Julian Reichelt, screenshot youtube

Vera Lengsfeld: Das Exempel Rei­chelt — der Kampf gegen Andersdenkende

Heute morgen um 8.10 wurde mir bei MDR-Kultur in aller Deut­lichkeit vor Augen geführt, worum es im Fall Julian Rei­chelt, dem geschassten Bild-Chef, eigentlich geht: Das Problem sind nicht die angeb­lichen Sex‑, Drogen und Kaser­nen­hofton-Geschichten, für die es wenig Beweise, aber um so mehr Geraune gibt, es geht um die Unter­drü­ckung jeg­lichen Wider­spruchs gegen die Regierung, poli­tische Ent­schei­dungen und der Kritik am ver­ord­neten Zeit­geist. Julian Rei­chelt als mäch­tiger Chef­re­dakteur der Bild war den poli­tisch-kor­rekten Mei­nungs­wächtern schon lange ein Dorn im Auge. Ein erster Angriff auf ihn, übrigens mit den ähn­lichen Vor­würfen, wie sie jetzt recycelt werden, ist vor etwa einem halben Jahr fehl­ge­schlagen. Nach über­stan­denem Com­pliance-Ver­fahren kam Rei­chelt zurück in die Redaktion und machte uner­schrocken weiter. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der nächste Angriff erfolgen würde. Nachdem sich ein „Recher­cheteam“ an ihm abge­ar­beitet hat, scheinen die Ergeb­nisse so wenig sub­stan­tiell zu sein, dass sich Ver­leger Dirk Ippen wei­gerte, sie zu ver­öf­fent­lichen. Den Part übernahm dann die New York Times. Diesmal war die Attacke von Erfolg gekrönt. Rei­chelt wurde mit sofor­tiger Wirkung seines Postens ent­hoben. Ob damit die Bild-Redaktion auf poli­tisch-kor­rekte Linie gebracht wird, bleibt abzuwarten. 

Zurück zum besagten Interview. Gesprächs­partner war der Redakteur der gänzlich unbe­deu­tenden und weit­gehend unbe­kannten „Blätter für Deutsche und Inter­na­tionale Politik“ Albrecht von Lucke. Die MDR-Mode­ra­torin sagte gleich zu Beginn, dass man die angeb­lichen Ver­feh­lungen Rei­chelts außer Acht lassen könne. Offen­sichtlich war ihr bewusst, dass man damit kein Interview bestreiten kann. Lucke nahm den Hinweis gern auf und startete eine Phil­ippika, die sich nicht nur gegen Rei­chelt, sondern vor allem gegen Mathias Döpfner richtete: „Der Fisch stinkt vom Kopf“, behauptete Lucke und meinte damit nicht, dass auf Döpfner  ähn­liche Ver­gehen zuträfen, wie auf Rei­chelt, sondern dass er Rei­chelts poli­ti­schen Kurs der Kritik an der Regierung stützte. Die Vor­würfe, die Lucke am Fließband her­vor­spru­delte, sind nicht neu. Er hat bereits im März dieses Jahres ein Stück. „Rechte APO mit medialer Macht –  Die neueste Ideo­lo­gie­pro­duktion aus dem Hause »Springer« ver­öf­fent­licht. Da steht bereits alles drin.

Aus­gangs­these dieses Pam­phlets ist fol­gende: Mit dem „wohl ambi­tio­nier­testen Projekt der ver­gan­genen Jahre“, gemeint ist das Format „Bild live“, ginge  Springer „ganz gezielt in die Offensive, und zwar in einem bemer­kens­werten medialen Drei­klang von „Bild live“, dem immer popu­lis­ti­scheren Leit­medium „Bild“ und der radi­kalen Ideo­lo­gie­schmiede „Die Welt“. „Dieses Trio infernale dient einem drei­fachen Zweck: erstens, die mediale Hege­monie zu erlangen, um damit – zweitens – auf die geschwächte poli­tische Klasse Druck aus­zuüben und so drittens das ent­ste­hende Macht­vakuum mit den eigenen, dem Verlag genehmen Zielen und Inhalten zu füllen – und zwar dezi­diert gegen jede pro­gressive, auf öko­lo­gische Nach­hal­tigkeit aus­ge­richtete Politik“.

Dialog oder gar Wider­spruch sind in Luckes Bild von der „pro­gres­siven Politik“ nicht vorgesehen.

Warum „Bild live“ so gefährlich ist, ana­ly­siert Lucke fol­gen­der­maßen: „Dank Corona als einem die Digi­ta­li­sierung enorm beschleu­ni­genden Ereignis ist der Aufbau von „Bild live“ inzwi­schen erstaunlich weit vor­an­ge­schritten. Kaum ein Poli­tiker oder eine Poli­ti­kerin, sieht man einmal von der Kanz­lerin ab, der oder die sich den Anfragen von „Bild“ entzöge; alle rennen…dem neuen Sender förmlich das Studio ein“.

Aha, Rei­chelts Erfolg wurde ihm zum Ver­hängnis. Der Mann hat innerhalb kür­zester Zeit „Bild live“ „als die Stimme des Volkes gegen die Poli­ti­ker­kaste“ eta­bliert. Im poli­tisch kor­rekten Weltbild ist vox populi nicht mehr vox dei, sondern eine  „aggressive, fast schon inqui­si­to­rische Geisteshaltung“.

Rei­chelt wolle „ins Kern­ge­schäft der öffentlich-recht­lichen Sender“ ein­zu­dringen, trotz der ein­dring­lichen Warnung von Noch-Kanz­lerin Angela Merkel oder der EU-Kom­mis­si­ons­chefin Ursula von der Leyen, sich bitte aus­schließlich bei den Öffentlich-Recht­lichen zu infor­mieren und immer brav auf die Politik zu hören.

„Bild live“ hatte für Lucke bereits Anfang des Jahres „erheb­liche Aus­wir­kungen auf die gesamte Medi­en­land­schaft“. Der Sender werde „regel­mäßig vom „Deutsch­landfunk“ – dem für die poli­ti­schen Ent­scheider maß­geb­lichen Nach­rich­ten­kanal – zitiert bzw. als O‑Ton ver­sendet, was eine immense Auf­wertung bedeutet“. Keine Zeitung habe „in den zurück­lie­genden Jahren derart Front gegen die Regierung gemacht“, empört sich Lucke und ent­hüllt damit sein man­gelndes Demo­kra­tie­ver­ständnis. In einer funk­tio­nie­renden Demo­kratie haben die freien Medien die Aufgabe, die Regierung zu kon­trol­lieren, nicht inof­fi­zielle Regie­rungs­sprecher zu spielen.

Das Bild diesem grund­ge­setz­lichen Auftrag nach­kommt, findet Lucke besonders bekämp­fenswert. Er ima­gi­niert eine Kon­zern­stra­tegie, die darauf abziele, die Schwäche der Regierung als „eine Steil­vorlage für alle Neo­li­be­ralen zu ver­wenden, die  „nur auf die Schwä­chung der Politik und letztlich des Staates abzielen“. Die Corona-Politik bietet den Springer-Leuten die Gele­genheit, das „schier unfassbare Ausmaß an Staats­in­ter­ven­tio­nismus“ anzuprangern.

„In immer schnel­lerer Abfolge seiner Leit­ar­tikel“ ima­gi­niere z. B. der „Welt“-Chef Ulf Por­schat „eine fast schon tota­litäre Republik“ ein „Vor­spiel zum Sys­tem­wechsel“ – und das Übungsfeld für all das, was im Hin­ter­grund zwecks Bekämpfung der Kli­ma­krise längst geplant werde“.

Wer so ket­ze­risch denkt und ver­öf­fent­licht, muss der Feme ver­fallen. Deshalb greift Lucke vor allem Mathias Döpfner an. Solange Döpfner, der meint, dass ein Land mit aus­schließlich öffentlich-recht­lichen Medien eher Nord­korea als einer leben­digen Demo­kratie gleicht, den Konzern leitet, ist die Gefahr des Anders­denkes nicht gebannt. Lucke ist kei­nes­falls allein mit dieser Ansicht. Auch Spiegel, t‑online und Süd­deutsche schießen sich auf Döpfner ein.

Das Her­an­gehen ähnelt fatal dem Vor­gehen gegen den unge­liebten Leiter der Gedenk­stätte im ehe­ma­ligen Sta­si­ge­fängnis Hohen­schön­hausen Hubertus Knabe, der geschasst wurde, weil sein Stell­ver­treter auch mit Sexismus-Vor­würfen atta­ckiert wurde. Das könnte sich bei Döpfner wie­der­holen, wenn nicht den Luckes und dem Ver­dachts­jour­na­lismus, der sich nicht um den Grundsatz „in dubio pro reo“ schert, sondern in Hexenjagd-Manier zwei­fel­hafte Vor­würfe unge­prüft zur medialen Hin­richtung nutzt, die rote Karte gezeigt wird. Es ist höchste Zeit.  Der Kampf gegen Anders­den­kende hat schon tota­li­tären Cha­rakter angenommen.


Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de