Türkei: Hunger und Arbeits­lo­sigkeit – aber Prä­sident Erdogan will Raum­fahrt­pro­gramm – jeder Zweite will aus­wandern (+Video)

Der tür­kische Prä­sident Recep Tayyip Erdogan hat im wahrsten Sinne des Wortes hoch­flie­gende Pläne. Am 9. Februar stellte er den ver­blüfften Bürgern sein ehr­gei­ziges Raum­fahrt­pro­gramm vor. Schon in zwei Jahren, so der Prä­sident, werde seine eigene Raum­fahrt­be­hörde TUA ein tür­ki­sches Raum­fahrzeug auf dem Mond landen lassen und die Türkei in die erste Riege der ent­wi­ckelten, hoch­tech­ni­sierten Staaten kata­pul­tieren. Gleich­zeitig gras­siert die Arbeits­lo­sigkeit und sogar Hunger in der Türkei. Die Regierung gibt lediglich billige Ein­kaufs­tipps. Ihr Prä­sident, finden die Türken, hat sich aus der Rea­lität verabschiedet.

Mit den für das Raum­fahrt­pro­gramm zur Ver­fügung ste­henden Mitteln komme man „mal gerade bis auf den Mount Everest“, ätzt Engin Altay von der kema­lis­ti­schen CHP. Doch der Prä­sident sieht sich in illustrer Gesell­schaft. Das Projekt werde mit­hilfe einer „inter­na­tio­nalen Koope­ration“ durch­ge­führt werden, womit er die rus­sische Raum­fahrt­be­hörde Roskosmos meint. Aber, so ließ er das stau­nende Volk wissen, auch mit Tesla-Eigen­tümer Elon Musk habe er schon über eine Koope­ration im Mond­lan­de­pro­gramm gesprochen. Tat­sächlich gibt es schon seit 2017 eine Zusam­men­arbeit zwi­schen Elon Musk und Prä­sident Erdogan.

So hat Elon Musk zuletzt am 8. Januar im Rahmen seines SpaceX-Pro­grammes den tür­ki­schen Satel­liten „TurkSat 5a“ ins All hoch­ge­schossen. Das brachte Elon Musk Kritik ein, denn schon der Vor­gänger TurkSat 4b wurde auch von der Türkei benutzt, um mili­tä­rische Drohnen in Syrien einzusetzen.

Ein wei­teres gemein­sames Projekt zwi­schen Elon Musk und Prä­sident Erdogan ist die Elek­tro­mo­bi­lität. Neben den Raum­fahrt­plänen ver­folgt der tür­kische Prä­sident den Start einer tür­ki­schen A‑Automarke namens TOGG, die er inter­na­tional eta­blieren möchte. Eine ent­spre­chende Fabrik gibt es schon. Man möchte gleich eine Limousine und einen SUV als erste Modelle vom Band lassen. Den Pro­totyp konnte man schon 2019 bewundern. Elon Musk soll die Ent­wicklung beratend begleiten.

Für seine Bürger sind das alles Wol­ken­ku­ckucks­heime. Selbst unter seinen Anhängern hält sich die Begeis­terung in engen Grenzen und die Türken finden, dass ihr Prä­sident sich aus der Wirk­lichkeit ver­ab­schiedet hat. Denn diese ist für Ali Nor­mal­ver­braucher täglich eine Her­aus­for­derung. Die wenigsten haben Interesse daran, dem Aufruf des Prä­si­denten zu folgen und eine ori­ginär tür­kische Bezeichnung für „Astro­nauten“ zu finden. Immer mehr Türken haben nicht einmal genug zu essen. Spott, Hohn und bittere Kritik macht sich breit, und in den sozialen Medien gehen bissige Kari­ka­turen viral, Sati­riker haben wun­der­baren Stoff.

Ömer Faruk Ger­ger­lioglu von der pro-kur­di­schen HDP zeigt in einem Tweet das Foto, auf dem eine bet­telarme Müll­samm­lerin zu sehen ist, die ihre zwei Kinder auf dem Müllsack durch die Gegend schiebt. Auf den Mond fliegen wollen, aber das eigene Volk nicht ernähren können, wirft er dem Prä­si­denten vor. Die Visionen des Prä­si­denten haben nichts mit dem Kampf gegen Armut und Hunger zu tun, den „seine toll­kühnen Türken“ jeden Tag aus­fechten müssen.

Die geschönten, offi­zi­ellen Zahlen berichten von einer Arbeits­lo­sigkeit von 13 Prozent. Doch Oppo­sition und Gewerk­schaften haben solidere Zahlen. Wie überall – das kennen wir ja auch in Deutschland — werden bestimmte Gruppen, die eigentlich arbeitslos sind, nicht in der Sta­tistik mit­ge­zählt: Die Umschuler und die, die in staat­lichen Beschäf­ti­gungs­pro­grammen für 1 Euro arbeiten. Die, die gar nicht mehr nach einer Anstellung suchen und andere, die man irgendwie auch noch weg-defi­nieren kann. Es seien, sauber gerechnet, nicht vier Mil­lionen Arbeitslose, sondern zehn. Die regie­rungs­treuen Zei­tungen, wie Hürriyet.de melden aber wacker ein Sinken der Arbeits­lo­sigkeit. Die Sta­tis­tiken stammen alle von Türkstat, und das Sta­tis­tikamt ist fest in der Hand des Prä­si­denten. Nur so lässt sich erklären, dass mitten in der Pan­demie und einem Schrumpfen der Wirt­schaft um mehr als neun Prozent die Arbeits­lo­sigkeit dennoch sinkt.

Viele Türken haben es nämlich auf­ge­geben, nach Arbeit zu suchen. Und das sind nicht die Alten, Kränk­lichen, die einfach nichts mehr finden können. „Es sind junge Men­schen zwi­schen 15 und 35 Jahren, die keinen Sinn mehr darin sehen, am (Arbeits-) Leben teil­zu­nehmen. Sie bleiben zuhause, bewerben sich um keinen Job und exis­tieren im Fami­li­en­verbund mit.“ Das ist auch ver­ständlich, denn erstens ist kein Job zu finden und wenn, ist es meistens ein Hungerlohn.

Dazu kommt noch die gewaltige Inflation und die hoch­schie­ßenden Zinsen. Im Januar lag die Infla­ti­onsrate bei 15 Prozent, wie die tür­kische Sta­tis­tik­be­hörde der Welt­presse mit­teilte. Das darf bezweifelt werden. Gefühlt liegt sie sehr viel höher. Das Problem liegt darüber hinaus in der „Stag­flation“, also einer Inflation der Preise, besonders bei den Lebens­hal­tungs­kosten, wobei aber die Löhne über­haupt nicht mit­halten. Das all­ge­meine Lohn­niveau steigt nicht dem­entspre­chend, sondern sinkt sogar. Besonders, wenn arbeitslose Fami­li­en­mit­glieder mit­ver­sorgt werden müssen, wird es kritisch.

Ein tra­gi­scher Selbstmord eines jungen Ehe­paares in Istanbul ging durch die Gazetten. Die jungen Leute sahen keinen Ausweg mehr. Sie konnten sich und ihr kleines Kind nicht mehr ernähren.

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Die Regierung reagiert auf die Not mit Hilf­lo­sigkeit und lächer­lichen Tipps. Prä­sident Erdogan ordnet einfach eine Senkung der Preise für Grund­nah­rungs­mittel an, was natürlich die Han­dels­ketten nicht beein­druckt und am Markt nicht durch­zu­setzen ist, außer, die Regierung würde die Grund­nah­rungs­mittel ent­spre­chend sub­ven­tio­nieren. Das geschieht nicht. Statt­dessen geben Zei­tungen ihren Lesern Tipps für bil­liges Ein­kaufen. Besonders pfiffig: Man solle satt und nicht hungrig zum Ein­kaufen gehen, dann kaufe man weniger. Und statt eines Ein­kaufs­wagens möge man sich bitte mit einem Körbchen begnügen, das sehe dann nach mehr aus.

Dazu kommt, dass die tür­kische Lira kon­ti­nu­ierlich im Handel mit Wäh­rungen auch außerhalb an Wert ver­liert. Sie hat enorm gegen Dollar und Euro ver­loren. Das führt nicht nur zu Pro­blemen in der Bin­nen­wirt­schaft, es ver­teuert auch jeg­liche Importe, die die Man­gel­si­tuation im Land mildern könnte. Die Türkei kann zurzeit wenig Gewinn durch Exporten ein­fahren: Die größten Export­güter, PKWs und Busse, LKWs, Auto­teile und Schmuck sowie Tex­tilien sind unglück­li­cher­weise Pro­dukte, das in Zeiten des Lock­downs weniger nach­ge­fragt werden. Und raf­fi­niertes Öl wurde eben­falls durch den Lockdown schwerer verkäuflich.

Hürriyet.de schreibt:

„Zusätzlich zum Rückgang der Ölpreise gab es im Ver­gleich zum August letzten Jahres einen Rückgang der Treib­stoff­ex­porte von Flug­zeugen. Die Lie­fe­rungen sta­gnierten auf­grund des Rück­gangs des inter­na­tio­nalen Handels und inter­na­tio­naler Reisen während der Coro­na­virus-Pan­demie. In diesem Zusam­menhang ging der Export von Erdöl im August gegenüber dem Vor­jah­res­monat um 61,55 Prozent zurück und belief sich auf 206 Mil­lionen Euro. Der Rückgang der Exporte dieses Sektors im August ent­sprach 51,5 Prozent des monat­lichen Export­rück­gangs. (…) Im August erlebten die wich­tigsten Export­märkte Rück­gänge. Das wurde auf die abneh­mende Nach­frage in der EU zurück­ge­führt, und weil die Auto­mo­bil­un­ter­nehmen im August in der Türkei eine jähr­liche Rou­ti­ne­wartung ihrer Pro­duktion durch­führten. Die Auto­mo­bil­in­dustrie ver­zeichnete einen Rückgang bei Her­stellung und beim Export.“

Dagegen boomt der Gold­import, denn wer noch Ver­mögen hat in der Türkei, ver­sucht es in Gold umzu­wandeln, um sein Ver­mögen vor der Inflation zu retten. Auch Silber, Edel­steine, Perlen und Schmuck werden ver­stärkt gekauft, um die infla­tio­nie­rende Lira in Ver­mögen mit echtem Wert umzu­wandeln. 5.000 Tonnen Gold horten die Türken privat. Das ist mehr als das deutsche Staatsgold, was die zweit­größte Gold­re­serve der Welt sein soll: 3.374 Tonnen deut­sches Gold. Deut­licher können die Türken wohl kaum ihr Miss­trauen in die Regierung und ihre Angst vor der Zukunft ausdrücken.

Nach einer Umfrage in der Türkei will fast jeder zweite Türke sein Land ver­lassen. Sogar in Prä­sident Erdogans eigener Partei, der AKP, will jeder Dritte lieber auswandern.