Die Taliban haben die Macht übernommen, seit die USA und andere sich zurückgezogen haben. Entgegen den Erwartungen erklärten die Taliban, dass trotz der Einführung der Scharia Mädchen und Frauen weiter zur Schule und auf Universitäten gehen dürfen, ja sogar Regierungsposten bekleiden sollen. Doch das wird nur äußerst zurückhaltend eingehalten. Ja, Frauen dürfen noch auf die Uni, aber nur im Niqab, einer Vollverschleierung, bei der nur die Augen noch frei sind und unter Geschlechtertrennung. Die Berichte über Morde an Frauen reißen nicht ab. Eine Überraschung ist das nicht.
Weil sie angeblich ohne Burka auf die Straße gegangen waren, wurde gleich eine Gruppe Frauen in aller Öffentlichkeit abgeschlachtet. Immer wieder ereignen sich Fälle, bei denen Frauen, die Universitätsdozenten sind, Ärzte oder Journalisten, eine Nachricht bekommen, dass sie zu einer bestimmten Adresse kommen sollen, es gebe eine Möglichkeit, außer Landes zu kommen. Frozan Safi war eine davon. Sie begab sich mit drei anderen Frauen zu der angegebenen Adresse. Dort wurden dann später die Leichen der vier gefunden.
Das Ganze läuft recht organisiert und gut geplant ab. Eine afghanische Frau, eine von drei Quellen aus Masar-i-Sharif, die Informationen an die französische Nachrichtenagentur AFP schmuggelt, berichtet, auch sie habe vor drei Wochen selbst einen Anruf von jemandem erhalten, der ihr scheinbar Hilfe dabei anbot, sich im Ausland in Sicherheit zu bringen:
“‘Er kannte alle Informationen über mich, bat mich, meine Dokumente zu schicken, wollte, dass ich einen Fragebogen ausfülle, und gab vor, ein Beamter meines Büros zu sein, der für die Weitergabe von Informationen an die USA für meine Evakuierung verantwortlich ist‘, sagte sie. Nachdem sie misstrauisch geworden war, blockierte sie den Anrufer und lebt nun in Angst. Sie war schockiert, als sie von den Morden hörte. ‚Ich hatte schon Angst‘, sagte sie. ‚Meine psychische Verfassung ist heutzutage nicht gut. Ich habe immer Angst, dass jemand an meine Tür kommt, mich irgendwohin mitnimmt und mich erschießt‘.”
Die Taliban hatten zwar versprochen, jeden Mord an Frauen zu bestrafen und beharren darauf, dass kein Taliban befugt sei, Frauenaktivisten zu töten. Doch es bestehen große Zweifel daran, dass das tatsächlich umgesetzt und stringent angewandt wird. Die Taz schreibt:
Binnen weniger Wochen schafften die Taliban etliche Frauenrechte ab. In einer ihrer ersten Amtshandlungen setzten sie die Geschlechtertrennung für die Universitäten in Kraft. In mehreren Provinzen schlossen sie Mädchenschulen, in Kabul lösten sie das Frauenministerium auf und quartierten in dessen Gebäude ausgerechnet die berüchtigte Moralpolizei ein. Frauenhäuser schickten aus Angst vor Repressalien ihre Bewohnerinnen zurück zu ihren Familien. Unternehmerinnen schließen oder verkaufen ihr Business, weibliches Behördenpersonal wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben – oder zieht das von sich aus vor, weil Gerüchte über Zwangsverheiratungen mit Talibankämpfern die Runde machen.
Dort, wo sie vor 20 Jahren angefangen hatten, bevor der endlose Krieg im Land anfing, machen sie heute eben doch weiter. Damals schon wurden Frauen konsequent aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt. Und nun haben die wieder regierenden Taliban – genauer: das Ministerium für die Förderung der Tugend und Verhütung des Lasters – sehr weitreichende Einschränkungen für Film und Fernsehen beschlossen und in Kraft gesetzt. Die Fernsehsender dürfen keine Serien oder TV-Filme mehr ausstrahlen, bei denen Frauen mitspielen.
Nichts in den Produktionen darf im Widerspruch zur islamischen Scharia stehen. Auch ausländische Filme, die „fremde Kulturen und Traditionen in der afghanischen Gesellschaft verbreiteten und Sittenlosigkeit verursachen“ dürfen nicht mehr gezeigt werden. Ein Stein des Anstoßes sind auch Filme aus der Türkei, Indien und dem Iran, denn auch diese sind nicht unbedingt Scharia-konform, aber waren in Afghanistan sehr beliebt. Was aber gar nicht geht, dass dort verhalten amouröse Szenen gezeigt werden, Frauen es wagen, mit einem Mann zu argumentieren. Oder sich weigern den Mann zu heiraten, den ihre Eltern für sie ausgesucht haben, weil sie einen anderen lieben und am Ende das liebende Paar auch zusammenkommt.
Moderatorinnen und Reporterinnen dürfen allerdings weiter auf der Bildfläche erscheinen, sofern sie einen Hidschab tragen. (Das ist eine Art Kopftuchschleier, der nur das Gesicht freilässt und bis auf die Schultern fällt oder die Schultern mit verhüllt.)
Frauen haben in der Öffentlichkeit auch keinen Namen. Sie werden nach ihren männlichen Verwandten identifiziert. Also „Tochter von X“ oder „Mutter von Y“ oder „Ehefrau von Z“ oder „Mutter der Kinder“. Es wird immer irgendwie umschrieben. Nicht einmal auf dem Grab einer Frau steht ihr Name.
Auch dann, wenn sie im Leben eine Sonderstellung innehat, etwas Bemerkenswertes geleistet hat, bleibt sie „Frau von X“ oder der ihres Vaters oder Sohnes wird genannt und das erhöht sein Ansehen. Aber auch, wenn sie etwas Verwerfliches tut, ist es der Name des Mannes, der dann beschmutzt wird. Das ist mit ein Grund, warum die Frauen praktisch daheim eingekerkert sind, dann können sie keinen Schaden anrichten und Schande auf ihre männlichen Verwandten laden.
Ein schwieriges System: Die Ehre eines Mannes ist abhängig von der Ehre seiner Frau. Das stammt noch aus vor-islamischer Zeit und ist nicht nur in Afghanistan heute noch vorhanden. Diese komplizierte Verbindung wird in der wissenschaftlichen Arbeit „Manly Honor and Gendered Male in Afghanistan“ beschrieben. Hier spielen zwei Worte eine große Rolle: „Namus und Gheirat“
„Namus“ umfasst alle Menschen und besondere Dinge, deren Ehre und Unbeflecktheit der Mann mit allen Mitteln verteidigen muss. Bei Menschen sind es die mit ihm eng verbundenen Frauen (Mutter, Schwester, Tochter, Ehefrau) bei Dingen sein Land, sein Gewehr, sein Dorf.
„Gheirat“ ist ein Begriff, der den Mann selbst beschreibt und bedeutet gleichzeitig etwa Männlichkeit, Ehre und Verpflichtung. Man könnte es vielleicht „Mann von tadellosem Ruf“ nennen. Und es geht letztendlich um Frauen, Gold und Land (Zan, Zar, Zamin)
Es ist naiv vom „Westen“ zu glauben, dass irgendwelche gemachten Versprechungen der Taliban-Regierung noch lange Bestand haben werden. Auch hier funktionieren die altbekannten Regierungsmethoden, wie bei uns „im Westen“ auch. Es wird viel versprochen und dann in Salamitechnik einfach immer weiter unterlaufen, bis alles an dem Punkt angekommen ist, den sie sowieso erreichen wollten. Alles, was man vorher empört von sich gewiesen und als Verschwörungstheorie gebrandmarkt hat, ist jetzt Fakt und man hat sich damit abzufinden. Warum sollten afghanische Talibanregierungen sich anders verhalten als unsere?
Die Vorstellungswelt der Leute dort ist eine vollkommen andere. Thomas Röper auf seiner ausgezeichneten Seite „Anti-Spiegel“ beschreibt die dortige Denkwelt in einer deutschen Übersetzung aus dem Russischen recht eindrücklich:
„Kaum hatten die Taliban eine Amnestie angekündigt und Frieden in ganz Afghanistan versprochen, begannen sie mit der Jagd auf Götzenbilder. Als erstes setzten sie einen Vergnügungspark in Brand, in dem sie sich kurz zuvor noch vergnügt hatten. Den Taliban gefielen wahrscheinlich die Pferde auf einem Karussell nicht. Für sie sind das Götzen, was im Islam verboten ist.“
Thomas Röpers Meinung dazu:
„Aber man darf nicht vergessen, dass Afghanistan eine Stammesgesellschaft ist, die sich aus vielen verschiedenen Völkerschaften zusammensetzt und dass Afghanistan kaum ein wirklicher Zentralstaat wird, sondern dass sich die Regelungen regional in ihrer Strenge unterscheiden dürften.“
Man kann wahrscheinlich ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Taliban sehr bald wieder auf dem Stand von vor dem Krieg angekommen sind und verfahren, wie sie wollen. Und dass die Amerikaner mit Sicherheit nicht wirklich aus Afghanistan draußen sind, sondern sich eher aus einer aussichtslosen Lage heraus neu positioniert haben. Das Chaos soll gar nicht enden, und es gibt viel zu viele Interessen dort, deretwegen die USA ihre Finger im Spiel halten will und muss – und dazu wird sie der Taliban-Regierung gegenüber einigermaßen zurückhaltend agieren.
Da wäre zum Beispiel die Gaspipeline (TAPI) von Turkmenistan durch Afghanistan über Pakistan nach Indien. Die USA bzw. der Gaskonzern Unocal (heute Chevron) wollte diese Gasleitung bauen und Russlands ausstechen. Man wollte sich auch an dieser afghanisch-russischen Grenze festsetzen, um da als Stachel im Fleisch der russischen Vorhofes zu agieren. In dem hochbrisanten Gebiet zwischen Russland oben im Nordwesten, dem Iran unten im Südwesten, China im Osten und Afghanistan mittendrin muss man als Weltmacht USA vor Ort sein und agieren und Augen und Ohren offenhalten. Man kann auch mit False Flag Aktionen in einem solchen Gebiet recht hübsche Effekte erzielen und ein Maximum an Störungen verursachen.
Und dazu brauchen die USA ein gewisses Miteinander mit der neuen alten Taliban-Regierung. Die braucht Geld, das sie durch eine Kooperation bei TAPI sicher bekäme. Es handelt sich um Transitgebühren von etwa 400 Millionen Dollar jährlich. Afghanistan ist noch chaotischer und ärmer als zuvor. Das Volk erwartet nun Frieden und etwas mehr Wohlstand und für jeden etwas Gold. Nicht alle Stämme sind von der paschtunischen Talibanherrschaft begeistert. Es gab auch Widerstand. Wenn die jetzige Taliban-Regierung nicht liefert, könnte das ungemütlich werden. Selbst die „taz“ titelt: „Angst und Armut in Afghanistan: Brutalstmögliche Unfähigkeit“:
„De facto kontrollieren die Taliban inzwischen das gesamte Land. Der letzte bewaffnete Widerstand gegen ihre Herrschaft blieb im Pandschirtal isoliert und brach schnell zusammen, das Parlament und zivilgesellschaftliche Organisationsstrukturen haben sich im Nullkommanichts aufgelöst, und auch machtgierige Warlords, die sich gegen die Taliban in Stellung bringen wollten, entpuppten sich schnell als Kolosse auf tönernen Füßen. Wie die Regierungsarmee stieben auch die Truppen der Warlords vor dem Ansturm der Taliban auseinander, ihre Befehlshaber flohen ins Ausland. (…) Einwohner Kabuls sagten der taz, die Kriminalität nehme wieder zu, nachdem eine anfängliche ‚Atempause aus Angst vor den Taliban‘ schnell wieder verflogen sei. Kriminelle oder inländische Flüchtlinge bewaffneten sich, gäben sich mitunter als Taliban aus und durchsuchten in deren Namen Häuser früherer Regierungsmitglieder oder konfiszierten Autos. Private Rechnungen aus 20 Jahren eines allseits brutal geführten Krieges werden jetzt beglichen, obwohl die Talibanführung versprach, dies nicht zuzulassen. (…) Unterdessen leidet die Bevölkerung in Folge von De-facto-Sanktionen unter einem Wirtschaftskollaps, der sich von Tag zu Tag weiter verschärft. (…) Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP warnte bereits: Bis Mitte nächsten Jahres könnten 97 Prozent der Afghan:innen in Armut leben.“
In einem solchen Hexenkessel der Instabilität haben die dort immer noch agierenden USA noch viele Karten auf der Hand. Die grauenhafte Situation der Frauen in Afghanistan ist ein Hebel, der die innere Sicherheit der Taliban-Regierung noch ein bisschen weiter destabilisiert. Das weiß diese auch.
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