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“Töte sie; töte sie alle”: Der Krieg gegen die Polizei in Frankreich

Orga­ni­sierte Banden von “jungen Leuten” – gemäß dem eta­blierten Medi­en­vo­ka­bular, um jeg­liche eth­nische Zuge­hö­rigkeit zu ver­meiden – lockten am 25. Januar in Pantin, einem Vorort von Paris, am 4. Februar in Car­cas­sonne in Süd­frank­reich und am 13. Februar in Poissy in Yve­lines, Poli­zei­kräfte in ihre Nach­bar­schaft, um sie zu über­fallen. Zu den Rufen “Tötet sie; tötet sie alle” wurden Poli­zei­pa­trouillen mit Spreng­stoff und pyro­tech­ni­schen Geräten, die als Gue­rilla-Waffen in der Stadt ein­ge­setzt werden, ange­griffen. Jedes Mal wurden Videos des Angriffs in sozialen Netz­werken Live gestreamt.

(von Yves Mamou)

Zwi­schen dem 17. März und dem 5. Mai 2020 war die fran­zö­sische Polizei 79 Hin­ter­halten aus­ge­setzt, basierend auf Sta­tis­tiken des Innen­mi­nis­te­riums, die von Le Figaro ver­öf­fent­licht wurden. Im Oktober 2020 zählte Le Figaro seit Jah­res­beginn min­destens zehn Angriffe auf Poli­zei­re­viere, und laut Angaben der natio­nalen Polizei wurden laut Le Monde im ganzen Land täglich mehr als 85 Fälle von “Gewalt gegen Per­sonen in öffent­lichen Ämtern” regis­triert. Im Januar ver­zeich­neten die sta­tis­ti­schen Dienste des Innen­mi­nis­te­riums 2.288 solcher “Tötet sie alle”-Vorfälle, basierend auf Infor­ma­tionen aus Polizeiberichten.

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In Frank­reich wird ein Krieg gegen die Polizei geführt, der jedoch nie benannt wird. Im Gegenteil, viele Medi­en­ver­treter, Rap-Sänger, Schau­spieler, Experten und andere schließen sich Straf­tätern und Tätern an, um zu behaupten, dass eine an sich ras­sis­tische Polizei in einem Krieg gegen in Frank­reich lebende Schwarze und Araber aktiv sei.

Unauf­hör­liche und weit ver­breitete Demons­tra­tionen, die vom Clan von Assa Traoré orga­ni­siert werden, sind das beste Bei­spiel für diese Umkehrung. Seit 2016 führt Assa Traoré, eine schwarze Frau afri­ka­ni­scher Her­kunft, eine Kam­pagne gegen die Polizei an. Sie beschul­digte die Poli­zisten, die ihren Bruder Adama ver­haftet hatten, ihn getötet zu haben. Vier offi­zielle Berichte von Experten haben jeg­liche “Tötung” durch die Polizei bestritten, aber Assa Traoré kämpft weiter und erstellt wei­terhin eigene Exper­ten­be­richte, um zu “beweisen”, dass ihr Bruder ermordet wurde. Sie wird jetzt inter­na­tional unter­stützt. Sie wurde vom Time Magazine zur “Hüterin des Jahres” ernannt und erhielt einen vollen Artikel in der New York Times.

Assa Traore ist nicht allein im Führen der Kam­pagne gegen die fran­zö­sische Polizei. Als die fran­zö­sische Sän­gerin Camélia Jordana im Mai 2020 im Canal 2 des fran­zö­si­schen öffentlich-recht­lichen Fern­sehens inter­viewt wurde, beschul­digte sie die Polizei, jeden Tag nur zum Spaß unnö­ti­ger­weise schwarze und ara­bische Men­schen getötet zu haben. “Die Männer und Frauen, die jeden Morgen in den Vor­orten zur Arbeit gehen”, werden “aus keinem anderen Grund als wegen ihrer Haut­farbe mas­sa­kriert”, sagte die Sängerin.

Dann fand sofort eine sur­reale Sequenz statt: Der Par­la­men­tarier Aurélien Taché (LREM, die Partei des fran­zö­si­schen Prä­si­denten Emmanuel Macron) twit­terte:

“Bravo @Camelia_Jordana, aber der Preis, den Sie zahlen werden, wird schrecklich sein … das wussten Sie. Sie werden es leugnen, die Beweis­pflicht umkehren, und erneut ver­suchen, die Opfer schuldig aus­sehen zu lassen.”

Das Nach­rich­ten­ma­gazin Les Inrock­up­tibles inter­viewte den Fil­me­macher David Duf­resne als “Experten” für die Poli­zei­bru­ta­lität – er hat einmal eine Doku­men­tation über den per­ma­nenten Kon­flikt zwi­schen den Jugend­lichen in den Vor­orten und der Polizei gedreht. Natürlich unter­stützte David Duf­resne die Anschul­di­gungen von Camelia Jordana, dass die Sän­gerin “das Offen­sicht­liche zum Aus­druck gebracht” habe.

Das linke Magazin L’Obs ging im Juni 2020 noch einen Schritt weiter und übergab das Mikrofon dem schwarzen fran­zö­si­schen Hol­lywood-Filmstar Omar Sy. In seiner Villa in Los Angeles for­derte Sy “Gerech­tigkeit für Adama Traoré”, zog eine Par­allele zu George Floyd und for­derte eine “Polizei, die unserer Demo­kratie würdig ist”.

Am 24. Juni ver­öf­fent­lichte Amnesty Inter­na­tional einen Bericht, in dem der Ras­sismus der Polizei während der Covid-Sperrung in Europa ange­prangert wurde. Am 19. Juli 2020 zog der linke Bür­ger­meister von Colombes in Hauts-de-Seine, Patrick Chai­mo­vitch, eine Par­allele zwi­schen der Polizei von Vichy – dem fran­zö­si­schen Regime, das während des Zweiten Welt­kriegs mit den Nazis kol­la­bo­riert hatte – und der heu­tigen Polizei. Ein Psy­cho­ana­ly­tiker, Gérard Miller, lud die Leute ein, über Chai­mo­vitchs Äuße­rungen “nach­zu­denken”, und ein Jour­nalist, Edwy Plenel, ver­glich den neuen Innen­mi­nister Gérald Darmanin mit René Bousquet, einem hoch­ran­gigen Beamten, der den Überfall auf Vel d’Hiv während des zweiten Welt­kriegs orga­ni­siert hatte und mit der Gestapo kollaborierte.

Der Ver­dacht der Medien auf die ille­gitime Anwendung von Gewalt durch die Polizei ist so groß, dass ange­griffene Beamte sich nicht einmal berechtigt fühlen, ihre Waffe zu benutzen. Philippe Bilger, ein Ex-Richter, schreibt: “Ange­sichts von Dro­hungen, ver­schie­denen Aus­sprüchen und phy­si­schen Angriffen haben sie [die Polizei] prak­tisch kein Recht, das ein­zu­setzen, was das Gesetz ihnen erlaubt”, nämlich ihre Waffe.

Die Anklage der Medien und der Unter­hal­tungs­in­dustrie – Schau­spieler, Sänger usw. – gegen die fran­zö­sische Polizei wird auch von Aka­de­mikern ange­heizt. Die Polizei wird beschuldigt, “Gesichts­kon­trollen” durch­ge­führt zu haben, bei denen ihre Aus­weis­kon­trolle ras­sis­tisch ein­ge­setzt wird. Diese Idee wurde durch eine 2009 ver­öf­fent­lichte Studie von Fabien Jobard und René Lévy, zwei Sozio­logen, ins Leben gerufen und befeuert, die angaben, dass Poli­zei­kon­trollen “au faciès” durch­ge­führt werden – “nicht was Men­schen tun, sondern was sie sind oder zu sein scheinen”. Im Jahr 2017 nahm der Defender of Rights, eine staat­liche Behörde, die sich der Ver­tei­digung der Wehr­losen widmet, öffentlich die Anklage gegen die Polizei wegen ras­sis­ti­scher Iden­ti­täts­prü­fungen auf. Am 12. Februar for­derte Claire Hédon von Defender of Rights im öffentlich-recht­lichen Radio France Info ein Ende der Iden­ti­täts­über­prü­fungen in “bestimmten Stadt­teilen” und die Ein­richtung von “Zonen ohne Identitätsüberprüfungen”.

Behaup­tungen von Enter­tainern sowie “Studien” von Sozio­logen oder von Defender of Rights können nicht durch sozio­lo­gische Studien gekontert oder bestätigt werden, die zeigen, dass die Kri­mi­na­lität ungleich­mäßig auf die ver­schie­denen eth­ni­schen Schichten ver­teilt ist, aus denen die fran­zö­sische Gesell­schaft besteht. Das fran­zö­sische Gesetz ver­bietet die Erhebung von Daten zur Kri­mi­na­lität nach Rasse oder eth­ni­scher Gruppe. Dies führt zu einer selt­samen Situation, in der es zulässig ist, die Polizei des Ras­sismus zu beschul­digen, es jedoch gesetzlich ver­boten und strafbar ist, zu erklären, dass Schwarze oder Nord­afri­kaner in Gefäng­nissen und in Kri­mi­na­li­täts­daten im Ver­gleich zu ihrer demo­gra­fi­schen Präsenz in der Fran­zö­si­schen Bevöl­kerung über­re­prä­sen­tiert sind.

Die Offensive der Medien und Enter­tainer gegen die Polizei ist so stark, dass Poli­tiker und Regie­rungs­mit­glieder es oft nicht wagen, sich diesen “Staats­an­wälten” zu wider­setzen. Sie stehen auf der Seite der Enter­tainer gegen die Polizei. “Heute ist, wenn die Farbe Ihrer Haut nicht weiß ist, das Risiko, von der Polizei gestoppt zu werden, sehr groß”, sagte Prä­sident Macron der Zeit­schrift Brut im Dezember 2020. Ver­klau­su­liert erklärte der Prä­sident der fran­zö­si­schen Bevöl­kerung, dass das Ver­halten der Polizei ras­sis­tisch sei.

Natürlich stellen sich auch Feig­linge in Rich­terrobe auf die Seite des schicken Pöbels gegen die Polizei. Im Jahr 2016 ent­schied das Kas­sa­ti­ons­ge­richt, dass “eine Iden­ti­täts­prüfung auf der Grundlage phy­si­ka­li­scher Merkmale, die mit einer tat­säch­lichen oder ver­mu­teten Her­kunft ver­bunden sind, ohne vor­herige objektive Begründung dis­kri­mi­nierend ist. Es handelt sich um einen schwer­wie­genden Fehler.”

Am 27. Januar 2021 lei­teten die Anwälte von sechs pro­mi­nenten NGOs eine Sam­mel­klage gegen den Staat ein. Sie schickten eine for­melle Mit­teilung an den fran­zö­si­schen Pre­mier­mi­nister Jean Castex sowie an den Innen­mi­nister Gérald Darmanin und den Jus­tiz­mi­nister Éric Dupond-Moretti und for­derten ein Ende der “Gesichts­kon­trollen”.

Der Staat hat vier Monate Zeit, um auf die for­melle Mit­teilung der NGO zu reagieren und Vor­schläge zu unter­breiten. Wenn er nicht zufrie­den­stellend reagiert, wird die Sam­mel­klage gegen den Staat, die erste ihrer Art in Europa, vor Gericht gebracht.

Die fran­zö­sische Polizei wird nicht nur von fran­zö­si­schen Staats­an­ge­hö­rigen ange­griffen. Mächtige inter­na­tionale Akteure haben sich eben­falls ver­pflichtet, die Ermitt­lungs­res­sourcen der Polizei in Frage zu stellen. Am 6. Oktober 2020 erließ der EU-Gerichtshof in drei Fällen (Rechts­sachen C511, C512 und C520/18) ein Urteil in Bezug auf die “weit ver­breitete und wahllose Spei­cherung von Ver­kehrs- und Stand­ort­daten” im Bereich der elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni­kation. Mit anderen Worten, um die Pri­vat­sphäre der euro­päi­schen Bürger zu schützen, sind die natio­nalen Regie­rungen nicht berechtigt, von einem Tele­fo­nie­un­ter­nehmen zu ver­langen, dass es Kun­den­daten (für einige Monate) auf­be­wahrt. Bei­spiels­weise kann ein ermit­telnder Polizist in naher Zukunft keine detail­lierten Daten mehr zu den von einem Straf­tat­ver­däch­tigen getä­tigten und emp­fan­genen Tele­fon­an­rufen oder zu den GPS-Koor­di­naten zum Zeit­punkt des Emp­fangs und der Durch­führung der Anrufe der letzten zwei Monate erhalten.

Infol­ge­dessen wird die Ver­hütung und Auf­klärung von Ver­brechen viel kom­plexer und oft unmöglich sein. In 90% der Fälle hat die Polizei nur die Tele­fon­nummern, die in der Nähe eines Tatorts regis­triert waren, als Hin­weise zur Ver­fügung. Wie bei einer Schnit­zeljagd hatten diese Tele­fon­nummern der Polizei dabei geholfen, Ver­dächtige aufzuspüren.

Die Kräfte, die heute gegen die Polizei toben – einige Medien, Pro­mi­nente, “anti­ras­sis­tische” Orga­ni­sa­tionen und NGOs, ein Teil der fran­zö­si­schen Justiz und die euro­päi­schen Men­schen­rechts­ge­richte sowie der soge­nannte Men­schen­rechtsrat der Ver­einten Nationen und anderer inter­na­tio­naler Orga­ni­sa­tionen – alle kämpfen darum, den euro­päi­schen Staaten ihre Macht in einem wesent­lichen Punkt zu ent­ziehen: ihrer Mission, die Sicherheit aller Bürger zu gewähr­leisten. Jean-Eric Schoettl, ehe­ma­liger Gene­ral­se­kretär des Ver­fas­sungs­rates, schrieb:

“Von Natur aus lehnen Richter, Kom­missare und größ­ten­teils Mit­glieder des Euro­päi­schen Par­la­ments Europa als Macht ab, ebenso wie sie die nationale Sou­ve­rä­nität in Frage stellen. Diese All­ergie gegen alles Herr­schende ist die DNA einer Union, die gegen die Idee der Macht selbst gegründet wurde.”

Wenn dieser fran­zö­sische Stil des Geld­entzugs der Polizei Erfolg hat, wird sich die soge­nannte Anti-Ras­sismus-Ideo­logie, die Mitte der 1980er Jahre von der Linken auf­ge­stellt wurde, als das wirk­samste Instrument zum Abbau von Staaten seit der bol­sche­wis­ti­schen Revo­lution von 1917 erweisen. Wenn die Polizei die Öffent­lichkeit nicht unter­suchen oder schützen kann, weil Beamte Angst haben, als Ras­sisten bezeichnet zu werden, dann ist die Sicherheit aller Bürger in Gefahr.

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Yves Mamou, Autor und Jour­nalist aus Frank­reich, arbeitete zwei Jahr­zehnte als Jour­nalist für Le Monde.