Ein kleiner wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs
(von Ferdinand Speidel)
Ein immer noch vorherrschendes Paradigma wurde bereits im 19. Jahrhundert durch die beiden Briten Lyell (1795 – 1875) und Charles Darwin (1809 – 1882) geschaffen. Mit seiner Lehre der Uniformität, nach der alle geologischen Veränderungen auf der Erde durch ihre bekannten, langsamen Prozesse erklärbar sind, hatte Lyell der noch jungen Geologie die Basis gegeben. Sie wurde von Charles Darwin unterstützt, der in seiner Evolutionstheorie das Überleben des Starken und Tüchtigen durch eine lineare Entwicklung für die Biologie festschrieb.
Nach der breiten Anerkennung der beiden Thesen wurde Forschern wie Georges Cuvier (1769 – 1832), die für einen „Katastrophismus“ eintraten, nach dem auch kataklysmische Ereignisse erheblichen Einfluss auf die irdische Entwicklung nahmen, für lange Zeit jegliche Aufmerksamkeit durch die Wissenschaft entzogen.
Diese Lehre der Uniformität kann auf eine sehr lange Vorgeschichte zurückblicken, die sich bis zu Aristoteles (384 bis 322 v.Chr.) zurückverfolgen lässt. Hatte Platon (427 bis 347 v.Chr.) noch eine zyklische Entwicklung des irdischen Lebens, beeinflusst durch Naturkatastrophen mit abrupten Abbrüchen und unerklärlichem Neubeginn, gelehrt, so lässt sich mit Aristoteles ein Übergang von einem magischen Denken zu einem rationalen, beobachtenden, philosophischen Denken feststellen. Die Welt ging bei ihm in einen geordneten, vorhersagbaren Zustand über. Und dabei blieb es für die folgenden etwa 1.500 Jahre.
Die christliche Kirche übernahm diese Weltsicht und konnte mögliche Naturkatastrophen als göttliche Strafen für die sündige Menschheit erklären. Als Kopernikus (1473 – 1543) sein heliozentrisches System vorstellte, wurde es von der Kirche als mathematisches Modell verbrämt; Giordano Bruno, der sich für die These einsetzte, musste dafür 1600 auf dem Scheiterhaufen sein Leben lassen. Galileo Galilei, der ebenfalls Kopernikus´ Modell stützte, enthielt sich nach bischöflicher Ermahnung öffentlicher Äußerungen zu dem Thema.
Erst ein Jahrhundert nach Kopernikus´ Tod setzte sich seine These durch. Johannes Kepler (1571 – 1630) brachte eine neue Himmelserscheinung ins Spiel, die Kometen. Galileo Galilei hatte sie noch als Illusion betrachtet. Kepler war der Meinung, dass sie sich weit außerhalb des Sonnensystems bewegten.
Diesen Gedanken griff Isaac Newton (1642 – 1726) auf. Er hielt das Sonnensystem für eine göttliche Schöpfung, die wie ein Uhrwerk arbeitete, in das keine Kometen passten. Als der Astronom Flamsteed jedoch 1680 die Laufbahn eines Kometen als Parabel nachwies, erkannte Newton Kometen als Teil der göttlichen Ordnung an, nach der Zusammenstöße mit Planeten keine kataklysmischen Ereignisse, sondern göttliche Vorsehung waren. Nicht nur mit seinem Gravitationsgesetz, sondern auch mit dieser Hypothese nahm er beträchtlichen Einfluss auf den Gang der Wissenschaften.
Bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts war die Forschung zu Kometen und Meteoren noch auf einem niedrigen Niveau. Deshalb wurden sie auch nicht als Gefahr für die Erde betrachtet, trotz einiger offenkundiger Anzeichen. Bei dem Ende des Perm vor rund 250 Millionen Jahren und der Kreidezeit vor rund 65 Millionen Jahren erkannte man Zeichen für gewaltige Massenaussterben, sie wurden jedoch noch mit langfristigen Prozessen erklärt.
Als der amerikanische Geologe Walter Alvarez und sein Vater, der Physiker und Nobelpreisträger Luis Walter Alvarez, am Übergang von der Kreidezeit zum Tertiär einen hohen Iridium-Gehalt feststellten, werteten sie das als Zeichen für den Einschlag eines Himmelskörpers. Ihre Veröffentlichung dazu wurde jedoch vom Tisch gewischt. Erst nachdem der Chicxulub-Krater in Yukatan eindeutig als Einschlagkrater eines Meteors vor 65 Millionen Jahren identifiziert worden war, wurde die Alvarez-These als Ursache für die Auslöschung der Dinosaurier weitgehend anerkannt. Es wäre jedoch verfrüht, die Anerkennung dieses Ereignisses als Einflussfaktor auf das irdische Leben als Paradigmenwechsel zu betrachten, auch wenn manche Wissenschaftler es als Anzeichen dafür sehen.
Die Funktionsweise solcher Vorgänge beschreibt der amerikanische Wissenschaftsphilosoph und –historiker Thomas Kuhn in einem Buch mit dem Titel „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ [1]. Er unterscheidet zwei Arten der Wissenschaft, eine normale und eine revolutionäre. Die normale Wissenschaft findet in einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern statt, die ein gleiches Paradigma teilen. Ein Paradigma ist ein Glaubenskonsens, nach dem die zentralen Probleme eines besonderen Gebietes durch bestimmte Lösungen erklärt werden.
Wissenschaftler stehen zu einem Paradigma nicht etwa, weil sie es gründlich untersucht und getestet hätten, sondern weil sie ihm verpflichtet sind, üblicherweise durch Ausbildung, professionelle Werte und Übereinstimmung zwischen mächtigen Institutionen wie Stiftungen, Universitäten, Regierungsorganisationen und Forschungseinrichtungen. Das Paradigma ist richtig, weil jedermann es sagt, und weil es die Fakten erklärt, von denen jedermann sagt, dass es die richtigen sind. Diese Annahme ist so grundlegend und unzweifelhaft, dass alles innerhalb des vorherrschenden Paradigmas natürlich und normal, dagegen alles außerhalb – besonders die Anomalien – irrelevant erscheint.
Die revolutionäre Wissenschaft ist das Werk von Forschern außerhalb des Paradigmas, jene, die die vorherrschende Weisheit nicht akzeptieren und sich stattdessen der Anomalien annehmen, die das anerkannte Paradigma nicht erklären kann. Die Revolutionäre bieten ein neues, konkurrierendes Paradigma an, das die vorherigen Anomalien zum Stützpfeiler ihrer neuen wissenschaftlichen Weltsicht macht.
Da das normale und revolutionäre Paradigma nicht darin übereinstimmen, was zentral und wichtig ist, können sie sich nicht gegenseitig widerlegen. Wenn das neue Paradigma mehr Phänomene erklären kann, wird es sich durchsetzen. Obwohl konkurrierende Paradigmen verschiedene Phänomene erklären können, wird eines von beiden mehr seiner eigenen Phänomene erklären als das andere. Dadurch wird es für Wissenschaftler interessanter, da es weiter reichende Forschungsarbeiten und damit berufliches und persönliches Ansehen in Aussicht stellt.
Der amerikanische Astronom Tom Van Flandern beschrieb seine eigenen Erfahrungen mit wissenschaftlichen Lehrmeinungen in sehr eindringlicher Weise. [2] Es fiel ihm auf, dass in einigen Bereichen, wie Medizin, Biologie, Physik, Religion und anderen die Realität deutlich von dem abwich, was er darüber gelernt hatte. Er begann, sein eigenes „Wissen“ zu hinterfragen und war beunruhigt über das Ergebnis. Er war noch mehr überrascht, als er feststellte, dass einige „außergewöhnliche Hypothesen“ unbestreitbar richtig waren, obwohl sie von allen angesehenen Experten des jeweiligen Gebietes bestritten wurden.
Er versuchte herauszufinden, was daran falsch war und warum. Er bemerkte, dass es eine geübte Praxis war, die fundamentalen Annahmen einer einmal „anerkannten“ Theorie nicht mehr neu zu prüfen, auch wenn sie nach neueren Beobachtungen und Experimenten noch so inkompatibel waren. Er erkannte ein mächtiges, eigennütziges Interesse im „Status quo“ um bestimmte akzeptierte Theorien. Es wurde ihm klar, dass viele Leute einiges zu verlieren hatten, wenn eine anerkannte Theorie oder Praxis angefochten wurde: die Autoren der ursprünglichen Theorie, deren Namen bekannt wurden; all jene, die Artikel mit Bezug oder in Abhängigkeit von der Theorie veröffentlichten; Zeitschriftenverleger und Sachverständige, die Entscheidungen trafen oder andere Arbeiten kritisierten; Stiftungen, die Geld für die Forschung ausgegeben hatten; Apparatebauer, die Testverfahren auf der Basis einer Theorie entwickelten; Journalisten und Autoren, deren Veröffentlichungen eine Theorie unterstützten; Lehrer und öffentliche Personen, die eine Theorie lernten; Studenten, die in ihrem Arbeitsgebiet eine Arbeit suchten.
Inmitten seines Berufslebens machte er die Beobachtung, dass es wenige Professionelle gab, die wirklich für das Vorankommen der Wissenschaft arbeiteten und nicht nur für das eigene. Außerdem gab es viele Leute mit handfesten Interessen, die den Gruppenzwang verursachten. Der Gruppenzwang in der Wissenschaft, wie auch sonst in der Gesellschaft, besteht darin, Menschen mit gegensätzlicher Meinung anzugreifen oder zu ignorieren, ihre Motive und Kompetenzen zu diskreditieren. Selbst wenn sie nicht direkt persönlich betroffen sind, werden sie zumindest isoliert. Diejenigen, die die Notwendigkeit eines radikalen Wandels einer Theorie sehen, haben dadurch kein Interesse oder Motivation, die so stark wären, als die jener, die den Status quo unterstützen.
Als gäbe es nicht genügend Trägheit hinsichtlich Veränderungen, sah er noch ein weiteres Phänomen in unserer Zeit des schnellen Fortschritts der Wissenschaft, das sich selbst bei überwältigender Sachlage gegen Veränderungen stemmte. Nur wenige Wissenschaftler betrachteten sich außerhalb ihres eigenen Gebietes als qualifiziert und sahen sich auf die Unterstützung durch Experten anderer Gebiete angewiesen. In der Regel hat keiner der Wissenschaftler die Wissensbreite, um das gesamte Modell oder eine These im Gesamten zu überschauen, deshalb erhält das Projekt vielfache Unterstützung, ohne dass jemand die Verantwortung für die Zusammenführung des gesamten Wissens übernimmt. Als Ergebnis wird das Projekt ungeachtet seiner Vorzüge oder Nachteile weitergetragen, denn „so viele Experten können sich nicht irren“.
Mit diesem letzten Punkt spricht Van Flandern einen weiteren Aspekt an, der sich eher als Hemmnis denn als Fortschritt erweist: es ist die permanent fortschreitende Spezialisierung, die Atomisierung der Wissenschaften, wie auch aller anderen Lebensbereiche. Sie hat den unbestreitbaren Vorteil der Erarbeitung immer neuer Erkenntnisse durch die inzwischen immens vielen Fachbereiche, aber einen erheblichen Nachteil: Möglicherweise bleiben diese Erkenntnisse auf den eigenen Fachbereich begrenzt und erfahren keine Ergänzung durch andere oder ein Fachgebiet versucht, aus dem eigenen Wissen ein Gesamtbild zu formen, ohne das anderer Bereiche in Betracht zu ziehen. Eine fachübergreifende, koordinierende Zusammenfassung erfolgt praktisch nicht, wobei die zu den Paradigmen gemachten Ausführungen sicher eine Rolle spielen.
Bücher, die sich mit dem Thema „Atlantis“ befassen, versuchen in der Regel, seine Existenz oder Nichtexistenz nachzuweisen, was auch in diesem Buch der Fall ist. Der Untergang von Platons Atlantis (Abb. 5) fällt mit einer sehr prägnanten, geologischen Zeitgrenze zusammen, dem Ende der Eiszeit und dem Beginn unseres heutigen Erdzeitalters, dem Holozän. Zu dieser Zeit erlebte die Erde heftige Umwälzungen, die die Lebensmöglichkeiten des Menschen stark beschnitten und einschränkten und ihn selbst psychisch stark veränderten. Diese Veränderungen, die von der Wissenschaft als fortschrittlich angesehen werden, sollen hier ebenfalls untersucht werden. Die Fülle an Informationsmaterial ist fast unüberschaubar und kann kaum in ihrer Gänze herangezogen werden.
Trotzdem möchte dieses Buch den Versuch unternehmen, ein Bild über den Ablauf der letzten etwa 13.000 Jahre der Erdgeschichte zu zeichnen, das nicht nur die äußeren Zeichen der Veränderungen der Lebensbedingungen für den Menschen, sondern auch die geistig-psychischen Einflüsse auf ihn berücksichtigt.
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Anmerkungen und Quellen
Diese Leseprobe wurde — mit freundlicher Genehmigung des Verfassers — dem Buch “ATLANTIS — ALS DER MENSCH DAS KOLLEKTIVE BEWUSSTSEIN VERLOR” (, S.11–13) von Ferdinand Speidel entnommen, das im Dezember 2017 im RediRoma Verlag, Remscheid, erschienen ist. Redaktionelle Bearbeitung, Illustration und Untertitel (“Ein kleiner wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs”) durch Atlantisforschung.de im Mai 2018.
Fußnoten:
- Siehe: Thomas S. Kuhn, “The Structure of Scientific Revolutions”, University of Chicago Press, 1962 (Erstausbabe); auf Deutsch: “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen”, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1967 (Erstausgabe) bis 2007 (24. Auflage)
- Siehe: Tom Van Flandern, “Dark Matter, Missing Planets and New Comets: Paradoxes Resolved, Origins Illuminated”, North Atlantic Books, 1998 (Erstausgabe: 1993)
Bild-Quellen:
- 1) RediRoma Verlag / Bild-Archiv Atlantisforschung.de
- 2) ArtMechanic (Uploader) bei Wikimedia Commons, unter: File:Johannes Kepler 1610.jpg
- 3) Wikipedia — The Free Encyclopedia, unter: File:Thomas Kuhn.jpg (use rationale); nach: Anthrowiki, unter: Datei:Thomas Kuhn.jpg
- 4) StarHOG (Urheber) bei Wikimedia Commons, unter: File:Photo of Thomas Van Flandern.jpeg (Lizenz: Creative-Commons, „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“)
- 5) violations.dabsol.co.uk, unter: http://www.violations.dabsol.co.uk/search/searchpart1.htm (nicht mehr online)
Quelle: atlantisforschung.de
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