Keanu Reeves, Wikimedia Commons, Anna Hanks, CC BY 2.0

Cancel Culture: Wer ist Keanu Reeves? Wir alle sind bald Keanu Reeves

Das Wort „Cancel Culture“ taucht immer öfter in Debatten und Medien auf. Das Schlagwort bedeutet den sys­te­ma­ti­schen Aus­schluss und Boykott einer Person aus dem öffent­lichen Leben, weil diese Person eine für die herr­schende Poli­tical Cor­rectness „falsche“ Meinung, eine „falsche“ Grup­pen­zu­ge­hö­rigkeit oder ein „fal­sches“ Ver­halten gezeigt hat. Schon eine feh­lende Distan­zierung von „fal­schen Gruppen oder Per­sonen“ kann schon zu all­ge­meiner Ächtung führen. Das haben schon viele erfahren müssen, auch Pro­mi­nente. Nun hat es Keanu Reeves erwischt. Er wagte es, Peking zu verärgern.

Keanu Reeves sym­pa­thi­siert mit den Tibetern. Er hatte bei einer Ver­an­staltung zur Unter­stützung Tibets ein Gedicht vor­ge­lesen, das seine Sym­pa­thien für tibe­tische Wider­ständler gegen die chi­ne­sische Herr­schaft im Tibet aus­drückt und trat im März bei einem Bene­fiz­konzert der New Yorker Orga­ni­sation „Tibet House“ auf. Die kom­mu­nis­tische Führung Chinas war, nachdem sie 1949 in Peking die Macht über­nommen hatte, den Tibet einfach per Ein­marsch der Volks­armee in die Volks­re­publik China ein­ver­leibt. In Peking reagiert man sofort höchst ver­schnupft, wenn das the­ma­ti­siert wird.

Dennoch gibt es viele Pro­mi­nente, die mehr oder weniger offen die Tibeter in ihrem Wider­stand gegen die über­mächtige chi­ne­sische Regierung unter­stützen. Der Tibet ist zwar eine „autonome Region“, doch arbeitet Peking beharrlich daran, dessen Kultur, Sprache, Tra­dition, Religion und auch die Men­schen zu „sino­sieren“, d.h. es wandern ständig Han-Chi­nesen ein und über­fremden das kleine Land, den Tibetern wird das Leben ihrer Kultur überall erschwert. Der Dalai Lama, das reli­giöse Ober­haupt der Tibeter,  ist eine der Gali­ons­fi­guren des tibe­ti­schen Wider­standes, er steht auch hinter der Orga­ni­sation „Tibet House“ – und im Westen ins­be­sondere unter Pro­mi­nenten sehr beliebt.

Keanu Reeves, der in China unter dem Namen „Jinu Liweisi“ bekannt ist, gibt es jetzt plötzlich in China nicht mehr. Da chi­ne­sische Pendant von  „Google“, Iqiyi, liefert seitdem zu beiden Namens­ver­sionen keine Treffer. Nur einen Hinweis:

„Einige Ergeb­nisse werden wegen ent­spre­chender Gesetze, Vor­schriften und Politik nicht angezeigt“.

Es gibt einfach keine Filme und Infor­ma­tionen mehr mit Keanu Reeves in den chi­ne­si­schen Medien. Der Hol­lywood-Schau­spieler, der einen chi­ne­si­schen Urgroß­vater hat, wusste, worauf er sich ein­lässt. Auch Richard Gere hatte sich hinter die Unab­hän­gig­keits­be­stre­bungen des Tibet gestellt und war der öffent­lichen Ächtung anheim gefallen. Das kann den Schau­spielern nicht egal sein. Der chi­ne­sische Markt für Filme und Unter­haltung ist riesig. Richard Gere sagte einmal, dass er nach dem chi­ne­si­schen Boykott seiner Person keine großen Rollen mehr bekam, weil das den Film in China unver­käuflich gemacht hätte. Auch Lady Gaga bekam die Ver­stimmung Pekings für ihre Ver­bindung zum Dalai Lama zu spüren.

Die west­liche Presse ist empört. Nicht genug, dass Film­pro­duk­ti­ons­firmen die neuen Kino­filme immer mehr auf den chi­ne­si­schen Markt aus­richten, damit es da keine Schwie­rig­keiten gibt. Denn dort ent­scheiden poli­tische Stellen, was in die Kinos darf. Jetzt canceln sie auch noch Filme, bei denen ein Dar­steller nicht die richtige Meinung hat. Unglaublich. China ist eben mitt­ler­weile der größte Film­markt der Welt und hat Indien längst abgelöst.

Hier bei China und Keanu Reeves schreit die Presse „Zensur!“. Man spielt wieder die Nummer des Freien Westens und schreibt Sätze, wie In China lässt sich aktuell erleben, wie eine miss­liebige pro­mi­nente Person aus der öffent­lichen Wahr­nehmung getilgt wird. (…) Offi­ziell gibt es dazu natürlich keine Erläu­te­rungen. (…) Aktuell findet man noch einige Inhalte zu Reeves, wenn man in den Nach­richten der popu­lären Mes­senger-Plattform WeChat sucht, auf der es auch diverse öffent­liche Gruppen gibt. Aller­dings dürfte es auch hier nur eine Frage der Zeit sein, bis die ent­spre­chenden Fil­ter­systeme anschlagen und eben­falls alles zu seiner Person ausblenden.“

Die Wiener Zeitung bringt im Prinzip die vor­ge­fer­tigte apa/dpa- Meldung, hängt aber noch ein paar Infor­ma­tionen dazu an, welche in- und aus­län­di­schen­Jour­na­listen von Peking ver­fokgt werden.

Ein Bericht von win­future merkt kri­tisch an, dass Microsoft an seiner Such­ma­schine „Bing“ in China Ände­rungen vor­nehmen musste: Die Auto­ver­voll­stän­digung von Such­be­griff-Ein­gaben, ein beliebtes Feature der Such­ma­schine. Aber:

„Aus Sicht der chi­ne­si­schen Zen­soren besteht hier das Problem, dass Nutzer zuweilen auf uner­wünschte Zusam­men­hänge hin­ge­wiesen werden. Es steht daher zu ver­muten, dass Microsoft in der genannten Frist auch manuelle Ände­rungen an den Vor­schlägen vor­nehmen soll, so dass hier nur noch unver­fäng­liche Zusam­men­hänge von Such­be­griffen prä­sen­tiert werden. Bing ist derzeit die einzige Such­ma­schine eines west­lichen Anbieters, die in China noch ver­fügbar ist. Der Grund liegt in einer umfas­senden staat­lichen Zensur, die es für aus­län­dische Unter­nehmen schwierig macht, ent­spre­chende Dienste anzu­bieten. Denn im Grunde müssen kom­plett eigene Indizes ein­ge­setzt werden, die sich gra­vierend von den freien Ver­sionen unter­scheiden.“   

Inter­es­san­ter­weise scheint die Fähigkeit einer „Trans­fer­leistung“, zu der Schüler schon her­an­ge­bildet werden, den heu­tigen Medien und vielen Bürgern fremd zu sein. (Trans­fer­leistung in der Schule bedeutet das Über­tragen von erlerntem Wissen von einem Bei­spiel auf eine ver­än­derte Aufgabenstellung.)

Man kri­ti­siert die Zensur und die Cancel-Culture in China, aber sieht nicht, dass man sie hier, in unserem ach-so-freien Land selbst ausübt. Man kri­ti­siert das Boy­kot­tieren einer Person wegen „unstatt­hafter Meinung“ in China, dif­fa­miert aber selber aus­giebig und auf unfairste Weise Men­schen – auch hoch renom­mierte Per­sonen —  die dem öffentlich ver­ord­neten, poli­tisch kor­rekten Nar­rativ wider­sprechen. Ob es um die Impfung, den Ukraine-Krieg, das Gendern, das Klima, oder die immerhin demo­kra­tisch ins Par­lament gewählte AfD geht: Es gibt nur eine zulässige Meinung. Nicht einmal vor­sichtige Vari­anten sind erlaubt. Überall üben sich die poli­tisch Kor­rekten im Auf­spüren der Häre­tiker und wett­eifern, wer sich dabei in seiner Empö­rungs­dar­stellung am meisten ereifert.

Die Cancel-Culture ist ein Deutschland schon Alltag geworden. Beschä­men­der­weise ist es sogar so, dass das auch noch von vielen Mit­bürgern als gut und richtig mit Zähnen und Klauen ver­teidigt wird. Und wenig überraschend:

„Linke dagegen zweifeln, ob es die Ver­bots­kultur wirklich gibt oder ob die, die sie beschwören, eher um den Verlust ihrer Mei­nungs­füh­rer­schaft fürchten. So schreibt die Kolum­nistin Mar­garete Sto­kowski bei ‘Spiegel Online’: ‘Der Begriff ‘Cancel Culture’ ist im Grunde nur eine Umbe­nennung von ‘man darf ja wohl gar nichts mehr sagen’, fak­tisch aber gefähr­licher, weil ein gewalt­be­reiter, mäch­tiger Mob fan­ta­siert wird.’“

Nur, um Miss­ver­ständ­nissen vor­zu­beugen: Sie meint damit nicht ultra­linke Prügel, Ran­dalier- und Brand­stif­tungs­ba­taillone. Sondern Sie und mich und die nette, alte Dame nebenan.