screenshot youtube

Türkei: Will­kür­liche Fest­nahmen, Ent­füh­rungen, Folter im Gefängnis

Die tür­kische Regierung setzt die sys­te­ma­tische Anvi­sierung und Ver­folgung von Per­sonen, die als “Feinde” der Regierung ange­sehen werden, fort.

(von Uzay Bulut)

Ayşe Özdoğan, die an Kie­fer­höh­len­krebs im 4. Stadium leidet und und eines von Zehn­tau­senden Opfern der Türkei ist, wurde als Unter­stüt­zerin einer Bewegung ver­ur­teilt, die von Fet­hullah Gülen, einem mus­li­mi­schen Geist­lichen, der sich selbst nach Penn­syl­vania ins Exil begeben hatte, ange­führt wurde, Die Regierung von Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnet Gülens Bewegung als “ter­ro­ris­tische Orga­ni­sation” und wirft ihr einen Putsch­versuch im Jahr 2016 vor.

Özdoğans soge­nanntes Ver­brechen besteht laut Gerichts­urteil darin, in einem der Gülen-Bewegung ange­glie­derten Wohnheim gear­beitet haben. Sie wurde zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis ver­ur­teilt, weil sie “Mit­glied einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­nigung” war. Ihr Ehemann, ein Lehrer, wurde an seinem Arbeits­platz ent­lassen und wegen des gleichen mut­maß­lichen Ver­bre­chens inhaf­tiert. Ihr 8‑jähriger Sohn leidet an einem ange­bo­renen Herzfehler.

Özdoğan wurde zwei Wochen nach der Krebs­dia­gnose im April 2019 fest­ge­nommen und inhaf­tiert. Da sie die erfor­der­liche zweite Ope­ration zur Krebs­be­handlung nicht durch­führen konnte, hat sich die Krankheit auf ihr Gehirn aus­ge­breitet. Obwohl sie schließlich wegen des Herz­leidens ihres Sohnes ent­lassen wurde, ist sie jetzt massiv behindert.

Der tür­kische Kas­sa­ti­ons­ge­richtshof hat ihre Haft­strafe genehmigt, was bedeutet, dass sie bald wieder inhaf­tiert wird. Seit ihrer Frei­lassung kämpft sie auf Twitter darum, ihrer Stimme Gehör zu ver­schaffen. Sie sucht Unter­stützung bei der Öffent­lichkeit und Gerech­tigkeit bei den staat­lichen Behörden. Am 14. Juni schrieb sie auf Twitter:

“Da sich meine Ope­ration während meiner Haft ver­zö­gerte, wurden mein linker oberer Zahn, linker Gaumen, Wan­gen­knochen und Lymph­knoten ent­fernt. Die Unter­seite meines linken Kinns ist jetzt leer. 20 cm Knochen wurden von meinem Bein genommen und auf meinem Gesicht ein­ge­setzt. Diese Ope­ra­tionen haben sich auf meinen ganzen Körper aus­ge­wirkt und ich habe jetzt Hör‑, Seh- und Sprachverlust.

“Ich habe Pro­bleme beim Gehen. Seit meine Trä­nen­drüsen ent­fernt wurden, hören meine Tränen nie auf, sie fließen ständig. Seit ich Platin unter mein Auge gelegt bekommen habe, kommt es in diesem Bereich zu einer Ent­zündung, die auch von außen sichtbar ist. Gemäss dem letzten MRT, das ich hatte, hat sich der Tumor auf den hin­teren Teil meines Auges ausgebreitet.”

Özdoğan ins Gefängnis zu schicken, während ihr Körper auf­grund von Krebs zer­fällt, bedeutet ein lang­sames und schmerz­haftes Todes­urteil. Noch mehr, weil Folter und Miss­hand­lungen sowie ein Mangel an medi­zi­ni­scher Ver­sorgung für kranke Gefangene in tür­ki­schen Gefäng­nissen weit ver­breitet sind.

Eine Men­schen­rechts­gruppe namens “Über­wa­chung und Nach­be­reitung der Hun­ger­streiks” – zu der Orga­ni­sa­tionen wie die Ärz­te­kammer Diyar­bakır, die Men­schen­rechts­stiftung der Türkei, die Men­schen­rechts­ver­ei­nigung, die Anwalts­ver­ei­nigung für Freiheit, die Ver­ei­nigung für Soli­da­rität mit und Hilfe für die Familien von Gefan­genen und die Gewerk­schaft des Gesund­heits- und Sozi­al­per­sonals – besuchte Gefäng­nisse in Diyar­bakır, Elazığ, Urfa, Bayburt, Erzincan, Malatya und Maraş und berichtete über die Rechts­ver­let­zungen im April, Mai und Juni 2021.

Dem Bericht zufolge sind poli­tische Gefangene in diesen Gefäng­nissen häufig Folter, Über­griffen, Belei­di­gungen, Dro­hungen und anderen Formen der Miss­handlung aus­ge­setzt. Einige der Miss­bräuche sind:

Ein Gefan­gener im Diyar­bakır-Typ-Gefängnis gab an, dass er wie­derholt in Fol­ter­kammern gefoltert wurde, die auch als Aqua­ri­en­räume, Schwamm­räume oder weiche Räume bekannt sind. Diese Räume sind so auf­gebaut, dass es dort keine Über­wa­chungs­ka­meras gibt und keine Fol­ter­er­kennung durch­ge­führt werden kann. Er gab an, dass sein linker Daumen gebrochen war, nachdem er am 3. Mai 2021 gefoltert wurde, während seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Er gab an, dass er während seiner Über­stellung aus dem Espiye-Gefängnis einer Nackt­durch­su­chung unter­zogen wurde. Der Bericht fügt hinzu, dass es in diesem Gefängnis viele Fälle von Folter gibt, aber die Gefan­genen zögern im All­ge­meinen, Anzeigen ein­zu­reichen, und man lässt sie ver­zweifeln, indem ihnen gesagt wird, dass sie, selbst wenn sie eine Straf­an­zeige bei der Gefäng­nis­ver­waltung und dem Per­sonal ein­reichen, es keine Ergeb­nisse bringen wird.

Als die geschla­genen Gefan­genen im Gefängnis von Elazığ sagten, dass sie in die Gefäng­nis­kran­ken­station gehen wollten, mussten sie min­destens drei Tage warten. Als sie endlich Zugang zum Gefäng­nisarzt hatten, erhielten sie keinen Bericht über den Angriff. Nachdem die Gefan­genen eine Straf­an­zeige wegen Schlägen ein­ge­reicht hatten, wurde gegen die Gefan­genen ein Dis­zi­pli­nar­ver­fahren wegen Beam­ten­be­lei­digung und Prä­si­den­ten­be­lei­digung ein­ge­leitet, anstatt eine Unter­su­chung gegen die Täter einzuleiten.

In Malatya sagten die Gefan­genen, sie seien nackt gewaltsam durch­sucht worden. Als sie es nicht akzep­tierten, nackt durch­sucht zu werden, wurden sie geschlagen und erhielten Dis­zi­pli­nar­strafen. Sie gaben an, dass die Gegen­stände, die sie aus den Gefäng­nissen, aus denen sie über­stellt wurden, mit­ge­bracht hatten, ihnen von den Gefäng­nis­be­hörden nicht aus­ge­händigt wurden. Auf einigen Sta­tionen gab es Selbst­mord­fälle und Todes­fälle. Einige Gefangene gaben an, dass ihre Frei­lassung auf­grund der will­kür­lichen Strafen, die sie erhielten, ver­hindert wurde, wie die Ein­weisung in Ein­zel­zellen, weil sie keine rechts­wid­rigen Prak­tiken akzep­tiert (ein­schließlich erzwun­genem Auf­recht stehen).

Kranke Häft­linge werden in den meisten Fällen nicht in Kran­ken­häuser verlegt. Sie werden nicht ange­messen behandelt und ihre Anträge an die Jus­tiz­voll­zugs­ver­waltung, um Hilfe zu ersuchen, bleiben unbeantwortet.

Die Gefan­genen, die ins Kran­kenhaus ein­ge­liefert werden, werden in Dop­pel­hand­schellen einem Arzt vor­ge­führt, und die Ärzte zeigen keine negative Reaktion auf diese Miss­hand­lungen. Wenn Gefangene Ein­wände erheben, werden sie ohne Unter­su­chung aus dem Kran­ken­zimmer ent­fernt und es wird ein Bericht erstellt, in dem fest­ge­stellt wird, dass die Gefan­genen aus eigenem freien Willen nicht unter­sucht werden wollen.

Es gibt viele Häft­linge mit chro­ni­schen Krank­heiten, die keine ange­messene medi­zi­nische Behandlung erhalten. Bayram Demirhan zum Bei­spiel hatte einen Funk­ti­ons­verlust beider Nieren, einen Seh­verlust von 95 % auf einem Auge und 20 % auf dem anderen. Er wurde jedoch nicht medi­zi­nisch behandelt. Dem Bericht zufolge wurde in einem anderen Fall ein kur­di­scher Gefan­gener aus Nord­ost­syrien namens Izeddin Reşo mit Strom gefoltert, was seine Hände und Füße auf­platzen liess. Danach litt er unter schweren psy­chi­schen Problemen.

Unter­dessen werden die­je­nigen fest­ge­nommen, die sich für die Rechte der Opfer ein­setzen. Der oppo­si­tio­nelle Abge­ordnete der Demo­kra­ti­schen Volks­partei (HDP), Ömer Faruk Ger­ger­lioğlu, wurde bei­spiels­weise zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis ver­ur­teilt, weil er in seinen Social-Media-Bei­trägen “Pro­pa­ganda für eine Ter­ror­or­ga­ni­sation gemacht” hatte. Seine par­la­men­ta­rische Immu­nität wurde am 17. März auf­ge­hoben. Ger­ger­lioğlu startete an diesem Tag eine “Jus­tiz­be­ob­achtung” im Par­lament. Am 21. März wurde er von der Polizei gewaltsam aus dem Par­lament ent­fernt und in Gewahrsam genommen. Ger­ger­lioğlu wurde später frei­ge­lassen und setzte seine “Jus­tiz­be­ob­achtung” in seinem eigenen Haus fort. Am 2. April wurde sein Haus von der Polizei durch­sucht und er wurde inhaftiert.

Ger­ger­lioğlu ist eine aus­ge­spro­chene Stimme von Opfern von Folter, will­kür­lichen Fest­nahmen, rechts­wid­rigen Ent­las­sungen und anderen Rechts­ver­let­zungen in der Türkei. Am 5. Juli inter­ve­nierte die Polizei mit Trä­nengas gegen die “Jus­tiz­be­ob­achtung”, die die HDP vor dem Sincan-Gefängnis in Ankara initiiert und die Frei­lassung von Ger­ger­lioğlu gefordert hatte. Fünf Per­sonen, dar­unter der Sohn von Ger­ger­lioğlu, Salih Ger­ger­lioğlu, wurden von der Polizei fest­ge­nommen. Die Fest­ge­nom­menen wurden bei der Fest­nahme von der Polizei geschlagen. Salih wurde am selben Tag frei­ge­lassen; sein Vater wurde am 7. Juli frei­ge­lassen.

Bestraft wurde auch Sinan Aygül, Chef­re­dakteur der Zeitung “Bitlis News”, weil er sich gegen Rechts­ver­let­zungen aus­ge­sprochen hatte. Gegen ihn wurde eine Klage wegen “Ver­letzung der Ver­trau­lichkeit der Ermitt­lungen” ein­ge­reicht, nachdem er 2019 über einen Fall von Kin­des­miss­brauch in der Stadt Bitlis berichtet hatte.

Die Gerichts­be­hörde ver­ur­teilte ihn unter Berufung auf die früher ein­ge­reichten Klagen auf­grund der Nach­richten, die Aygül publi­ziert hatte, zu 10 Monaten Gefängnis. Sie behaup­teten: “In Anbe­tracht der kri­mi­nellen Per­sön­lich­keits­merkmale des Ange­klagten und seines Beharrens darauf, ein Ver­brechen zu begehen, gab es in unserem Gericht keine positive Meinung, dass er kein Ver­brechen mehr begehen würde…” Das Beru­fungs­ge­richt bestä­tigte das Urteil, indem es die 10-monatige Frei­heits­strafe auf fünf Monate reduzierte.

Aygül begab sich am 30. Juni ins Tatvan-Gefängnis, um seine Haft­strafe zu ver­büßen. Der Täter, über den Aygül berichtet hatte, wurde jedoch zu fünf Jahren Gefängnis ver­ur­teilt und dann freigelassen.

Aygül gab vor dem Gefängnis eine Erklärung gegenüber der Presse ab:

“Die Haft­strafe, die ich erhalten habe, ist für mich nicht so wichtig, aber die Bestrafung eines Nach­rich­ten­ar­tikels, der sexu­ellen Miss­brauch an Kindern auf­deckt, führt uns zu einem ganz anderen Punkt. Lassen wir die Ein­schränkung der Pres­se­freiheit und die Legi­ti­mation von Beläs­tigung und Ver­ge­wal­tigung auf diese Weise nicht zu.”

Solche unrecht­mä­ßigen Inhaf­tie­rungen und will­kür­lichen Fest­nahmen sind in der Türkei so weit ver­breitet, dass die Türkei im Rechts­staats­index 2020 des Welt­ge­rech­tig­keits­pro­jektes jetzt auf Platz 107 von 128 Ländern liegt.

Unter­dessen sind auch die­je­nigen, die sich außerhalb der Türkei auf­halten, vor der Willkür der Regierung nicht sicher. Am 5. Juli gab Prä­sident Erdoğan bekannt, dass der tür­kische Geheim­dienst den im ver­gan­genen Mai in Kir­gi­sistan ver­schwun­denen Päd­agogen Orhan İnandı “vor Gericht gestellt” habe. İnandı, ein Dop­pel­bürger beider Länder, der 26 Jahre als Schul­leiter in Kir­gi­sistan gear­beitet hatte, ist nicht das erste Ziel einer Ent­führung durch die tür­kische Regierung. Viele andere Fälle von Ent­füh­rungen von Dis­si­denten haben sich in afri­ka­ni­schen, Balkan- und süd­ost­asia­ti­schen Ländern ereignet.

Im Februar gab das US-Außen­mi­nis­terium bekannt, dass Prä­sident Joe Biden einer Außen­po­litik ver­pflichtet ist, “die auf die Ver­tei­digung der Demo­kratie und den Schutz der Men­schen­rechte aus­ge­richtet ist”. Ist es ange­sichts des erschre­ckenden Aus­maßes der Zer­störung der Men­schen­rechte von Bürgern der Türkei nicht an der Zeit, dass die US-Regierung den Men­schen­rechten dort endlich Prio­rität einräumt?

—————————————–

Uzay Bulut, eine tür­kische Jour­na­listin, ist Distin­gu­ished Senior Fellow am Gatestone Institute.


Quelle: gatestoneinstitute.org