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Der Libanon und seine tickenden Zeitbomben

Was macht man in der inter­na­tio­nalen Politik, wenn man nicht weiss, was man tun soll, aber den Anschein erwecken will, etwas zu tun? Die Antwort lautet: Sie ver­an­stalten eine inter­na­tionale Konferenz.

(von Amir Taheri)

Diese Masche begann mit der berüch­tigten Kon­ferenz von Ver­sailles nach dem Ersten Welt­krieg, die sich zu einer Reihe von Foto­ter­minen ent­wi­ckelte, während die wirk­lichen Ent­schei­dungen anderswo und hinter den Kulissen getroffen wurden. In jün­gerer Zeit gab es die grosse Madrider Kon­ferenz, die einen unwahr­schein­lichen Frieden im Nahen Osten her­bei­führen sollte, aber eine neue Ära des Kon­flikts in der vom Krieg zer­ris­senen Region ein­leitete. Letzte Woche fand eine vir­tuelle Version der inter­na­tio­nalen Libanon-Kon­ferenz statt, die zweite innerhalb von 12 Monaten, die anlässlich des Jah­res­tages der töd­lichen Explosion in Beirut ver­an­staltet wurde.

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Die Explosion scho­ckierte viele, dar­unter auch Frank­reichs Prä­sident Emmanuel Macron, weil die vielen tickenden Zeit­bomben, die im Libanon seit fast drei Jahr­zehnten aktiv sind, jah­relang nicht beachtet wurden.

Die erste Kon­ferenz endete mit dem klas­si­schen Kli­schee von der Soli­da­rität mit dem liba­ne­si­schen Volk und dem Ver­sprechen, 295 Mil­lionen Dollar für den Wie­der­aufbau der zer­störten Haupt­stadt bereit­zu­stellen. Auf der zweiten Kon­ferenz wurde fest­ge­stellt, dass keine dieser Floskeln eine Bedeutung erlangt hat und das ver­spro­chene Geld ent­weder nicht aus­ge­zahlt wurde oder in den Taschen der üblichen Ver­däch­tigen gelandet ist. Der einzige Wie­der­aufbau, der – wenn auch in beschei­denem Umfang – statt­ge­funden hat, wurde von NGOs mit etwas Hilfe der Schweiz und einiger anderer Länder durchgeführt.

Erstaun­li­cher­weise fordert der fran­zö­sische Gast­geber der Kon­ferenz immer noch die Bildung einer ein­ver­nehm­lichen Regierung, während der neueste Akteur im Bunde, der desi­gnierte Pre­mier­mi­nister Najib Miqati, ver­spricht, ein “tech­ni­sches Kabinett” zu bilden.

Das Problem mit dem Konzept einer ein­ver­nehm­lichen Regierung besteht darin, dass sie nur erreicht werden kann, wenn ein Konsens über das Wesen des Libanon als poli­tische Einheit besteht.

Ist der Libanon ein Natio­nal­staat im üblichen Sinne? Wenn dem so ist, warum sagt Hassan Nas­rallah, der Führer des liba­ne­si­schen Zweigs der His­bollah, er sei “der Vor­posten des Wider­stands”, der von Teherans oberstem poli­ti­schen Mullah Aya­tollah Ali Kha­menei geführt wird?

Für andere Füh­rungs­leute, die weniger dreist sind als Nas­rallah, ist der Libanon eine Melkkuh oder ein kolo­niales Gebilde, das geplündert und dessen Reichtum in west­liche Nist­kästen, ins­be­sondere nach Frank­reich, trans­fe­riert werden soll. Wieder andere in der der­zei­tigen Führung sehen den Libanon als Vehikel für Ego­trips, bei denen sie auf der natio­nalen und inter­na­tio­nalen Bühne Schach spielen können.

Tat­sache ist jedoch, dass sich der Libanon nicht wegen tech­ni­scher Pro­bleme in dieser tra­gi­schen Lage befindet. Die Pro­bleme des Libanon sind zutiefst poli­tisch. Der Konsens, auf dem der liba­ne­sische Staat von Anfang an beruhte, ist schwer erschüttert worden. Formale Regie­rungs­struk­turen wurden dupli­ziert und zuweilen durch schat­ten­hafte Organe ersetzt, die nie­mandem Rechen­schaft schuldig sind, ausser viel­leicht aus­län­di­schen Geld­gebern. Das Min­destmass an Rechts­staat­lichkeit, das viele Umwäl­zungen ein­schliesslich eines umfas­senden Bür­ger­kriegs über­standen hatte, wurde durch die Herr­schaft von Revol­ver­helden ersetzt.

Was heute im Libanon als Regierung gilt, ist eine Ansammlung von Schat­ten­be­hörden, die sich als Präsidial‑, Par­la­ments- und Minis­te­ri­al­be­hörden tarnen. Prä­sident Michel Aoun, der in seinen besten Zeiten ein Zucht­meister war, ist nicht einmal in der Lage, dem Rest der staat­lichen Büro­kratie ein Min­destmass an Dis­ziplin auf­zu­er­legen. Die Minis­terien ant­worten nicht einmal mehr auf E‑Mails, geschweige denn aktua­li­sieren sie regel­mässig ihre Websites.

Die betagte poli­tische Elite ihrer­seits scheint jeden Kontakt zur Rea­lität ver­loren zu haben.

Einige schlagen vor, bis zu den ver­spro­chenen Wahlen im nächsten Jahr abzu­warten, die, wenn sie denn statt­finden, einfach die gleiche Kon­stel­lation wie­der­holen würden. Bei der letzten Wahl hat nur knapp die Hälfte der Wahl­be­rech­tigten ihre Stimme abge­geben, weil die ange­botene Auswahl in etwa gleich, zwi­schen schlecht und schlechter war. Es ist unwahr­scheinlich, dass eine Wie­der­holung der gleichen Pro­zedur zu einem anderen Ergebnis führen wird.

Andere aus der poli­ti­schen Elite schlagen vor, das Land in “Kantone” auf­zu­teilen, um ihre neo­feu­dalen Pri­vi­legien zu erhalten. Sie ver­stehen nicht, dass die Schweiz nicht erfolg­reich ist, weil sie “Kantone” hat, sondern ihre “Kantone” funk­tio­nieren, weil sie in der Schweiz sind.

Die inter­na­tionale Gemein­schaft kann den Libanon nicht seinem Schicksal überlassen.

Positiv zu ver­merken ist, dass die Region und die ganze Welt den Libanon als Hort des Aus­tauschs, des Dialogs und des Friedens brauchen, während ein Libanon, der sich in eine Plattform für den “Export von Revo­lution” und wahrem Terror ver­wandelt, zusammen mit Drogen und schmut­zigem Geld, allen im Mit­tel­meerraum schaden wird. Der Wie­der­aufbau Syriens, wenn und falls er denn statt­findet, würde den Libanon als Sprung­brett brauchen, während das von der Assad-Bande hin­ter­lassene Wrack wieder eini­ger­massen in Ordnung gebracht wird.

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Ohne die poli­tische Frage zu stellen, können weder Kon­fe­renzen noch finan­zielle Ver­spre­chungen die tickenden Zeit­bomben ent­schärfen, die den Libanon in die Luft jagen und die ohnehin schon instabile Lage im Nahen Osten weiter ver­schlechtern könnten.

Die Frage in poli­ti­scher Weise zu stellen, liegt nicht in der Gabe von Macron oder irgend­einem anderen Aus­sen­seiter, egal wie wohl­meinend sie auch sein mögen.

Diese Frage könnte nur von der liba­ne­si­schen Bevöl­kerung gestellt werden.

Ich höre bereits die­je­nigen, die sich über diesen Vor­schlag lustig machen und uns daran erinnern, dass die Men­schen den Libanon in Scharen ver­lassen. Einige Freunde berichten, dass sie dafür sorgen, dass die letzten Mit­glieder ihrer Familien aus dem sin­kenden Schiff abspringen, bevor es zu spät ist. Einige behaupten, dass es so etwas wie ein liba­ne­si­sches Volk in einem Land­strich, der von ver­schie­denen und ein­ander feindlich gesinnten Volks­gruppen oder “Gemein­schaften” bevölkert ist, nicht gibt.

Der Libanon ist jedoch seit 5.000 Jahren ein Land der Aus­wan­derung, und heute ist die Dia­spora liba­ne­si­scher Her­kunft mög­li­cher­weise grösser als die aktuelle Bevöl­kerung des Landes. Dennoch ist der Libanon eines der wenigen Länder in der Region, das sich durch die Ent­wicklung seiner «Libanité» eine über­grei­fende nationale Iden­tität bewahrt hat, die die kon­fes­sio­nellen Unter­schiede überwindet.

Seit etwa einem Jahr erleben wir das Wie­der­auf­leben des Libanon-Gefühls, da Men­schen mit unter­schied­lichem Hin­ter­grund in dem Bemühen zusam­men­kommen, eine andere Vision für ihr Land zu ent­wi­ckeln. Es ist nicht einfach, eine solche Vision zu ent­werfen, und ihre Ver­wirk­li­chung kann das Werk von Gene­ra­tionen sein. Und doch kann eine Nation durch gemein­sames Leid und den gemein­samen Glauben an ihre Kraft, ihre his­to­rische Ent­wicklung zu kor­ri­gieren, neu geformt werden. Könnte dies bei einer wei­teren Wahl geschehen, die von der gleichen dis­kre­di­tierten poli­ti­schen Elite domi­niert wird? Viel­leicht, wenn die­je­nigen, die die letzte Wahl boy­kot­tiert oder nie gewählt haben, zur Wahl gehen und 2022 zu einem Jahr des his­to­ri­schen Wandels machen.

Eines ist sicher: Das der­zeitige liba­ne­sische Modell hat sein Ver­falls­datum längst über­schritten. Wie es geändert werden soll, weiss niemand mit Sicherheit. Was aber alle wissen, viel­leicht mit Aus­nahme der Teil­nehmer der Kon­ferenz, ist, dass es sich ändern muss und wird.

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Amir Taheri war von 1972 bis 1979 Chef­re­dakteur der Tages­zeitung Kayhan im Iran und ist seit 1987 Kolumnist bei Asharq Al-Awsat.


Quelle: gatestoneinstitute.org