Das Thema Flucht und Vertreibung beschäftigt mich schon seit meiner Kindheit. Bin ich doch selbst ein „Nachgeborener“ von Vertriebenen aus Westpreußen (Danzig).
Allzu gut erinnere ich mich an die schrecklichen erinnerten Erzählungen vor allem meiner Großmutter, die mit ihren drei Söhnen (darunter auch mein Vater) über das zugefrorene Haff fliehen musste.
Bei dieser unfassbar harten und grausamen Flucht griffen immer wieder sowjetische Tiefflieger und Jagdbomber (Jabos) den (und auch andere) schutzlosen Flüchtlingstrecks an.
Hunderte vor allem Frauen, Kinder und Alte kamen dabei ums Leben, wie meine Oma berichtete. Sie erzählte, wie die russischen Schützen mit den Bord-MGs auf die Wehrlosen zielten und abdrückten.
Nur mit viel Glück überlebten sie …
Dazu an anderer Stelle mehr.
Die Vertreibung und die Flucht von Millionen Menschen aus den deutschen Ostgebieten ist ein Thema, das noch immer viel zu kurz kommt, mir aber sehr am Herzen liegt.
So bin ich in einem Archiv auch auf ein 72 Jahre altes “Mitteilungsblatt der Landsmannschaft Ostpreußen” gestoßen, in dem ein Königsberger über das damalige Leben in seiner einstigen Heimat, der früheren Hauptstadt Ostpreußens berichtet.
Aus dem deutschen Königsberg, einst ab 1724 die Königliche Haupt- und Residenzstadt in Preußen, wurde das russische “Kaliningrad”.
Lesen Sie selbst dieses äußerst interessante Zeitdokument, das einen Blick in die unheilvolle Vergangenheit zulässt:
Quelle Screenshot/Bildzitat: https://archiv.preussische-allgemeine.de/1949wo/1949_02_01wo01.pdf
Königsberg, im Januar.
Ein kiesbestreuter Bahnsteig, drei baufällige Baracken, ein Triumphbogen aus grüner Pappe, mit den Bildern Lenins und Stalins geschmückt. Kaliningrad empfängt seine Besucher in Ponarth, auf dem ehemaligen Güterbahnhof, weit draußen im Süden der Stadt. Hellblau, ledergepolstert mit blinkenden Scheiben die Straßenbahn, die mich zum Stadtkern bringt. Sie ist frisch aus Moskau importiert und kündet stolz von der „Kultura” im „Vaterland der Werktätigen”.
Durch zerstörte und völlig verödete Stadtteile geht es zum „Platz der Befreiung”, auf dem noch heute das Denkmal Kaiser Wilhelm I. steht.
Rund 80 v. H. aller Bauten in Königsberg sind durch Kriegseinwirkungen zerstört. Von der Innenstadt ist außer kleinen „Oasen” am Hansaplatz und am Rosengarten nichts stehen geblieben. Der Schloßturm, das alte Wahrzeichen der Stadt, ist auf der einen Seite völlig aufgerissen. Von der Universität steht nichts mehr. Fast der gesamte Nordwesten der Stadt aber, Juditten, Ratshof, Amalienau, die Hufen und Charlottenburg, sind zum größten Teil erhalten geblieben.
Auf den Hufen haben sich die Regierungsstellen niedergelassen.
Quelle Screenshot/Bildzitat: https://archiv.preussische-allgemeine.de/1949wo/1949_02_01wo01.pdf
Der „Oberste Sowjet” des Gebiets residiert im ehemaligen „Raiffeisenhochhaus”, im Amtsgericht am Nordbahnhof sitzt die NKWD, deren Kommissare auch in Kaliningrad zu den meistbeschäftigsten Leuten gehören. Das frühere Finanzpräsidium ist das Hauptquartier des Oberkammandierenden, die Mädchengewerbeschule, das „Haus der Roten Armee” geworden. Die Handelsschule ist jetzt „Technikum”. Die ehemalige Staatsbibliothek wurde nach Wilna abtransportiert.
Etwa 20 000 Deutsche leben heute in Königsberg. Nur langsam und zögernd kam die russische Zivilbevölkerung in das eroberte Gebiet. Erst als das Gebiet am 1. Januar 1946 in die „Russische Föderative Sowjetrepublik” eingegliedert wurde, siedelte man die Einwohnerschaft ganzer Dörfer von der Ukraine und Westsibirien nach Nordostpreußen um. Etwa 100 000 davon ließen sich in Königsberg nieder.
Im September 1946 wurden „Nichtrussische Volksschulen” zugelassen.
Deutsche Lehrer müssen hier die ihnen anvertrauten Kinder zu Kommunisten erziehen.
Die deutsche Intelligenz ist in dem sogenannten “Deutschen Club” zusammengefaßt, wo sie von KPFunktionären geistig ausgerichtet wird.
Die Deutschen, die in der ersten Zeit willkommene Arbeitskräfte gewesen waren, sind jetzt mehr und mehr durch Russen, die sie selbst einarbeiten mußten, verdrängt worden. Nur wer das Glück hat, arbeiten zu dürfen, erhält Geld und Lebensmittelkarten.
Viele Wohnhäuser in Amalienau und auf den Hufen sind zu „Staatsläden” umgebaut worden, in denen es seit dem Ende der Rationierung in der Sowjetunion, Dezember 1947, alles zu kaufen gibt. Die Preise sind sehr hoch und stehen in keinem Verhältnis zu den Einkommen, vor allem dem der Intelligenzberufe.
Ein Buchhalter oder Arzt müßte für ein Paar Schuhe oder vier Pfund Butter sein halbes Monatsgehalt opfern, ein Betriebsführer oder Professor ein Siebentel. Ein Anzug westeuropäischer Qualität würde den Professor anderthalb Monatseinkommen kosten.
Zur kulturellen Betreuung der russischen Bevölkerung stehen das Theater der „Roten Armee” und vier Kinos zur Verfügung, die meist schlecht synchronisierte deutsche Filme zeigen.
Wenn Propagandastreifen der russischen Regierung vorgeführt werden, sind die Filmtheater leer.
Sämtliche Industriewerke Königsbergs wurden 1945 zerstört, der Rest, soweit noch brauchbar, demontiert und nach dem Osten geschafft.
1946 begann sehr langsam der Wiederaufbau der Industrie. Die sogenannte Leichtindustrie arbeitet ausschließlich für die „Rote Armee”.
Im Zuge der Eingliederung in die Sowjetunion wurden alle deutschen Bauern von ihren Höfen vertrieben und ihr Land russischen Siedlern zur Verfügung gestellt. Nur etwa die Hälfte des zur Verfügung stehenden Bodens wird bebaut.
Nordostpreußen, früher die Kornkammer Deutschlands, muß heute die Hälfte seines Bedarfs an Getreide und Fleisch einführen.
Kaliningrad ist heute eine durchaus russische Stadt geworden. Ihr äußeres Bild gleicht dem eines der vielen russischen Provinzstädtchen.
Mit Königsberg hat es nur noch die geographische Lage gemeinsam.
(„Die Welt”, 15. 1. 1949.)
Quelle: “Wir Ostpreußen – Mitteilungsblatt der Landsmannschaft Ostpreußen/Folge 1/Jahrgang 1/1. Februar 1949” (https://archiv.preussische-allgemeine.de/1949wo/1949_02_01wo01.pdf)
Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de
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