Namen ver­dienen. Weitere zehn Jahre, in denen die EU, die selbst gesteckten Ziele nicht erreicht, können wir uns nicht leisten.
  • Prio­rität auf Schaffen von Wohl­stand durch eine Änderung der poli­ti­schen Agenda der EU. Das heutige Ziel­system fokus­siert auf Regu­lieren, Plan­wirt­schaft (siehe Kli­ma­po­litik) und Unter­drücken von Wettbewerb.
  • Dezen­tra­li­sieren statt Zen­tra­li­sierung von Ent­schei­dungen in Europa. So viel Sub­si­dia­rität wie möglich. Pro­gramm für das Rück­führen von Auf­gaben auf das Niveau der Nationalstaaten.
  • Bund von Natio­nal­staaten statt Super­staat durch Aufgabe der Idee der zuneh­menden Zen­tra­li­sierung. Die Bürger müssen mehr an Ent­schei­dungen beteiligt werden.
  • Mehr Wett­bewerb statt weniger zwi­schen den Mit­glieds­ländern. Es muss sich lohnen, Initiative zu ergreifen und den eigenen Standort zu stärken. Gerade der intensive Wett­bewerb der Länder Europas in den ver­gan­genen Jahr­hun­derten dürfte ein Grund für den wirt­schaft­lichen Auf­stieg der Region gewesen sein.
  • Wirk­sames Begrenzen der Zuwan­derung durch Schutz der Außen­grenzen und Ori­en­tieren der Zuwan­derung an den eigenen öko­no­mi­schen Interessen.
  • Demo­kra­ti­sieren der Insti­tu­tionen: Es kann es nicht sein, dass die Stimmen der ein­zelnen Bürger im EU-Par­lament so unter­schied­liches Gewicht haben. Dies geht vor allem dann nicht, wenn man dem Par­lament mehr Rechte ein­räumen möchte.

Zielbild wäre eine EU, die sich auf wenige Kern­auf­gaben beschränkt, vor allem den Bin­nen­markt, gemein­samen Schutz der Außen­grenzen und Ver­tei­digung. Dieser Wandel wäre möglich, aller­dings setzt er eine Abkehr der EU-Eliten vom bis­he­rigen Kurs voraus. Wahr­schein­licher ist, dass die EU am bestehenden Kurs festhält und damit scheitert – mit weitaus ver­hee­ren­deren Kon­se­quenzen als ein frei­wil­liger Wandel je haben könnte.

Zwin­gende Vor­aus­setzung für eine Reform der EU muss eine Kor­rektur des Eurofehlers sein. Denn wie gezeigt, bewirkt der Euro mehr eine wirt­schaft­liche – und damit absehbar auch poli­tische – Spaltung der EU als eine engere Bindung. Zwar ist die Euro­krise erst mal vom bil­ligen Geld der EZB unter­drückt, doch kann auch die EZB die zugrunde lie­genden Pro­bleme damit nicht lösen. Wir brauchen eine Lösung, die die unzu­rei­chende Wett­be­werbs­fä­higkeit ein­zelner Mit­glieds­länder und das Problem der hohen Ver­schuldung von Staaten und Pri­vaten bereinigt. 

Keine ein­fache Fra­ge­stellung, vor allem aus Sicht der Politik, da jeder Versuch in Richtung einer Lösung zu gehen, höchst unpo­pulär sein dürfte. Deshalb auch das der­zeitige Spiel auf Zeit, in der Hoffnung, dass ein Wunder geschieht und das Problem ver­schwindet. Das wird aber nicht passieren.

Seit Jahren plä­diere ich für einen euro­päisch koor­di­nierten Schul­den­schnitt. Mitt­ler­weile hat sich die EZB so weit von ihrem ursprüng­lichen Mandat – Sicherung der Geld­wert­sta­bi­lität – ent­fernt.  Maß­nahmen wie Heli­kopter-Geld, also die direkte Finan­zierung von Staats­aus­gaben durch die EZB, sind absehbar. Deshalb liegt es nahe, die Idee eines euro­päi­schen Schul­den­fonds wieder auf­zu­greifen. Dabei ver­einen die Euro­länder Staats- und Pri­vat­schulden oberhalb eines bestimmten Niveaus in einem gemein­samen Topf, der von der EZB refi­nan­ziert wird. Dabei kann die Notenbank auf Zins und Tilgung ver­zichten und so die Schulden fak­tisch aus­buchen. Diese Über­legung findet inter­na­tional immer mehr Anhänger und dürfte von der Bank of Japan als erste der großen Noten­banken schon in diesem Jahr­zehnt vor­ge­macht werden. Die Eurozone sollte den­selben Weg gehen.

Ich weiß, dass der­artige Über­le­gungen gerade in Deutschland auf hef­tigen Wider­spruch treffen. Vor allem wird es als unge­recht emp­funden, wenn jenen, die sich selbst in Not gebracht haben, so geholfen wird. Auch befürchtet man eine Wie­der­holung. Dem könnte man ent­ge­gen­treten, in dem Deutschland eben­falls ent­spre­chend Schulden in den Fonds ein­bringt und zum anderen, in dem man die Ver­träge der EU und des Euro so klärt, dass es ein­deutig eine Ein­mal­aktion bleibt.

Außerdem sollte die EU ein­führen, dass Par­al­lel­wäh­rungen in den Mit­glieds­ländern ermög­licht werden, even­tuell sogar in allen. Der Euro bliebe erhalten, aber es wäre ein halbwegs ele­ganter Weg, um eine größere Schwan­kungs­breite zwi­schen den Wäh­rungen und damit ein Ventil zur Anpassung wieder zu öffnen, das seit der Euro­ein­führung ver­stopft ist. Schnell würden die lokalen Wäh­rungen dominieren.

Der Traum der Europäer, neben dem US-Dollar eine domi­nie­rende Welt­währung zu schaffen, ist gescheitert. Der Euro hat heute einen Anteil an den Welt­wäh­rungs­re­serven, der dem der D‑Mark vor der Euro­ein­führung ent­spricht. Der prak­tische Nutzen einer ein­heit­lichen Währung ist in der heu­tigen Welt glo­baler Kapi­tal­märkte begrenzt, können Unter­nehmen sich doch gegen Wech­sel­kurs­ri­siken absichern.

Die Alter­native zur fak­ti­schen Auf­lösung der Eurozone wäre eine ver­klei­nerte Wäh­rungs­union jener Länder, die öko­no­misch gut zusam­men­passen. Um Deutschland herum wären das vor allem die Nie­der­lande und Öster­reich. Frank­reich ist als Grenzfall zu sehen.

Ist es nicht möglich, den Euro auf diese Weise geordnet abzu­wi­ckeln, sollte Deutschland den Schwer­punkt der Anstren­gungen auf die Reformen der EU und den Schul­den­til­gungs­fonds legen. Höhere Wachs­tums­raten dank höherer Pro­duk­ti­vität und Inno­va­ti­ons­kraft in allen Mit­glieds­ländern, könnten helfen, den Euro zu sta­bi­li­sieren. Wahr­scheinlich ist dies ange­sichts der Ent­wick­lungen der letzten Jahre nicht.


[i] Inter­na­tio­naler Wäh­rungs­fonds, „Eco­nomic Con­ver­gence in the Euro Area: Coming Tog­ether or Drifting Apart?“, 23. Januar 2018, abrufbar unter: https://www.imf.org/en/Publications/WP/Issues/2018/01/23/Economic-Convergence-in-the-Euro-Area-Coming-Together-or-Drifting-Apart-45575

[ii] Bei Grie­chenland ist aller­dings anzu­merken, dass die Schulden real deutlich geringer sind, wenn man sie statt zu nomi­nellen Werten zu Markt­preisen bewertet. Dies liegt daran, dass Zinsen und Til­gungen sehr groß­zügig ver­einbart wurden, worin ein fak­ti­scher, aber für die Bürger der Kre­dit­ge­ber­länder, allen voran wir Deut­schen, nicht offen­sicht­licher Schul­den­erlass liegt. Nach­zu­lesen bei beyond the obvious, „Die Lüge von der gewinn­brin­genden Rettung“,  Juni 2018, abrufbar unter: https://think-beyondtheobvious.com/stelters-lektuere/best-of-bto-2018-griechenland-die-luege-der-gewinnbringenden-rettung/

[iii] Flossbach von Storch, „Die latei­nische Münz­union – ein Prä­ze­denzfall für den Euro“, 16. Mai 2019, abrufbar unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/fileadmin/user_upload/RI/Studien/files/studie-190516-die-lateinische-muenzunion.pdf

[iv] Deutsche Bank, „Under­standing Euro-Zone break-up – How much would the Euro drop”, 9. März 2017, abrufbar unter: https://think-beyondtheobvious.com/wp-content/uploads/2017/03/DB-Understanding-Eurozone-break-up-09.03.17.pdf

[v] Inter­na­tio­naler Wäh­rungs­fonds, „Towards a fiscal Union for the Euro Area“, 25. Sep­tember 2013, abrufbar unter: https://www.imf.org/en/Publications/Staff-Discussion-Notes/Issues/2016/12/31/Toward-A-Fiscal-Union-for-the-Euro-Area-40784

[vi] Euro­päische Kom­mission, EUROPA 2020 – Eine Stra­tegie für intel­li­gentes, nach­hal­tiges und inte­gra­tives Wachstum“, 3. März 2010, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eu2020/pdf/COMPLET%20%20DE%20SG-2010–80021-06–00-DE-TRA-00.pdf

[vii] Eurostat, „Leichter Anstieg der FuE-Aus­gaben in der EU im Jahr 2017 auf 2,07 % des BIP“, 10. Januar 2019, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/9483602/9–10012019-AP-DE.pdf/054a5cb0-ac62-4ca4-a336-640da396b817

[viii] WIPO World Intellectual Pro­perty Orga­nization, „World Intellectual Pro­perty Indi­cators 2019“, abrufbar unter: https://www.wipo.int/edocs/pubdocs/en/wipo_pub_941_2019.pdf

[ix] Thomson Reuters: „The Top 100 Global Tech­nology Leaders“, abrufbar unter: https://www.thomsonreuters.com/content/dam/ewp‑m/documents/thomsonreuters/en/pdf/reports/thomson-reuters-top-100-global-tech-leaders-report.pdf

[x] Shanghai Index, „Aca­demic Ranking of World Uni­ver­sities“, abrufbar unter: http://www.shanghairanking.com/ARWU2019.html

[xi] Gemäß Daten der Weltbank. Zur Berechnung siehe beyond the obvious, „10 Jahre Lis­sabon-Vertrag – Wie ist die wirt­schaft­liche Lage der EU heute? Fakten zum Nach­lesen“, 1. Dezember 2019, abrufbar unter: https://think-beyondtheobvious.com/10-jahre-lissabon-vertrag-wie-ist-die-wirtschaftliche-lage-der-eu-heute-fakten-zum-nachlesen/

[xii] European Com­mission, „Fiscal Sus­taina­bility Report 2018“, Januar 2019, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/economy-finance/ip094_en_vol_1.pdf

[xiii] beyond the obvious, „Folgt Europa Japan in das defla­tionäre Sze­nario?“, 6. Mai 2019, abrufbar unter: https://think-beyondtheobvious.com/stelters-lektuere/folgt-europa-japan-in-das-deflationaere-szenario‑i/

[xiv] Aus­führlich in: Daniel Stelter, „Das Märchen vom reichen Land“, Finanzbuch Verlag, München 2018

[xv] Das ist zumindest der Schluss, den man aus Umfragen ziehen muss. Während 76 Prozent der Deut­schen in der Mit­glied­schaft in der EU etwas Gutes sehen, sind es nur knapp mehr als 50 Prozent der Fran­zosen und 36 Prozent der Ita­liener. Damit ist die Unter­stützung nicht so stark, wie man sie erwarten müsste mit Blick auf die Her­aus­for­de­rungen, vor denen die EU steht. European Par­liament, „Spring Euro­ba­ro­meter 2019“, S. 16, abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/at-your-service/files/be-heard/eurobarometer/2019/closer-to-the-citizens-closer-to-the-ballot/report/en-eurobarometer-2019.pdf


Dr. Daniel Stelter –www. think-beyondtheobvious.com