Das Wort „Cancel Culture“ taucht immer öfter in Debatten und Medien auf. Das Schlagwort bedeutet den systematischen Ausschluss und Boykott einer Person aus dem öffentlichen Leben, weil diese Person eine für die herrschende Political Correctness „falsche“ Meinung, eine „falsche“ Gruppenzugehörigkeit oder ein „falsches“ Verhalten gezeigt hat. Schon eine fehlende Distanzierung von „falschen Gruppen oder Personen“ kann schon zu allgemeiner Ächtung führen. Das haben schon viele erfahren müssen, auch Prominente. Nun hat es Keanu Reeves erwischt. Er wagte es, Peking zu verärgern.
Keanu Reeves sympathisiert mit den Tibetern. Er hatte bei einer Veranstaltung zur Unterstützung Tibets ein Gedicht vorgelesen, das seine Sympathien für tibetische Widerständler gegen die chinesische Herrschaft im Tibet ausdrückt und trat im März bei einem Benefizkonzert der New Yorker Organisation „Tibet House“ auf. Die kommunistische Führung Chinas war, nachdem sie 1949 in Peking die Macht übernommen hatte, den Tibet einfach per Einmarsch der Volksarmee in die Volksrepublik China einverleibt. In Peking reagiert man sofort höchst verschnupft, wenn das thematisiert wird.
Dennoch gibt es viele Prominente, die mehr oder weniger offen die Tibeter in ihrem Widerstand gegen die übermächtige chinesische Regierung unterstützen. Der Tibet ist zwar eine „autonome Region“, doch arbeitet Peking beharrlich daran, dessen Kultur, Sprache, Tradition, Religion und auch die Menschen zu „sinosieren“, d.h. es wandern ständig Han-Chinesen ein und überfremden das kleine Land, den Tibetern wird das Leben ihrer Kultur überall erschwert. Der Dalai Lama, das religiöse Oberhaupt der Tibeter, ist eine der Galionsfiguren des tibetischen Widerstandes, er steht auch hinter der Organisation „Tibet House“ – und im Westen insbesondere unter Prominenten sehr beliebt.
Keanu Reeves, der in China unter dem Namen „Jinu Liweisi“ bekannt ist, gibt es jetzt plötzlich in China nicht mehr. Da chinesische Pendant von „Google“, Iqiyi, liefert seitdem zu beiden Namensversionen keine Treffer. Nur einen Hinweis:
„Einige Ergebnisse werden wegen entsprechender Gesetze, Vorschriften und Politik nicht angezeigt“.
Es gibt einfach keine Filme und Informationen mehr mit Keanu Reeves in den chinesischen Medien. Der Hollywood-Schauspieler, der einen chinesischen Urgroßvater hat, wusste, worauf er sich einlässt. Auch Richard Gere hatte sich hinter die Unabhängigkeitsbestrebungen des Tibet gestellt und war der öffentlichen Ächtung anheim gefallen. Das kann den Schauspielern nicht egal sein. Der chinesische Markt für Filme und Unterhaltung ist riesig. Richard Gere sagte einmal, dass er nach dem chinesischen Boykott seiner Person keine großen Rollen mehr bekam, weil das den Film in China unverkäuflich gemacht hätte. Auch Lady Gaga bekam die Verstimmung Pekings für ihre Verbindung zum Dalai Lama zu spüren.
Die westliche Presse ist empört. Nicht genug, dass Filmproduktionsfirmen die neuen Kinofilme immer mehr auf den chinesischen Markt ausrichten, damit es da keine Schwierigkeiten gibt. Denn dort entscheiden politische Stellen, was in die Kinos darf. Jetzt canceln sie auch noch Filme, bei denen ein Darsteller nicht die richtige Meinung hat. Unglaublich. China ist eben mittlerweile der größte Filmmarkt der Welt und hat Indien längst abgelöst.
Hier bei China und Keanu Reeves schreit die Presse „Zensur!“. Man spielt wieder die Nummer des Freien Westens und schreibt Sätze, wie „In China lässt sich aktuell erleben, wie eine missliebige prominente Person aus der öffentlichen Wahrnehmung getilgt wird. (…) Offiziell gibt es dazu natürlich keine Erläuterungen. (…) Aktuell findet man noch einige Inhalte zu Reeves, wenn man in den Nachrichten der populären Messenger-Plattform WeChat sucht, auf der es auch diverse öffentliche Gruppen gibt. Allerdings dürfte es auch hier nur eine Frage der Zeit sein, bis die entsprechenden Filtersysteme anschlagen und ebenfalls alles zu seiner Person ausblenden.“
Die Wiener Zeitung bringt im Prinzip die vorgefertigte apa/dpa- Meldung, hängt aber noch ein paar Informationen dazu an, welche in- und ausländischenJournalisten von Peking verfokgt werden.
Ein Bericht von winfuture merkt kritisch an, dass Microsoft an seiner Suchmaschine „Bing“ in China Änderungen vornehmen musste: Die Autovervollständigung von Suchbegriff-Eingaben, ein beliebtes Feature der Suchmaschine. Aber:
„Aus Sicht der chinesischen Zensoren besteht hier das Problem, dass Nutzer zuweilen auf unerwünschte Zusammenhänge hingewiesen werden. Es steht daher zu vermuten, dass Microsoft in der genannten Frist auch manuelle Änderungen an den Vorschlägen vornehmen soll, so dass hier nur noch unverfängliche Zusammenhänge von Suchbegriffen präsentiert werden. Bing ist derzeit die einzige Suchmaschine eines westlichen Anbieters, die in China noch verfügbar ist. Der Grund liegt in einer umfassenden staatlichen Zensur, die es für ausländische Unternehmen schwierig macht, entsprechende Dienste anzubieten. Denn im Grunde müssen komplett eigene Indizes eingesetzt werden, die sich gravierend von den freien Versionen unterscheiden.“
Interessanterweise scheint die Fähigkeit einer „Transferleistung“, zu der Schüler schon herangebildet werden, den heutigen Medien und vielen Bürgern fremd zu sein. (Transferleistung in der Schule bedeutet das Übertragen von erlerntem Wissen von einem Beispiel auf eine veränderte Aufgabenstellung.)
Man kritisiert die Zensur und die Cancel-Culture in China, aber sieht nicht, dass man sie hier, in unserem ach-so-freien Land selbst ausübt. Man kritisiert das Boykottieren einer Person wegen „unstatthafter Meinung“ in China, diffamiert aber selber ausgiebig und auf unfairste Weise Menschen – auch hoch renommierte Personen — die dem öffentlich verordneten, politisch korrekten Narrativ widersprechen. Ob es um die Impfung, den Ukraine-Krieg, das Gendern, das Klima, oder die immerhin demokratisch ins Parlament gewählte AfD geht: Es gibt nur eine zulässige Meinung. Nicht einmal vorsichtige Varianten sind erlaubt. Überall üben sich die politisch Korrekten im Aufspüren der Häretiker und wetteifern, wer sich dabei in seiner Empörungsdarstellung am meisten ereifert.
Die Cancel-Culture ist ein Deutschland schon Alltag geworden. Beschämenderweise ist es sogar so, dass das auch noch von vielen Mitbürgern als gut und richtig mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Und wenig überraschend:
„Linke dagegen zweifeln, ob es die Verbotskultur wirklich gibt oder ob die, die sie beschwören, eher um den Verlust ihrer Meinungsführerschaft fürchten. So schreibt die Kolumnistin Margarete Stokowski bei ‘Spiegel Online’: ‘Der Begriff ‘Cancel Culture’ ist im Grunde nur eine Umbenennung von ‘man darf ja wohl gar nichts mehr sagen’, faktisch aber gefährlicher, weil ein gewaltbereiter, mächtiger Mob fantasiert wird.’“
Nur, um Missverständnissen vorzubeugen: Sie meint damit nicht ultralinke Prügel, Randalier- und Brandstiftungsbataillone. Sondern Sie und mich und die nette, alte Dame nebenan.
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