Vera Lengsfeld: Der unwi­der­steh­liche Reiz der Freiheit – Dan­kesrede auf dem 3. Neuen Ham­bacher Fest

Lieber Herr Otte, liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,

zual­lererst möchte ich sagen, wie glücklich ich bin, hier sein zu dürfen. Nicht nur der schönen Umgebung wegen. Prof.Otte hat diesen wun­der­baren Ort nun schon zum dritten Mal zu einem magi­schen Frei­heitsort gemacht. Danke!

Wir befinden uns im Jahre 2020 nach Chr. Ganz Deutschland ist von den poli­tisch-kor­rekten Ideo­logen besetzt… Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeug­samen Deut­schen bevöl­kertes Dorf hört nicht auf, den Ein­dring­lingen Wider­stand zu leisten. Das Leben ist nicht leicht für die poli­tisch-kor­rekten Ideo­logen, die als Besatzung in den befes­tigten Lagern Welt­of­fenheit, Toleranz, Inklu­si­vität, Buntheit und Vielfalt liegen… Sie haben noch die Macht, aber sie zittern, denn sie fürchten Wider­spruch und Argu­mente. Sie schießen mit immer grö­ßeren Ver­bal­ka­nonen auf wirk­lichen oder auch nur ver­meint­lichen Wider­spruch, aber sie treffen nicht, denn die Gedanken sind frei, sie fliegen vorbei und die Legionäre wissen nie, wo sie sich nie­der­lassen und ihre Wirkung entfalten.

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Nein, ich habe keine Lust, über die Mäch­tigkeit unserer Gegner und ihre immer per­fider wer­denden Methoden zu klagen, denn sie haben sich längst ad absurdum geführt. Sie erinnern mich an die Ritter des 14. Jahr­hun­derts, deren einzige Inno­vation es war, ihre Rüstung immer mehr zu ver­stärken, um sie unver­wund­barer zu machen. Das Ergebnis war, dass so ein gepan­zerter Ritter, wenn er vom Pferd fiel, unfähig war, wieder auf­zu­stehen. Bei Boden­ge­fechten musste er von einem oder zwei Pagen gestützt werden, denn wenn er hinfiel, kam er ohne fremde Hilfe nicht mehr auf die Beine. Von da an ging es mit dem Rit­tertum zu Ende.

Was sagt uns das, in Bezug auf die Kämpfe, die wir in den Zeiten von Corona bestehen müssen? Der Sänger Wolf Biermann hat das in der DDR-Dik­tatur so for­mu­liert: „Du lass dich nicht ver­härten, in dieser harten Zeit, die allzu hart sind brechen, die allzu spitz sind stechen und brechen ab zugleich. Du lass Dich nicht ver­bittern, in dieser bittren Zeit… lass dich nicht erschrecken, in dieser Schre­ckenszeit, das wollen sie doch bezwecken, dass wir die Waffen strecken, noch vor dem großen Streit“.

Nein, wir wollen die Waffen nicht strecken und uns nicht aus Angst vor dem Virus von unseren Mit­men­schen ent­fremden lassen.

Wenn die Geschichte eins lehrt, dann, dass keine Dik­tatur ewig währt. Das ist die unsterb­liche Bot­schaft der Fried­lichen Revo­lution von 1989, als eine bis an die Zähne bewaffnete atomare Super­macht und ihre Vasallen prak­tisch über Nacht ver­schwanden, weil ihr mas­senhaft die Legi­ti­mation ent­zogen wurde. Damals wurde eine poli­tische Klasse, die eben noch unbe­siegbar schien, ihrer Macht beraubt. Das hat die Herr­schenden in den west­lichen Demo­kratien kei­neswegs erfreut. Die haben richtig geschluss­folgert, dass ihnen ein ähn­liches Schicksal blühen könnte. Deshalb wurde alles getan, die Bedeutung und vor allem die Bot­schaft der Fried­lichen Revo­lution her­un­ter­zu­spielen. Das Problem war, dass die Dik­ta­turen des 20. Jahr­hun­derts ihre Macht­mittel: Lager, Gefäng­nisse und Ermordung ihrer Gegner gründlich dele­gi­ti­miert hatten. Es musste nach sub­ti­leren Unter­drü­ckungs­in­stru­menten gesucht werden. Da fand sich im Nachlass der Dik­ta­turen manch Brauchbares.

Als wir am Abend des 2. Januar 1992, das war der Tag, an dem die Sta­si­akten geöffnet wurden, nach einem Tag Lektüre vor der Gauck-Behörde auf der Straße standen und uns über die Maß­nahme- und Zer­set­zungs­pläne der Staats­si­cherheit aus­tauschten, sagte Bärbel Bohley, die bekann­teste Bür­ger­recht­lerin der DDR zu mir, dass sie sicher sei, dass die Sta­si­akten von allen Möch­tegern-Herr­schern genau stu­diert werden würden. Wir würden es in Zukunft mit der Anwendung der von der Stasi ent­wi­ckelten Zer­set­zungs­me­thoden zu tun haben. Bohley hat recht behalten. Die Blau­pause für den heu­tigen Umgang mit Anders­den­kenden ist tat­sächlich in der Anleitung zur Zer­setzung von „feindlich-nega­tiven Ele­menten“, das waren Leute wie Bohley und ich, heute abwech­selnd Rechte, Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker, Ras­sisten oder Nazis genannt werden. Wie absolut sinn­ent­leert diese Begriffe sind, sieht man schon daran, dass inzwi­schen laut Grüner Jugend Kli­ma­leugnung auch ras­sis­tisch ist.

Das zeigt aber genau die Schwäche der Poli­tisch-Kor­rekten. Wer so sub­stanzlos ist, muss die Debatte fürchten, wie der Teufel das Weih­wasser. Also halten wir und nicht mit Beteue­rungen auf, kein Rassist oder Nazi zu sein, sondern hauen wir ihnen ihre Absur­di­täten um die Ohren.

Wir haben keine öffent­liche Debatte mehr. An ihre Stelle ist ein ver­queres, aber dafür tod­ernstes Spek­takel getreten. Vor unser aller Augen geraten die Maß­stäbe der Beur­teilung, die Stan­dards, aus den Fugen.

Dietrich Bon­hoeffer hat zu seiner Zeit eine ähn­liche Erfahrung gemacht:

„Die große Mas­kerade des Bösen hat alle ethi­schen Begriffe durch­ein­an­der­ge­wirbelt. Dass das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Not­wen­digen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tra­dierten ethi­schen Begriffswelt Kom­menden schlechthin ver­wirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestä­tigung der abgrün­digen Bosheit des Bösen.“

Die Ideo­logen, die keine, schon gar keine guten, keine guten Argu­mente haben, ver­suchen mit Verweis auf Iden­tität, Gefühl und das per­sön­liche Emp­finden recht zu bekommen. Das gelingt, weil es eine folgsame Schar von wil­ligen Helfern gibt, die sich allzu gern an die gerade aus­ge­ge­benen Parolen schmiegen. Sie handeln in Anlehnung an das Hegelsche Diktum, wenn die Tat­sachen nicht mit der Theorie über­ein­stimmen – umso schlimmer für die Tat­sachen. Wer auf der ver­meintlich rich­tigen Seite steht, für den gibt es nur eine Ursache für den Kli­ma­wandel, aber dafür 60 oder mehr ver­schiedene Geschlechter. Da solche Behaup­tungen sichtbar nicht mit der Rea­lität über­ein­stimmen, müssen sie irgendwie manifest gemacht werden. In der Geschlech­ter­frage sind nun die Nie­der­lande vor­an­ge­gangen. Das Geschlecht soll nicht mehr im Per­so­nal­ausweis stehen. Die CDU, die sich zur linken Zeit­geist­partei ver­bogen hat, ist gerade nicht ganz auf der Höhe des Zeit­geistes. Sie will eine Frau­en­quote von 50% ein­führen. Da fragt am sich bang, wo bleibt die Gerech­tigkeit für die anderen Geschlechter? Wenn schon Quote, dann bitte für alle 60 oder mehr Geschlechter!!

Die neue Kon­for­mität, die sich unter dem Deck­mantel der Poli­tical Cor­rectness aus­breitet ist einer­seits alar­mierend. Ande­rer­seits ist beru­higend, dass, wer die Kon­fron­tation von Ideen ver­hindert, dies aus Angst vor der Schwäche des eigenen Stand­punkts tut. Deshalb ver­suchen die poli­tisch-kor­rekten Schwäch­linge die freie Rede mit aller Macht zu unter­drücken. Freiheit, allen voran Mei­nungs­freiheit, ist aber die Essenz jeder Demo­kratie, die diesen Namen ver­dient. Wenn die Mei­nungs­freiheit abge­schafft ist, sterben auch alle anderen Frei­heiten. Wir können das aktuell gerade beob­achten, wie die Bewe­gungs- und Rei­se­freiheit dras­tisch ein­ge­schränkt wird. Mit dem Abstands­gebot wird der zwi­schen­mensch­liche Kontakt unter­bunden. Außerdem wird die poli­tisch erzeugte Corona-Krise aus­ge­nutzt, um den Ungeist der poli­ti­schen Kor­rektheit weiter in die Gesell­schaft zu treiben. Dieser Ungeist metasta­siert sich gerade durch Uni­ver­si­täten, den Kul­tur­be­trieb, Redak­ti­ons­stuben bis hin in die Politik. Die Öffentlich-Recht­lichen Mode­ra­toren bemühen sich um eine gen­der­ge­rechte Sprache. Jetzt wird sogar in den Nach­richten das Gen­der­sternchen mit­ge­sprochen: Hörer innen. In Behör­den­pa­pieren und in Zei­tungen wird das Gen­der­sternchen zum Alltag. Was können, was müssen wir dagegen tun?

Im Grunde müssen wir das Ein­fache tun, was manchmal schwer zu machen ist. Wir müssen unsere eman­zi­pa­to­ri­schen Errun­gen­schaften ver­tei­digen. Wir müssen darauf bestehen, uns in unsere eigenen Ange­le­gen­heiten ein­zu­mi­schen. Es gibt nur einen öffent­lichen Debat­tenraum, den dürfen wir nicht auf­geben. Die Stan­dards der Debatte sind in Anlehnung an die Theorien John Stuart Mills und das Theorem des «Markt­platzes der Ideen» (Richter Oliver Wendell Holmes) in den Ver­fas­sungen der Länder der freien Welt ver­ankert worden: Die freie Debatte über alle Themen dient der Wahr­heits­findung. Freie Debatte meint den Prozess der Kol­lision unter­schied­lichster Mei­nungen, gleich­gültig ob diese pro­vokant, ver­letzend oder falsch emp­funden werden. In der Debatte werden die Argu­mente gegen­ein­ander abge­wogen. Am Ende findet sich idea­ler­weise, aber nicht zwingend, ein Kom­promiss. Diesen Prozess der Erkennt­nis­ge­winnung gibt es seit Aris­to­teles. Er ist maß­geblich vom Logos, also von Ratio­na­lität bestimmt.

Im poli­tisch-kor­rekten Dogma verhält es sich umge­kehrt: Hier steht die Wahrheit in Form der Doktrin bereits fest, weshalb Debatten unter­bunden werden. Der Debat­tenraum wird im Namen dieser Ideo­logie immer weiter verengt. Ein Mittel dazu sind Ein­führung immer neuer Verbote, dieses oder jenes Wort nicht mehr zu benutzen, für nicht korrekt erklärte Begriffe zu ver­meiden. Am Ende erscheint die Doktrin als einzig neuer zuläs­siger Mei­nungs­kor­ridor. Wir erleben hier einen Prozess, den schon Nietzsche in seiner «Genea­logie der Moral» beschrieben hat. Er bezeichnete es als «creatio ex nihilo» der mora­li­schen Begriffe. Der poli­tisch-kor­rekte Moralist hat seine Vor­ur­teile ver­in­ner­licht. Aus­gehend von diesen Vor­ur­teilen wird dik­tiert, welches die „guten“ Kol­lektive (LGBT, Frauen, Black lives, mar­gi­na­li­sierte Gruppen) und schlechte Kol­lektive (alte weiße Männer, Per­sonen rechts von links) sind. Das ent­scheidet dann über Zulassung zur öffent­lichen Debatte. Inzwi­schen wird aber immer häu­figer gesagt, dass man mit Ange­hö­rigen der Schlechten Kol­lektive gar nicht mehr reden soll. Abwei­chende Äuße­rungen werden mit der latenten Androhung von Shit­s­torms oder Kar­rie­ren­ach­teilen sank­tio­niert. Das führt zu einer Nar­ko­ti­sierung des Debat­ten­raums und einer Omertà der Intellektuellen.

Inzwi­schen werden die Grenzen so eng gezogen, dass es auch Mit­glieder der guten Kol­lektive trifft.

Kürzlich hat es in Kanada eine mar­xis­tische Femi­nistin erwischt.

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An der Uni­ver­sität von Alberta wurde Kathleen Lowrey, Pro­fes­sorin für Anthro­po­logie an der gesell­schafts­wis­sen­schaft­lichen Fakultät auf­grund anonymer Beschwerden gefeuert.

Lowrey, eine beken­nende Mar­xistin und radikale Femi­nistin hatte fol­gende „radikale und extre­mis­tische“ Ansichten geäußert: Frauen sind Frauen, Männer sind keine Frauen, denn sie haben keine Vagina und können nicht gebären. Als ihre Stu­denten das hörten, fühlten sie sich „unsicher“ und wagten es nicht mehr Anthro­po­logie als Hauptfach zu wählen.

Lowreys Ver­hängnis war, dass sie eine gen­der­kri­tische Femi­nistin ist. Sie glaubt nicht daran, dass Geschlechter nur Kon­strukte seien. Was gestern noch common sense im Femi­nismus war, dass es Frauen gibt, die benach­teiligt werden, gilt heute bei den „Pro­gres­siven“ als transphob und muss bestraft werden.

Damit sind die Poli­tisch-Kor­rekten im geis­tigen Sta­li­nismus ange­langt. Unter Stalin wurde die Kom­mu­nis­tische Partei per­manent von allen gesäubert, die es nicht schafften, sich der jewei­ligen neuen Par­tei­linie, die manchmal der alten direkt wider­sprach, anzu­passen. Diese gefor­derte Anpassung des Denkens an immer neue Dogmen hat der Lite­ra­tur­no­bel­preis­träger Czesław Miłosz als den Prozess des «Ver­führten Denkens“ bezeichnet. Inzwi­schen gibt es das ver­führte Denken auch in den west­lichen Demo­kratien. Es nahm seinen Ausgang in den Uni­ver­si­täten, dem Ort des Geistes par excel­lence. Ähnlich hat auch die Idee des Kom­mu­nismus in intel­lek­tu­ellen Zirkeln an den Uni­ver­si­täten ihren Aus­gangs­punkt genommen. Im Gegensatz zum Ver­führten Denken in den Dik­ta­turen funk­tio­niert das heute ganz ohne äus­seren Zwang. Vor allem bei den Jungen. Eine ver­hät­schelte Wohl­stands-Gene­ration, ver­meidet die Kol­li­sionen mit unan­ge­nehmen Ideen und scheint auch ihren Anspruch auf­ge­geben zu haben, über­haupt etwas zu lernen. Die poli­ti­schen Reprä­sen­tanten dieser Gene­ration ver­muten Kobolde in Bat­terien, halten das Stromnetz für einen Speicher, kennen den Unter­schied zwi­schen Brutto und Netto nicht und glauben, dass sie die Wirt­schaft am Laufen halten, wenn sie mit ihren Diäten ein­kaufen gehen.

Die Poli­tical Cor­rectness ist keine revo­lu­tionäre Bewegung, wie früher zum Bei­spiel die Jako­biner, sondern eine Staats­doktrin. Poli­tisch-Kor­rektes Denken ist Obrig­keits­denken. Es tarnt sich aller­dings mit einem Opfer­gestus. Stets ist der Poli­tisch-Kor­rekte bereit, sich selber als Ober-Opfer aus­zu­rufen. So ist dann alles, was man für die Tugend tut, aus dem Geist der angeb­lichen Notwehr gespeist. Damit wird inzwi­schen sogar gut Geld ver­dient. Aus dem Hundert-Mil­lionen-Topf des Fami­li­en­mi­nis­te­riums werden alle mög­lichen und unmög­lichen Gruppen ali­men­tiert. – Wer hyper­sen­si­bi­li­siert ist, weiss, aus welchen Ver­feh­lungen sich Kapital schlagen lässt. Sobald man einen neuen Miss­stand ent­deckt hat, kann man einen För­der­antrag stellen. Sexis­tisch ist, wer nachts an der Bar das Aus­sehen einer Jour­na­listin lobt, und ras­sis­tisch, wer wissen will, wo jemand mit dunkler Haut­farbe denn herkommt.

Die Dynamik der Poli­tical Cor­rectness bringt es mit sich, dass der Hunger nach Feinden die Nahrung der Tugend­wächter ist. Sie brauchen sie ständig Nach­schub an selber pro­vo­zierten Angreifern, die mangels stän­diger Ver­füg­barkeit auch mal erfunden werden müssen. Die Amadeu-Antonio-Stiftung, geleitet von der Sta­si­in­for­mantin Annetta Kahane, fordert in einer Hand­rei­chung dazu auf, lieber ein Ver­gehen zu viel, als eins zu wenig zu melden. Der von unseren Zwangs­ge­bühren gemästete Komiker Jan Böh­mermann ruft per twitter zum Sperren miss­lie­biger Accounts auf. Inzwi­schen hat das Denun­zi­an­tentum ein Ausmaß erreicht, dass die Stasi in den Schatten stellt. In Zeiten von Corona gelangte es zu unge­ahnter Blüte. Die Betrei­berin eines kleinen Mode­ge­schäfts verriet mir beim Klei­derkauf, dass sie schon drei mal von Nachbarn ange­zeigt wurde, weil sie ihre Kun­dinnen mas­kenlos Kleider pro­bieren ließ.

Die Situation ist zwar ernst, aber nicht hoff­nungslos. Es gibt Auswege aus diesem ideo­lo­gi­schen Gra­ben­kampf. Die Werk­zeuge müssen wir nicht neu erfinden, sie liegen bereit, wir müssen sie nur nutzen. Unsere schärfste Waffe ist das Grund­gesetz. Wir müssen es nicht nur ver­tei­digen, sondern seine Ein­haltung immer wieder ein­fordern. Für wie gefährlich es ange­sehen wird, zeigt, dass es inzwi­schen poli­zeilich untersagt wird, allein mit einem Grund­gesetz in der Hand auf einem öffent­lichen Platz zu stehen. Man ent­falte damit „Ver­samm­lungs­cha­rakter“. Öffentlich zum Mit­nehmen aus­ge­legte Grund­ge­setze werden von der Polizei kon­fis­ziert. Also ist es eine gute Idee, immer ein Grund­gesetz mit sich zu führen. Es gibt sie sogar als Miniaturbuch.

Demo­kratie ist immer nur so gut, wie die Demo­kraten, die bereit sind, sie zu ver­tei­digen. Jeder hat eine Stimme, die er ein­setzen kann. Demo­kratie stirbt, wenn sich niemand mehr für ihre Grund­lagen ein­setzt. Sie kann nur über­leben, wenn es genügend Men­schen gibt, die sie vor Aus­höhlung schützen. Auch wenn hundert Per­sonen der gleichen Meinung sind, ist es Aufgabe der Mei­nungs­freiheit, dem ein­zigen Abweichler Gehör und Schutz zu ver­schaffen. Mei­nungs­freiheit ist das Recht auf Gehör des Anders­den­kenden, nicht das Pri­vileg des Mäch­tigen. Die Mehrheit hat nicht immer recht. Das bewiesen Koper­nikus und Galilei, die zu ihrer Zeit als Ein­zelne gegen den scheinbar über­mäch­tigen Zeit­geist standen. Wir brauchen keine Mit­läufer, sondern Bürger, die gelernt haben, selbst zu denken und zu ent­scheiden. Die Geschichte lehrt, dass David Goliath besiegt.

In diesen Tagen wird der Phi­losoph Immanuel Kant als angeb­licher Rassist ange­griffen, weil er, der ver­mutlich nie Afri­kaner gesehen hat, sich falsche Vor­stel­lungen von ihnen machte. Dagegen bleibt der wirklich wider­liche Rassist und Anti­semit Karl Marx ver­schont. Warum wohl? Für den Mar­xisten sind die Men­schen, sie benutzten gern den ent­lar­venden Begriff Men­schen­ma­terial, eine geistlose, formbare Masse. Kant dagegen ermun­terte alle, den Mut zu haben, sich des eigenen Ver­standes zu bedienen.

Deshalb wird er von den Poli­tisch-Kor­rekten als Gefahr ange­sehen und soll aus­ra­diert werden.

Haben wir den Mut, uns des eigenen Ver­standes zu bedienen, selbst zu denken, zu hin­ter­fragen, zu widersprechen.

Nach Ende der DDR, als sich die Macht­haber als lächer­liche Figuren ent­larvten – ich erinnere nur an Stasi-Chef Mielkes „Ich liebe doch alle Men­schen“, war es den meisten Mit­läufern hoch­not­peinlich, vor denen den Kotau gemacht zu haben. Die heu­tigen Poli­tiker sind nicht einen Deut besser als die Macht­haber der DDR. Es ist ebenso peinlich, ihnen hin­terher zu laufen. Ja, es ist unbequem stehen zu bleiben, wenn alle das Knie beugen. Und ja, es kann unan­ge­nehme Kon­se­quenzen nach sich zu ziehen. Aber wer es wagt, wird schnell fest­stellen, dass die Freiheit, die man sich nimmt, von unwi­der­steh­lichem Reiz ist und unendlich gut tut.


Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de