Glet­scherholz: Die Zeugen frü­herer Warmphasen

Der Mor­te­ratsch­glet­scher oberhalb von Pont­resina ist in den letzten Jahren immer wieder in den Schlag­zeilen gewesen. Es handelt sich um eine Eis­zunge, die infolge der Erd­er­wärmung stark abge­schmolzen ist. Im 20. Jahr­hundert ging der Glet­scher um über zwei Kilo­meter zurück. Er gilt darum als Mahnmal für den Kli­ma­wandel und den damit ver­bun­denen Rückzug des Eises in den Alpen. Oft wird von «lei­denden» oder gar «ster­benden» Glet­schern geschrieben – so als handle es sich bei ihnen um lebende Orga­nismen, die Opfer des men­schen­ge­machten Kli­ma­wandels geworden sind. Dabei wird der aktuelle Rückgang des Eises gerne als ein­malig hingestellt.

Oft wird von «lei­denden» oder gar «ster­benden» Glet­schern geschrieben – so als handle es sich bei ihnen um lebende Organismen.

Aus­ge­rechnet der Mor­te­ratsch­glet­scher hat jetzt aber Material frei­ge­geben, das so gar nicht in das Nar­rativ der bei­spiel­losen Kli­ma­er­wärmung passt. In den letzten zwei bis drei Jahren wurden im Vorfeld des Glet­schers mehrere Stücke von Lärchen-Stämmen gefunden, die zuvor unter dem Eis ver­borgen waren. Die Teile sind bis zu fünf Meter lang und 80 Zen­ti­meter dick. An einem Stamm befindet sich noch der Wur­zel­stock. Gefunden wurde das Holz auf einer Höhe von 2150 Metern über Meer.
Ein sen­sa­tio­neller Fund: Gian Andri Godly, der Ober­förster des Engadins, hat Christian Schlüchter, eme­ri­tierter Pro­fessor der Uni­ver­sität Bern, auf die ent­deckten Baum­stämme auf­merksam gemacht. Der Geologe und Glet­scher­for­scher hat sich in den letzten Jahr­zehnten auf die Erfor­schung von Holz spe­zia­li­siert, das von Glet­schern kon­ser­viert worden ist. «Ein sen­sa­tio­neller Fund», schwärmt er mit Blick auf die Lärchen-Funde beim Morteratschgletscher.

Geologe Christian Schlüchter auf der Suche nach Glet­scherholz. Bild: zVg Schlüchter

Zusammen mit dem Den­dro­chro­no­logen Kurt Nico­lussi von der Uni­ver­sität Inns­bruck und der Phy­si­kerin Irka Hajdas von der ETH Zürich hat Schlüchter das Alter der gefun­denen Lärchen-Stämme bestimmt. Das geschah mittels einer radio­me­tri­schen Datierung des Koh­len­stoff-Isotops C14, das im Holz ent­halten ist, und einer Begut­achtung der Jah­res­ringe. Das Resultat war, dass das Holz etwas mehr als 10’000 Jahre alt ist. «Der grösste Stamm weist 337 Jah­res­ringe auf und ist vor 10’500 Jahren abge­storben», so Schlüchter. «Also begann der Baum vor 10’800 Jahren zu wachsen.»

Auf­grund des guten Zustands der Stämme leitet der Geologe ab, dass diese vom Eis höchstens einige Dutzend Meter weit trans­por­tiert worden sind. Jeden­falls wuchsen sie an einer Stelle, die heute noch eis­be­deckt ist. Dort oben gab es damals zumindest einen lockeren Baumbestand.
Der Mor­te­ratsch­glet­scher muss vor über 10’000 Jahren also ein gerin­geres Ausmass gehabt haben als heute, und das während einer Dauer von min­destens einigen Jahr­hun­derten. «Der Glet­scher war damals viel weiter oben», sagt Christian Schlüchter. Er schätze, dass es 1,2 bis 1,6 Grad wärmer als heute gewesen sein muss.
Nur 900 Jahre nach der Eiszeit: Bemer­kenswert ist, dass der letzte Vor­stoss der Eiszeit erst vor 11’700 Jahren stattfand. Der erwähnte Baum begann also nur 900 Jahre später zu wachsen. «Man wusste bisher nicht, dass zwi­schen der Eiszeit und dem Auf­kommen der ersten Lärchen auf dieser Höhe so wenig Zeit verging», stellt Schlüchter fest. Die damalige Erwärmung muss jeden­falls eine ziemlich rasante gewesen sein. Und diese ging ohne jeg­lichen Ein­fluss des Men­schen vonstatten.

Eine Studie ergab, dass der Rho­ne­glet­scher in den letzten 10’000 Jahren mehr als die Hälfte der Zeit ein gerin­geres Ausmass hatte als 2005.

Die damals hohen Tem­pe­ra­turen waren auch kei­nes­falls aus­ser­ge­wöhnlich. Das konnte Schlüchter auf­grund von Holz­funden bei anderen Glet­schern ableiten. Mehrmals muss das Klima seit der letzten Eiszeit so mild gewesen sein, dass in den Alpen Bäume wachsen konnten, wo heute noch Glet­scher sind. «Ich komme auf zehn bis zwölf solche Wär­me­phasen», sagt der Geologe. Eine Studie von 2011 in der Fach­zeit­schrift «Geology» ergab, dass der Rho­ne­glet­scher im Wallis in den letzten 10’000 Jahren sogar mehr als die Hälfte der Zeit ein gerin­geres Ausmass hatte als 2005.

Dennoch gilt das gegen­wärtige Abschmelzen des Eises als Problem. Vor kurzem wurde beim Mor­te­ratsch­glet­scher sogar eine Beschnei­ungs­anlage in Betrieb genommen. Der Enga­diner Gla­zi­al­geograf Felix Keller will damit den Schwund des Glet­schers auf­halten. «Nur eine Schnee­schicht kann die Glet­scher wirklich schützen», sagte Keller gegenüber den Medien. Ob das Projekt ange­sichts der regel­mäs­sigen Vor­stösse und Rück­zügen des Eises in den letzten Jahr­tau­senden Sinn macht, sei dahin­ge­stellt. Viel­leicht wachsen dort oben bald wieder Bäume.


 Quelle: nebelspalter.ch