„Es gibt Grund zur Annahme, dass die offi­zi­ellen Infla­ti­ons­zahlen zu niedrig sind“

Interview mit Karl-Friedrich Israel zum Thema ‚Preis­in­flation‘.

Herr Israel, Sie haben in jüngster Zeit zahl­reiche Schrift­bei­träge zum Thema ‚Preis­in­flation‘ ver­öf­fent­licht. Was ist der größte Irrtum, das größte Miss­ver­ständnis, wenn die Men­schen das Wort ‚Inflation‘ verwenden?

Es wird oft ver­gessen, dass sich die Bedeutung des Wortes ganz grund­legend ver­ändert hat. In der vor­klas­si­schen und klas­si­schen Öko­nomik hat das Wort „Inflation“ eine Aus­weitung der Geld­menge bezeichnet. Daran erkennt man sehr schön den ety­mo­lo­gi­schen Ursprung des Wortes, das sich aus dem latei­ni­schen inflatio ableitet und „Auf­blähen“ oder „Anschwellen“ bedeutet. Kommt es zu einer Ver­grö­ßerung (einem Auf­blähen oder Anschwellen) der Geld­menge innerhalb einer Volk­wirt­schaft, so würde man im klas­si­schen Sinne von Inflation sprechen. Der Vorteil dieser Defi­nition liegt auf der Hand. Sie ist ein­deutig. Inflation, ver­standen als das Wachstum der Geld­menge, ist empi­risch genau bestimmbar. Man kann sie objektiv messen. Zum Bei­spiel haben die Zentral- und Geschäfts­banken der Eurozone im Jahr 2019 die Geld­menge M1 um etwa 7% aus­ge­weitet. Würde man also die klas­sische Defi­nition zugrunde legen, so könnte man ein­deutig sagen, dass es eine Infla­ti­onsrate von 7% gegeben hat. Diese Messung ist einfach und trans­parent. Hier kann es keine zwei Mei­nungen geben.

Dennoch wird der Begriff ‚Inflation‘ heute anders definiert …

Richtig, mit der heute gän­gigen Defi­nition von Inflation ist das anders. Eine Geld­men­gen­aus­weitung führt unter bestimmten Vor­aus­set­zungen zu einer Erhöhung der Geld­preise für Güter und Dienst­leis­tungen. Wird die Geld­menge stark genug aus­ge­weitet, werden Güter und Dienst­leis­tungen also teurer. In der modernen Öko­nomik bezeichnet der Begriff Inflation genau diesen Effekt der Geld­men­gen­aus­weitung. Er bezeichnet nicht mehr die Geld­men­gen­aus­weitung an sich. Man kann also sagen, dass sich rein begrifflich der Fokus von der Ursache (der Geld­men­gen­aus­weitung) zur Wirkung (der Preis­er­höhung) ver­schoben hat. Und das wie­derum hat schwer­wie­gende Folgen. Die Inflation im modernen Sinne – ver­standen als Rate der Preis­er­höhung – lässt sich eben nicht mehr so einfach messen und quan­ti­fi­zieren. Statt einer ein­zigen Variable, nämlich der Geld­menge, fasst man nun zehn­tau­sende Variablen gleich­zeitig ins Auge: die Ver­kaufs­preise ver­schie­denster Güter und Dienst­leis­tungen. Manche dieser Preise fallen, manche steigen. Einige steigen schneller als andere, da natürlich nicht nur die Geld­menge, sondern ver­schiedene andere Fak­toren Ein­fluss nehmen auf die indi­vi­duelle Preis­bildung. Die Frage ist: Wie kann man diese unter­schied­lichen Ent­wick­lungen in einer ein­zigen Zahl zusam­men­fassen? Die Antwort ist ernüch­ternd. Es gibt kein ein­wand­freies Ver­fahren, um die Infla­ti­onsrate im modernen Sinne zu berechnen. Die Werte, die von den sta­tis­ti­schen Ämtern her­aus­ge­geben werden, basieren auf zahl­reichen Annahmen und Kon­ven­tionen, von denen nicht alle trans­parent sind. Am Ende kommt eine Zahl heraus, von der man gar nicht genau weiß, was sie eigentlich bedeutet. Für die Eurozone wurde für das Jahr 2019 eine Infla­ti­onsrate von 1,2% berechnet. Das heißt aber nicht, dass dieser Wert der „ein­zigen“ und „wahren“ Infla­ti­onsrate ent­spricht. Die einzig wahre Infla­ti­onsrate gibt es nicht.

Von der Art und Weise der Berechnung abge­sehen, darauf möchte ich noch zu sprechen kommen … kann es über­haupt eine Infla­ti­onsrate für alle und jeden geben?

Nein. So unter­schiedlich wie die Men­schen in Ihren Kauf- und Kon­sum­nei­gungen sind, so unter­schiedlich sind auch ihre indi­vi­du­ellen Infla­ti­ons­raten. Die amt­liche Sta­tistik zielt auf eine durch­schnitt­liche Infla­ti­onsrate ab. Sie ver­sucht also die Infla­ti­onsrate für einen „reprä­sen­ta­tiven Haushalt“ zu berechnen. Man kann sich aber zurecht fragen, wer oder was da eigentlich reprä­sen­tiert werden soll. Die über­wie­gende Mehrheit der Haus­halte schätzt die eigene Infla­ti­onsrate deutlich höher ein als sie von der amt­lichen Sta­tistik aus­ge­wiesen wird.

Worin könnte diese ‚höhere Ein­schätzung‘ begründet sein?

Nun, das ist die große Frage. Es gibt im Wesent­lichen zwei Mög­lich­keiten. Ent­weder ist die sub­jektive Wahr­nehmung der Men­schen ver­zerrt oder die amt­liche Sta­tistik ist ver­zerrt. Oder natürlich beides.

Was die Wahr­nehmung der Men­schen angeht, so kann man sicherlich sagen, dass die meisten Men­schen dazu ten­dieren, die Lage etwas nega­tiver zu sehen als sie ist. Diese Art des Pes­si­mismus ist im Grunde ganz normal und in vie­lerlei Hin­sicht auch ein gutes Zeichen, denn sie zeugt von einer gewissen Vor­sicht. Und Vor­sicht ist ja bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.

Aller­dings ist die Dis­krepanz zwi­schen der Infla­ti­ons­wahr­nehmung der Men­schen und der offi­ziell gemes­senen Inflation so groß, dass man es kaum allein auf die ver­zerrte Wahr­nehmung schieben kann. Laut Umfragen der EU Kom­mission liegt der Median der Infla­ti­ons­wahr­nehmung in der Eurozone für das Jahr 2019 bei 5,7%. Das sind 4,5 Pro­zent­punkte mehr als die offi­ziell aus­ge­wiesene Infla­ti­onsrate von 1,2%. Das ist schon eine erstaunlich hohe Abwei­chung, auch wenn man der sub­jek­tiven Wahr­nehmung der Men­schen viel­leicht nicht ganz trauen kann.

Nun gibt es aber auch ganz unab­hängig von diesen Umfra­ge­werten gute Gründe dafür, eine Ver­zerrung in der amt­lichen Sta­tistik zu ver­muten. Wahr­scheinlich sind die aus­ge­wie­senen Infla­ti­ons­zahlen zu niedrig, um wirklich „reprä­sen­tativ“ zu sein.

Kommen wir nun auf die ‚Annahmen und Kon­ven­tionen‘ zu sprechen, die Sie ein­gangs erwähnt haben. Was haben Sie damit gemeint?

Die erste und wahr­scheinlich schwer­wie­gendste Kon­vention ist, dass bei der offi­zi­ellen Infla­ti­ons­messung aus­schließlich die Preise von Kon­sum­gütern in Betracht gezogen werden. Schaut man einmal außerhalb der Kon­sum­gü­ter­in­dus­trien nach, so findet man sehr schnell deutlich höhere Infla­ti­ons­raten. Der Flossbach von Storch Ver­mö­gens­preis­index, der u.a. die Preise von Aktien und Immo­bilien berück­sichtigt, ist für die Eurozone über das Jahr 2019 um 6,3% gestiegen. Betrachtet man allein Deutschland ist der Index sogar um 8% gestiegen. Diese dis­pro­por­tionale Ver­mö­gens­preis­in­flation ist von der lockeren Geld­po­litik getrieben und schadet natürlich ins­be­sondere all den­je­nigen, die ein reales Ver­mögen erst noch auf­bauen wollen, aber eben noch keines besitzen.

Die Zen­tral­banken ori­en­tieren sich an den Kon­sum­gü­ter­preisen, die sehr viel lang­samer steigen. Damit recht­fertigt man den expan­siven geld­po­li­ti­schen Kurs. Solange die Kon­su­men­ten­preis­in­flation nicht auf über 2% ansteigt, könne man ruhig so weitermachen.

Aber selbst dann, wenn man aus­schließlich die Kon­su­men­ten­preise ins Auge fasst, gibt es Grund zur Annahme, dass die offi­zi­ellen Infla­ti­ons­zahlen zu niedrig sind. Zum Bei­spiel werden oftmals nicht einfach die aus­ge­wie­senen Ver­kaufs­preise von Gütern im Index auf­ge­nommen, sondern qua­li­täts­be­rei­nigte Preise. Wenn bei bestimmten Gütern also eine Qua­li­täts­ver­bes­serung fest­ge­stellt wird, so sub­tra­hiert man den geschätzten Geldwert dieser Ver­bes­serung vom aus­ge­wie­senen Ver­kaufs­preis des Gutes, was die gemessene Infla­ti­onsrate nach unten drückt. Mög­liche Qua­li­täts­ver­schlech­te­rungen werden nicht im gleichen Maße berück­sichtigt. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil Pro­du­zenten einen starken Anreiz haben Qua­li­täts­ver­schlech­te­rungen zu ver­schleiern. Jede Qua­li­täts­ver­bes­serung wird hin­gegen offen kom­mu­ni­ziert und beworben. Sie finden deshalb leichter in der Sta­tistik Berücksichtigung.

Qua­li­täts­ver­bes­se­rungen sind aber nicht wirklich objektiv messbar. Auch wenn man durchaus kom­pli­zierte sta­tis­tische Schätz­ver­fahren dafür anwendet, bleibt das ganze Unter­fangen ein Rät­sel­raten. Was den kri­ti­schen Beob­achter dabei besonders stutzig machen kann, ist der Umstand, dass die sta­tis­ti­schen Behörden kei­nerlei Aus­kunft über das Ausmaß der Qua­li­täts­be­rei­nigung geben. Die öffentlich zugäng­lichen Daten sind bereits alle bereinigt, ohne dass man es ihnen ansieht. Die Roh­daten (ohne Qua­li­täts­an­pas­sungen) werden nicht zur Ver­fügung gestellt. Die Qua­li­täts­an­pas­sungen sind also im höchsten Maße intransparent.

Da kommt einem der Begriff ‚Ver­schleie­rungs­taktik‘ in den Sinn …

Das wirkt schon etwas ver­dächtig, aber ich denke nicht, dass eine beab­sich­tigte Ver­schleierung dahin­ter­steckt. Es hat nur bislang noch niemand laut genug gefordert, den Prozess offen zu legen und trans­parent zu gestalten. Aber grund­sätzlich sollte das kein Problem sein. Die Daten sind ja da und könnten relativ leicht der Öffent­lichkeit zugänglich gemacht werden. Meine Hoffnung ist, dass das auch irgendwann geschieht. Dann könnte man sehen, wie stark sich die Qua­li­täts­an­pas­sungen auf die gemessene Preis­in­flation aus­wirken. In den 90er Jahren hatte man eine Ver­zerrung von etwa 0.4 Pro­zent­punkten in der Preis­in­fla­ti­ons­messung auf­grund von Qua­li­täts­än­de­rungen dia­gnos­ti­ziert. Man kam also zu dem Ergebnis, dass die Preis­in­flation im Schnitt um 0.4 Pro­zent­punkte über­schätzt wurde. Dar­aufhin wurden die soge­nannten hedo­ni­schen Ver­fahren der Qua­li­täts­an­passung ein­ge­führt und die offi­ziell gemes­senen Infla­ti­ons­raten waren fortan nied­riger als sie sonst gewesen wären. Die Frage ist um wieviel? Genau 0.4 Pro­zent­punkte? Viel­leicht mehr, viel­leicht weniger. Es wäre inter­essant zu wissen, wie hoch die offi­zielle Infla­ti­onsrate wäre, ließe man die Qua­li­täts­an­pas­sungen einmal ganz weg.

Inwieweit haben stei­gende Preise Ein­fluss auf das Kauf­ver­halten der Konsumenten?

Die stei­genden Ver­mö­gens­preise erschweren es den­je­nigen, die noch nicht über reales Ver­mögen ver­fügen, für die Zukunft vor­zu­sorgen. Will man trotzdem vor­sorgen, muss man größere Anstren­gungen unter­nehmen bzw. in der Gegenwart größere Opfer in Form von Kon­sum­ver­zicht erbringen, als es ohne die dis­pro­por­tionale Ver­mö­gens­preis­in­flation der Fall wäre.

Aber natürlich ver­ändern auch unter­schiedlich stark stei­gende (und fal­lende) Preise bei Kon­sum­gütern das Ver­halten der Men­schen. Güter, deren Preise über die Zeit sehr stark ansteigen, werden ten­den­ziell ersetzt durch Güter, deren Preise nicht so stark ansteigen. Es kommt zu soge­nannten Substitutionseffekten.

Den meisten Men­schen ist klar, dass zum Bei­spiel hoch­wertige Lebens­mittel „ihren Preis haben.“ Wenn ein all­ge­meiner Infla­ti­ons­druck besteht, können die Kosten für die Pro­duktion oft nicht niedrig gehalten werden, weil bestimmte Tech­niken, Rei­fungs­pro­zesse und Zutaten uner­setzbar sind, um die Qua­lität zu gewähr­leisten. Also müssen die Preise steigen, damit die Pro­du­zenten wei­terhin ren­tabel arbeiten können. Aber wenn die Preise steigen, geht die Nach­frage zurück.

Die Kon­su­menten können dann auf die güns­tigen Dis­counter umsteigen. Hier können Kosten und Preise relativ niedrig gehalten werden, weil man einer­seits durch die Größe der Unter­nehmen gewisse Effi­zi­enz­vor­teile hat, aber ande­rer­seits natürlich auch deshalb, weil an bestimmten Stellen bei der Qua­lität Abstriche gemacht werden. Das ist manchmal für den ein­zelnen Kon­su­menten deutlich spürbar, aber oftmals fällt es auf den ersten Blick gar nicht so auf.

Dazu muss man sagen, dass das, unter den gege­benen Umständen, natürlich auch eine gute Seite hat. Dis­counter und andere Groß­un­ter­nehmen schaffen es durch Effi­zi­enz­ge­winne und geschickten Qua­li­täts­abbau, der beim Kon­su­menten nicht so ins Gewicht fällt, die sichtbare Preis­in­flation ein­zu­dämmen. In gewisser Weise machen sie den Abstieg in die Infla­ti­ons­wirt­schaft erträglicher.

Aber auch Ska­len­ef­fekte erschöpfen sich irgendwann …

Das ist natürlich richtig. Es gibt auch da eine Grenze, ab der größer nicht unbe­dingt besser oder effi­zi­enter ist. Aber es scheint doch so zu sein, dass wir in den letzten Jahr­zehnten ganz erheb­liche Effi­zi­enz­ge­winne zu ver­zeichnen hatten. Wesent­liche Treiber dieser Ent­wicklung waren enorme Fort­schritte in der Com­puter- und Infor­ma­ti­ons­technik, sowie die Inten­si­vierung der inter­na­tio­nalen Arbeits­teilung. In Anbe­tracht dieser Pro­duk­ti­vi­täts­ge­winne hätten die Güter­preise im Schnitt eigentlich deutlich sinken müssen. Aber genau das wird durch die expansive Geld­po­litik unterbunden.

Vielen Dank, Herr Israel.

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Das Interview wurde per email geführt. Die Fragen stellte Andreas Marquart.

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Quelle: misesde.org