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Nina Hagen und die seltsame Wahl beim Zap­fen­streich der Bun­des­kanz­lerin — Du hast den Subtext vergessen

Sie ist exzen­trisch und schrill, aber selbst Nina Hagen konnte nicht glauben, welches Musik­stück sich die schei­dende Kanz­lerin gewünscht hatte: Den alten DDR-Schlager „Du hast den Farbfilm ver­gessen“, den die Punk­sän­gerin Nina Hagen 1974 zum Hit machte. Den Text für dieses Erfolgs­stück schrieb damals ein „DDR-Staats­dichter“, der sich beson­derer Pri­vi­legien erfreute, bevor dann ruchbar wurde, dass er eine sexuelle Bestie war und sich eines viel­fachen Kin­des­miss­brauchs schuldig gemacht hatte.

Zuerst hielt Nina Hagen die Nach­richt über den alten DDR-Schlager für Fake News, wie sie auf Facebook schrieb (Auszüge):

„Einen wun­der­schönen Sonntag, liebe Maria Thomas, das habe ich auch mit­be­kommen, dass sich unsere Frau Bun­des­kanz­lerin für ihre Abschieds-Zere­monie, unter Anderem den Song ‚Du hast den Farbfilm ver­gessen‘ aus der alten DDR gewünscht haben soll, (was ich übrigens für eine fake — Meldung halte, … obwohl ich grade sehe, dass sogar die Tages­schau berichtet hatte .… ) — denn ‚Farbfilm‘, das ist ein Song mit Text von Kurt Demmler, und dass jedoch der Kurt Demmler ein DDR – ‚Staats­dichter‘ mit Sonder-Pri­vi­legien war und später ein wegen sys­te­ma­ti­schem Kin­des­miss­brauchs ver­ur­teilter Sexu­al­straf­täter, der im Gefängnis Selbstmord beging … wird ihr hof­fentlich bekannt sein. (…)
(…) auch wenn das Lied ‚Du hast den Farbfilm ver­gessen‘ , dessen Text der Kurt Demmler schrieb, der sich im Unter­su­chungs­ge­fängnis selbst getötet hat, der wegen Kin­des­miss­brauchs ange­klagt war, und für uns, die wir ihn kannten und ihm ver­trauten, doch einen bit­teren Bei­geschmack bekommen hat. (…) und noch ein P.S. zur Frage von Heike Ober: ‚Nina Hagen, bei all den schlimmen Hin­ter­grund Infor­ma­tionen über Kurt Demmler, find ich das Lied hat trotzdem Kult­status und ist auch schön. Du singst es doch auch noch gele­gentlich , liebe Nina, oder grenzt du dich davon jetzt aus besagten Gründen total davon ab? Was ja in Anbe­tracht dessen , kon­se­quent und sogar nach­voll­ziehbar wäre …‘ + Liebe Heike, zu Deiner Frage, und im Grunde habe ich das auch schon an Maria Thomas geschrieben. Nein, ich grenze mich nicht ab von dem Lied, aber ich werde mich nicht vor den Fakten ver­stecken, und auch nicht so tun, als gäbe es sie nicht. Mein Publikum kann und soll auch alle Zusam­men­hänge kennen. Sich vor der Wahrheit zu ver­stecken wäre feige, sowas ist mir ein Greuel! Fakt ist, dass der Text — Dichter dieses Songs, Kurt Demmler, ein hoch­pri­vi­lierter Künstler war in der DDR, ein staats­treuer Lie­der­macher, und besonders nach dem Fall der Mauer, beging er schweren, sys­te­ma­ti­schen Kin­des­miss­brauch und daß er sich dann in der Unter­su­chungshaft im Knast Moabit erhängte, und sich sang und klanglos aus dem Staub machte, schmerzt umso mehr. (…) UND NOCH ein p.s. Ich bin übrigens von der Zap­fen­streich-Musik-Auswahl genauso über­rascht worden, wie meine Freunde und meine Feinde glei­cher­maßen! Mir hat niemand vorher mal Bescheid gesagt. Kein Bun­des­kanz­leramt hat uns mal vorher kon­tak­tiert und niemand hat mich drauf vor­be­reitet. Den­je­nigen Leuten, die mir jetzt unter­stellen wollen, ich hätte mich ‚ver­raten und ver­kauft‘, denen kann ich nur raten: Bitte passt auf Euch auf, solche Rich­ter­sprüche sind voll gemein und absolut unge­recht! In der Bibel, im Mat­thäus-Evan­gelium steht geschrieben: Lieben ist besser als hassen!“

Der 1943 als Kurt Abra­mo­witsch – später Kurt Demmler — geborene Lie­der­macher und Texter war eine Größe in der Unter­hal­tungs­in­dustrie der DDR. Er schrieb auch Texte für viele Rockbands.

Den Nach­namen Demmler erhielt er durch die zweite Ehe seiner Mutter. Sein leib­licher Vater war als Flie­ger­soldat im Zweiten Welt­krieg ver­schollen gegangen. Als Schüler schon zeigte Kurt Demmler eine besondere Begabung auf musi­ka­li­schem Gebiet, sang im Kir­chenchor, brachte sich selbst das Gitar­re­spielen bei, gewann diverse Musik­wett­be­werbe und gab Kon­zerte. Als junger Mann und Sohn eines DDR-kri­ti­schen Eltern­hauses ver­fasste er sys­tem­kri­tische Lied­texte. Einen davon hängte er an die Wand­zeitung in seiner Schule, wurde der Schule ver­wiesen und geriet ins Blickfeld der Stasi. Das scheint dazu geführt zu haben, dass Kurt Demmler sich dem System ange­passt hatte. Er lökte zwar immer wieder mit einigen Lie­der­texten gegen den Stachel und wandte sich auch zusammen mit Wider­ständlern gegen die Aus­bür­gerung und das Ver­weigern der Wie­der­ein­reise Wolf Bier­manns 1976. Er machte einen Text über die Luft­ver­schmutzung in der DDR und schrieb viele Erfolgs­stücke. Er wusste aber immer, wie weit er gehen konnte. Demmler  machte auch ein Pro­gramm gemeinsam mit Kindern. Er wurde sogar „Anwalt der Kinder“ genannt und erhielt den Natio­nal­preis III. Klasse der DDR für Kunst und Lite­ratur für sein von hoher Qua­lität getra­genes schöp­fe­ri­sches Gesamt­schaffen als Autor für die Rock­musik sowie als Autor, Kom­ponist und Interpret im Lie­der­schaffen der DDR. Kurt Demmler, Text­autor und Interpret, Leipzig.“ 

Von da an wurde die Sache etwas auf­fäl­liger, aber man ver­traute ihm und bewun­derte ihn in der Szene. 

Demmler rief nach Kon­zerten nun dazu auf, ihm junge, talen­tierte Kinder vor­zu­stellen, die mit ihm gemeinsam musi­zieren sollen, da seine Stimme nicht so gut zu den ‚Liedern des Kleinen Prinzen‘ passe wie Kin­der­stimmen. Manche Eltern kamen dieser Auf­for­derung reflex­artig nach, ‚zu welchen Bedin­gungen auch immer‘. Von 1985 bis 1987 nahm Demmler an einer Lie­der­cir­cus­tournee teil, die ein von den bekann­testen Lie­der­ma­chern des Landes gestal­tetes Pro­gramm umfasste. Tour­nee­re­gisseur Mat­thias Gör­nandt berichtet davon, dass Demmler immer wieder durch die Begleitung (zu) junger Mädchen auf­ge­fallen sei: „Ich weiß, dass er ja sehr oft junge Mädels mit­brachte, die ihn einfach anhim­melten. Er war ein strei­chel­be­dürf­tiger Mensch und damit hat er es auch begründet. Und alle hat es natürlich auch befremdet, dass er immer mit so sehr jungen Mädchen ankam. Er ließ die dann auf der Bühne mal mitsingen.“

Für eine Mäd­chenband wurden Cas­tings gemacht. Kurt Demmler miss­brauchte sechs von ihnen mehr als 200 Mal. Die Ber­liner Zeitung berichtet die unschönen Ein­zel­heiten. Demmler kam lange mit selt­samen Aus­reden durch. Er wurde 2002 zwar schon wegen Miss­brauchs Min­der­jäh­riger ange­zeigt und auch ver­ur­teilt, kam aber mit einer Geld­strafe von etwa 1800 Euro davon. Eine weitere Demü­tigung für Dut­zende sehr junger Mädchen. Doch Demmler machte einfach weiter. Die 1800 Euro machten ihm nichts aus.

Neue Anzeigen, ein neuer Straf­prozess steht an. Doch dazu kommt es nicht mehr. Als  Jus­tiz­voll­zugs­beamte den Ange­klagten im Gefängnis Moabit aus der Zelle holen wollen, sehen sie Kurt Demmler mit einem Leder­gürtel um den Hals tot an den Git­ter­stäben des Fensters seiner Zelle hängen. Eigentlich hätte das nicht möglich sein sollen. Inhaf­tierte dürfen nichts in der Zelle haben, womit sie sich selbst töten könnten.

„Hänger auf Station G1“, schreit Jus­tiz­be­amter Ralph S. – Es ist der Morgen des 3. Februar 2009, Unter­su­chungs­haft­an­stalt Moabit. Der Tag, an dem DDR-Lie­der­macher Kurt Demmler (65) um 13 Uhr vor dem Land­ge­richt hätte erscheinen müssen. 

Kurt Demmler hatte sich auf diese Weise der Gerech­tigkeit ent­zogen, eine feige Flucht, wie Nina Hagen ent­täuscht fest­stellte. Damit war der Deckel drauf auf der Geschichte und die Opfer blieben mit ihren trau­ma­ti­schen Erfah­rungen ratlos zurück. Ein nicht auf­ge­löster Skandal, offene Wunden, die schlecht ver­heilen. Eine Geschichte, die nicht ver­gessen werden wird.

Bun­des­kanzler Frau Dr. Merkel weiß dies sicherlich. Es geht hier nicht um Sym­pa­thien oder Anti­pa­thien in Bezug auf Frau Dr. Angela Merkel. Auch nicht darum, ob das Lied wirklich ein schöner Schlager war und welche Erin­ne­rungen Frau Dr. Merkel damit verbindet.

Es geht darum, dass diese Wahl eines Musik­stücks mit diesem Hin­ter­grund einfach sehr unsen­sibel war. Besonders in der heu­tigen Zeit, wo jeder sehr  darauf achten muss, was er wie aus­drückt und welche Wortwahl poli­tisch korrekt ist, wo für ein unge­schicktes Kom­pliment eines Mannes an eine Frau schon gleich der „Sexuelle-Beläs­tigung-Hammer“ öffentlich auf ihn nie­der­saust und ihn per­sönlich und beruflich rui­niert … ist es dann ange­messen, dass ein schei­dender Bun­des­kanzler so ein Musik­stück zum Abschied aus dem Amt wünscht? Das war keine private Feier, auf der man locker tun kann, was man möchte. Es ist der große, fei­er­liche Zap­fen­streich vor dem Ber­liner Amtssitz des Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­riums. Das ist die höchste Form mili­tä­ri­scher Ehr­er­weisung der deut­schen Sol­daten. Eine Zere­monie mit langer Tra­dition, die nur zu ganz beson­deren Anlässen durch­ge­führt werden darf. Das war dieser Zere­monie nicht würdig.