Im Südrussland-Feldzug kam es zu »mysteriösen« Tularämie-Erkrankungen! Ein sowjetischer Experte für biologische Kriegsführung packte aus! Fakt oder Fake?
Vom 23. August 1942 bis zum 2. Februar 1943 entbrannte die Schlacht von Stalingrad, die mit der Vernichtung der 6. deutschen Armee unter General Friedrich Paulus (1890–1957) endete und damit herkömmlich als Wendepunkt des Deutsch-Sowjetischen Krieges angesehen wird.
Insgesamt kamen etwa 1.052.000 Soldaten ums Leben: 526.000 Sowjets und 226.000 Deutsche im Kessel der Stadt, weitere 300.000 Verbündete in der Umgebung. Zirka 91.000 Wehrmachtssoldaten gerieten in Gefangenschaft, von denen lediglich 6.000 zurückkehrten.
Soweit die offizielle Geschichte.
Doch schon früh tauchten nicht nur Gerüchte, sondern auch Berichte sowjetischer Verantwortlicher auf, dass die Rote Armee in dieser schicksalhaften Schlacht »Biowaffen-Erreger« gegen die deutsche Wehrmacht eingesetzt hätte.
Hintergrund: Seit 1926 forschten sowjetische Wissenschaftler im Weißen Meer an gezüchteten Krankheitserregern. Und seit 1941 am Tularämie-Erreger (»Hasenpest«).
So erkrankten 1942 deutsche Soldaten in der Sowjetunion an Tularämie. Allerdings behaupteten die Sowjets, es würde sich dabei um eine natürlich entstandene Krankheit handeln. Und das, obwohl Wochen darauf auch viele Russen an der gefürchteten Lungentularämie, die durch die Luft übertragen wird, starben.
Dementsprechend sprachen zumindest Indizien dafür, dass die Sowjets die »Hasenpest« als Biowaffe gegen die deutschen Soldaten eingesetzt hatten, jedoch später gänzlich auf einen weiteren Einsatz verzichteten, um nicht auch die eigene Bevölkerung auszurotten. Denn die feindlichen Truppen standen doch gewissermaßen mitten in Russland.
Soweit also das Wirrwarr aus Gerüchten, Vermutungen und Fakten.
Erhard Geißler, Professor für Genetik und ehemaliger Leiter der Forschungsgruppe Bioethik am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin-Buch, verfasste 2005 dazu eine umfangreiche Arbeit mit dem Titel: Alibek, Tularaemia and the Battle of Stalingrad.[i]
Dieses »Backround Document« möchte ich nachfolgend bezüglich der Gerüchte, die Sowjets hätten in der Stalingrad-Schlacht Biowaffen gegen Soldaten der Wehrmacht eingesetzt, zusammenfassen.
Aufgestellt wurde diese Behauptung vom 1950 geborenen, kasachischstämmigen Obersten Ken Alibek alias Kantjan (Kanatzhan) Alibekov.[ii]
Zunächst bleibt festzustellen: Alibekov ist beileibe kein »Verschwörungstheoretiker«, sondern Experte für biologische Kriegsführung und ehemaliger Direktor der sowjetischen Biowaffen-Abteilung »Biopreparat«.
Wie bereits erwähnt, behauptete er nach seiner Flucht in den Westen, dass die Rote Armee Francisella tularensis, also Tularämie (Hasenpest), gegen die deutschen Truppen eingesetzt hätte.
Alibekov schuf einst einen neuen Anthrax-Stamm (»Stamm 836«), der als der »virulenteste und bösartigste Anthrax-Stamm« beschrieben wurde, »den der Mensch kennt.«[iii] Außerdem entwickelte er Russlands erste Tularämie-Bombe.[iv]
1992 übersiedelte der Biowaffen-Experte in die USA, wurde amerikanischer Staatsbürger und beteiligte sich aktiv an der Entwicklung einer Strategie zur biologischen Verteidigung für die US-Regierung.
Alibekov arbeitete dann als Senior Vice President für Forschung und Entwicklung bei Locus Fermentation Solutions in Ohio, USA.[v]
Der Erreger der Tularämie gehört zu den krankheitserregendsten Bakterien, die bekannt sind. Experten des US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) Zentren für Krankheitskontrolle und ‑prävention‘) ordnen ihn in die Kategorie der biologischen Agenzien ein, die das »größte Potenzial für negative Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit mit Massenverlusten haben.«[vi]
In der Vergangenheit wurde Tularämie von verschiedenen Großmächten ausgiebig erforscht, produziert und als Biowaffe eingelagert, wie etwa von den USA, der Sowjetunion und Japan.
Selbst Frankreich zog deren Einsatz noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Erwägung.[vii]
Doch zurück zur Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkriegs in Stalingrad:
Bei einer Anhörung im Jahr 1998 verriet Alibekov: »Meine eigene Analyse eines Tularämie-Ausbruchs unter deutschen Truppen in Südrussland im Jahr 1942 deutet darauf hin, dass dieser Vorfall sehr wahrscheinlich das Ergebnis des Einsatzes von biologischen Waffen durch die UdSSR war.«[viii]
Diese Behauptung wiederholte der Biowaffen-Experte auch noch danach, nämlich in seinem viel beachteten Buch Biohazard sowie in der russischen Zeitung Prawda.[ix]
Aufgrund seines immensen Fachwissens kam Alibekov ganz gezielt zu einer solchen weitreichenden Schlussfolgerung. In seiner Kadettenzeit im Jahr 1973 wurde er von einem seiner Professoren gebeten, einen »mysteriösen Ausbruch von Tularämie« an der deutsch-sowjetischen Front kurz vor der Schlacht von Stalingrad im Jahr 1942 zu überprüfen.
In der Folge wertete er die History of Soviet Military Medicine in the Great Patriotic War 1941–1945 sowie wissenschaftliche Zeitschriften aus dieser Zeit aus. So kam er zu diesen äußerst brisanten Erkenntnissen.[x]
Erhard Geißler, Genetiker, Molekularbiologe und Bioethiker und andere Experten äußerten einige Vorbehalte zu den Ergebnissen von Alibekov, weil diese weder auf persönlichen Erfahrungen, noch durch Dokumente der Roten Armee selbst schlüssig belegt sein würden.[xi]
Andere wiederum erklärten, der Tularämie-Ausbruch wäre keiner absichtlichen Verbreitung geschuldet, sondern »natürlichen« Ursprungs; verursacht durch einen völligen Zusammenbruch der öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur.[xii]
Alibekov hingegen verbreitete weiter, dass die Tularämie-Epidemie, die Zehntausende von sowjetischen und deutschen Soldaten an der Ostfront während des Zweiten Weltkriegs befallen hätte, das Ergebnis einer »absichtlichen Anwendung« gewesen sein könnte.[xiii] Ebenso blieb er dabei, dass sich ein mysteriöser Tularämie-Ausbruch kurz vor der Schlacht um Stalingrad im Jahre 1942 ereignet hätte.[xiv]
Geißler schrieb dazu, dass der Ausbruch jedoch keineswegs »mysteriös« gewesen sei, gab es doch bereits seit 1926 zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer mehrere große Tularämie-Epidemien.[xv] Dies war offenbar auch der Grund dafür, dass die Sowjets die Hauptüberträger der Hasenpest, nämlich Mäuse und andere Nagetiere, auszurotten versuchten.[xvi]
Demgegenüber erklärte Alibekov, dass ein großer Tularämie-Ausbruch im Gebiet der Wolga zuerst unter deutschen Panzertruppen im Spätsommer 1942 auftrat. Innerhalb von sieben Tagen erkrankten Tausende Soldaten – deutsche, wie auch russische – sowie Zivilisten.[xvii]
Dass es einen solchen gegeben haben muss, scheint unzweifelhaft, denn selbst die sowjetische Prawda berichtete darüber.
So schrieb die russische Tageszeitung gar von einem »Einsatz von infizierten Ratten gegen die Nazi-Armee«, die jedoch auch einen umgekehrten Effekt hatte: Die Krankheit drang über die Frontlinie und steckte viele eigene (sowjetische) Soldaten und Zivilisten an. Dementsprechend betraf die Epidemie also nicht nur den Feind.[xviii]
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Zusätzliche Quellen:
BACKGROUND DOCUMENT (Geissler), 23rd Workshop of the Pugwash Study Group on the Implementation of the Chemical and Biological Weapons Conventions: Achieving a Successful Outcome of the Sixth Review Conference Geneva, Switzerland, 3–4 December 2005: “Alibek, Tularaemia and the Battle of Stalingrad” (The CBW Conventions Bulletin, No. 69+70 (2005), 10–15 (https://www.prof-dr-erhard-geissler.de/geschichte-der-biowaffen/alte-und-neue-desinformationen/tular%C3%A4mie-und-die-stalingrader-schlacht/9/Zugriff: 26.03.21///Richard Overy: Russlands Krieg, 2004, S. 286///Torsten Diedrich: Stalingrad 1942/43, Stuttgart 2018, S. 149/// Dr. phil. Utz Anhalt: „Biologische Kriegsführung“ in: heilpraxisnet.de v. 27.07. 2019 (https://www.heilpraxisnet.de/themen/biologische-kriegsfuehrung/)/Zugriff: 27.03.21///”Todesopfer der Schlacht um Stalingrad nach Kriegspartei vom 23. August 1942 bis zum 02. Februar 1943” in: statista.com (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1093370/umfrage/todesopfer-der-schlacht-um-stalingrad-nach-kriegspartei/)/Zugriff: 26.03.21///”Tularämie: Hasenpest gefährdet auch Menschen“ in: pharmazeutische-zeitung.de v. 24.06. 2002 (https://www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-26–2002/medizin3-26–2002/)/Zugriff: 26.03.21
[i] BACKGROUND DOCUMENT (Geissler), 23rd Workshop of the Pugwash Study Group on the Implementation of the Chemical and Biological Weapons Conventions: Achieving a Successful Outcome of the Sixth Review Conference Geneva, Switzerland, 3–4 December 2005: “Alibek, Tularaemia and the Battle of Stalingrad” (The CBW Conventions Bulletin, No. 69+70 (2005), 10–15 (https://www.prof-dr-erhard-geissler.de/geschichte-der-biowaffen/alte-und-neue-desinformationen/tular%C3%A4mie-und-die-stalingrader-schlacht/9/Zugriff: 26.03.21
[ii] In der Folge werde ich seinen russisch-kasachischen Namen verwenden.
[iii] »Selling the threat of bioterrorism« in: Los Angeles Times v. 01.07. 2007 (https://www.latimes.com/archives/la-xpm-2007-jul-01-na-alibek1-story.html)/Zugriff: 26.03.21
[iv] Vgl. Annie Jacobsen: Das Gehirn des Pentagons: Eine unzensierte Geschichte von DARPA, Amerikas streng geheimer militärischer Forschungsagentur, New York 2015, S. 293
[v] »Выпускники Назарбаев Университета работают в команде ученых в США и помогают лечиться детям-аутистам« in: newtimes.kz v. 12.03. 2019 (https://newtimes.kz/eksklyuziv/87248-vypuskniki-nazarbaev-universiteta-rabotayut-v-komande-uchenykh-v-ssha-i-pomogayut-lechitsya-detyam-autistam)/Zugriff: 26.03.21
[vi] Rotz, L.D., A.S. Khan, S.R. Lillibridge et al. 2002, “Public health assessment of potential terrorism agents”, Emerging Infectious Diseases 8, No. 2, 225–230.)
[vii] Kliewe,H. 1941, “Vortragsnotiz für den Herrn Chef des Stabes“. Geheim. National Archives College Park, Record Group 319, Box 1, Folder BW 2, 15–18.
[viii] Alibek, K. 1998, “Terrorist and intelligence operations: potential impact on the U.S. economy”. Statement before the Joint Economic Committee, U.S. Congress, 20 May. www/house.gov/jec/ hearings/intell/alibek.htm
[ix] »Soviet army used ‘rat weapon’ during WWII« [In Russian]. Pravda 2005, 5 February. http://english.pravda.ru/printed.html?news_id=14923. Quoted in The CBW Conventions Bulletin No. 68 (June 2005), 21
[x] Alibek, K. with S. Handelman 1999, Biohazard. Random House, New York, 29–30.
[xi] Oyston, P.C.F., A. Sjostedt and R.W. Titball 2004, “Tularaemia: bioterrorism defence renews interest in Francisella tularensis”, Nature Reviews/Microbiology 2, December, 967–978. http://www.nature.com
[xii] Croddy, E. and S. Krčalova 2001, “Tularemia, biological warfare, and the battle for Stalingrad”, Military Med. 166, No. 10, 837–838
[xiii] Dennis, T., T.V. Inglesby, D.A. Henderson et al. 2001, “Tularemia as a biological weapons. Medical and public health management”, J.Amer.Med.Assoc. 285, No. 21, 2763–2773
Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de
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