Die Beziehung der Japaner zum Staat ist zwiespältig. Einerseits hat die regierende Liberaldemokratische Partei seit Ende des Zweiten Weltkriegs bei Parlamentswahlen fast ununterbrochen die Unterstützung der Wähler erhalten. Andererseits sagt man den Japanern eine starke Abneigung gegen das Steuerzahlen nach. Die weithin bekannte Formel 10–5‑3–1 besagt, dass nur Festangestellte ihre Steuerpflicht zu 100% erfüllen (weil sie keine andere Wahl haben). Hingegen würden Kleinunternehmer nur 50% ihrer eigentlichen Steuerpflicht bezahlen, Bauern und Fischer 30% und Politiker sogar nur 10%. Die Gesamtsteuerbelastung (einschließlich Sozialabgaben) ist in Japan mit 32% des Bruttoinlandsprodukts im Vergleich zu den meisten europäischen Staaten (z.B. Deutschland: 42%, Frankreich: 47%) niedrig.[1]
(von Taiki Murai und Gunther Schnabl)
Auch die Geschichte der Besteuerung des Konsums ist in Japan vergleichsweise kurz. Noch Ende 1970er Jahre scheiterte Ministerpräsident Ohira mit der Einführung der Konsumsteuer aufgrund massiven Widerstandes in der eigenen Partei. Erst 1989 reüssierte Ministerpräsident Takeshita nach langen Verhandlungen zwischen Politik, Verwaltung, Unternehmen und Gewerkschaften mit einem Satz von 3%.[2] 1997 wurde die Konsumsteuer auf 5% erhöht. Weitere Erhöhungen wurden aufgrund großer Finanznot immer wieder diskutiert. Doch erst 2012 wurde unter Premierminister Noda die Erhöhung auf 8% im April 2014 und auf 10% im Oktober 2015 beschlossen. Premierminister Abe vertagte den zweiten Schritt aufgrund der instabilen Konjunktur zweimal und verließ sich lieber auf eine Finanzierung der hohen Haushaltsdefizite über die Notenpresse (Abenomics). Erst im Oktober 2019 setzte er die Erhöhung auf 10% um.
Die Erhöhung der Konsumsteuer war seit den 1990er Jahren stets dringlich, weil die Staatskasse leer war. Waren in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der von billigem Geld der Bank von Japan getriebenen Blasenökonomie noch die Rückflüsse aus Einkommens- und Unternehmenssteuer stark angestiegen, gingen diese seit dem Platzen der Blase im Trend immer weiter zurück. Zwar stiegen in Erholungsphasen die Steuereinkünfte, sackten aber in den folgenden Krisen noch mehr ab (siehe Abbildung). Da sich die japanische Wirtschaft seit Platzen der japanischen Blasenökonomie trotz bzw. aufgrund einer anhaltend expansiven Geld- und Finanzpolitik nicht nachhaltig erholte (siehe Schnabl 2013), war eine Erhöhung der Unternehmenssteuer seither ausgeschlossen. Da die Durchschnittslöhne seit 1998 im Trend fielen, wollte man den Bürgern auch keine höhere Einkommenssteuer zumuten.
Blieb also nur die Konsumsteuer, auch deshalb, weil sie im internationalen Vergleich (Deutschland: 19% und Frankreich: 20%) immer noch gering ist. Auch ohne weitere Erhöhungen wird die Konsumsteuer damit spätestens dieses Jahr zur wichtigsten Einkommensquelle des japanischen Staates werden. Zwar waren die Einnahmen von Konsum- und Einkommensteuer im Jahr 2019 noch ungefähr gleich (siehe Abbildung), doch wird die Erhöhung auf 10% im Oktober 2019 dieses Jahr ihre volle Wirkung entfalten. Zudem dürften mit der Corona-Krise die Löhne wieder unter starken Druck geraten, so dass wie in den vorangegangenen Krisen die im Vor-Corona-Boom deutlich angewachsenen Erträge aus der Einkommenssteuer nun stark schrumpfen dürften.
Der Nachteil der schleichenden Veränderung der Steuerstruktur hin zu einer wachsenden Belastung des Konsums sind die Verteilungseffekte. Untere Einkommensschichten haben eine höhere Konsumquote und sind deshalb überproportional betroffen. Hingegen profitieren vermögende Japaner weiter davon, dass das billige Geld der Bank von Japan im In- und Ausland Aktien- und Immobilienpreise nach oben treibt (siehe Israel und Latsos 2019). Bei weiterhin hohen strukturellen Defiziten könnte der weitere Anstieg der Konsumsteuer nur verhindert werden, wenn die kostspieligen Zuschüsse für das Rentensystem und den regionalen Finanzausgleich gekürzt würden. Doch das käme in der schnell alternden japanischen Gesellschaft einem politischen Harakiri gleich, weil die ältere Bevölkerung, Rentner, Bauern, Fischer und Kleinunternehmen in der Peripherie die traditionelle Wählerbasis der Liberaldemokratischen Partei sind.
Nicht zuletzt aufgrund der starken Abneigung der Japaner gegen Steuern, bleibt der japanischen Regierung deshalb nur die Möglichkeit weiterhin einen beträchtlichen Teil ihrer Ausgaben über neue Anleihen zu finanzieren, die zu einem großen Teil von der Bank von Japan gekauft werden. Die Staatsverschuldung ist entsprechend von 64% im Jahr 1990 auf 238% im Jahr 2019 gestiegen. Die Bank von Japan hält inzwischen fast 50% aller ausstehenden Staatsanleihen. Das lähmt das Wachstum und verstärkt die negativen Verteilungseffekte des billigen Geldes.
Letztere werden aber von der Bevölkerung nicht direkt mit der Politik der Liberaldemokratischen Partei in Verbindung gebracht, was das politische Überleben der Regierung Abe sichert. Eine nachhaltige Lösung der finanzpolitischen Dilemmas der Regierung ist das aber nicht. Dem aufmerksamen Betrachter wird nicht verborgen bleiben, dass sich auch viele europäische Staaten in eine ähnliche wirtschaftspolitische Sackgasse hineinbewegen.
[1] Quelle: Europäische Kommission.
[2] Den Link zum damaligen „Werbeclip“ des japanischen Finanzministeriums mit dem Titel „Denken Sie noch einmal darüber nach“ finden Sie hier. Dort heißt es (inter alia): “ Die Konsumsteuer ist eine weltweit übliche Form der Steuer. In vielen Ländern unterstützt die Konsumsteuer die Gesellschaft und das Alltagsleben. Auch das Steuersystem in Japan braucht im Jahr 1989 eine internationale Perspektive. Denken Sie noch einmal über die Konsumsteuer nach.“
Literatur:
Schnabl, Gunther (2013): Die japanischen Lehren für die europäische Krise. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 62, 1, 1–22.
Israel, Karl / Latsos, Sophia (2019): The Impact of (Un)conventional Expansionary Monetary Policy on Income Inequality – Lessons from Japan. University Leipzig Faculty of Economics and Management Science Working Paper 163.
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