Nummer 666 ist jetzt an der Reihe: Selbstmord als Verwaltungsakt

Selbstmord ist wohl so alt wie die Menschheit, wenn­gleich es immer eine statt­liche Anzahl von Men­schen gegeben haben muss, die keinen Selbstmord verüben, aus nahe­lie­genden Gründen. Gründe, die Gründe für Selbstmord sind viel­schichtig und haben bereits Emile Durkheim im 19. Jahr­hundert dazu ver­an­lasst ein umfang­reiches Werk mit dem Titel “Le Suicide” zu schreiben, in dem er vier Arten von Selbstmord unterscheidet:

  • Ego­is­ti­scher Selbstmord, getrieben von einem Gefühl des “nicht-Dazu­ge­hörens”, Durkheim spricht hier von Indi­vi­duation, einer Form sozialer Ent­fremdung, die zu Ver­ein­samung und Depression führen kann. Der ego­is­tische Selbstmord ist also nicht in dem Sinne, ego­is­tisch, wie der Begriff es in seinem heu­tigen Ver­ständnis nahelegt.
  • Dem ego­is­ti­schen Selbstmord mit seiner gesell­schaft­lichen Ent­fremdung steht der altru­is­tische Selbstmord gegenüber, ein Form Opfertod für das Kol­lektiv, der aus zu starker gesell­schaft­licher Inte­gration und als Folge davon einem Verlust der Indi­vi­dua­lität getrieben wird.
  • Der ano­mische Selbstmord ist ein Pro­totyp des Aus­ein­an­der­klaffens zwi­schen dem vor­han­denen indiv­du­ellen Zugang zu gesell­schaft­lichen Mitteln, um gesell­schaftlich aner­kannte Ziele zu erreichen und den not­wen­digen Mitteln, um diese Ziele zu erreichen. In Zeiten des gesell­schaft­lichen Wandels bleiben manche auf der Strecke, ver­lieren den Zugang zu not­wen­digen Mittel und werden ano­misch, eine Form der sozialen Zie­lo­sigkeit, die bei Durkheim indes keine per­sonale Ziel­lo­sigkeit ist, denn sie kann, quasi als Abschluss einer mas­siven Ent­fremdung von der umge­benden Welt im Selbstmord enden.
  • Der fata­lis­tische Selbstmord ereignet sich in Gesell­schaften, die Men­schen keine Mög­lichkeit zur Ent­faltung ihrer Mög­lich­keiten lassen, keine Chance, ihre Lebens­wünsche zu ver­wirk­lichen, Gesell­schaften, die Indi­viduen regu­lative Fesseln anlegen, die für die­je­nigen, die sich noch bewegen wollen, fatal sind.

Der Selbstmord, den eine Reihe von Abge­ord­neten im Deut­schen Bun­destag, dar­unter Minister Karl und Feind­bild­sucher Marie-Agnes Strack-Zim­mermann nun gesetzlich regeln wollen, umfasst diese Formen von Selbstmord, diese unter­schied­lichen Motive von Selbstmord, denn seit Durkheim diese Typo­logie auf­ge­stellt hat, sein ent­spre­chendes Buch ist 1897 erschienen, ist nichts Neues dazu­ge­kommen. Die Liste der Selbst­morde reicht immer noch von ego­is­tisch bis altru­is­tisch von ano­misch bei fatalistisch.

Wir sind uns sicher, dass die Abge­ord­neten, die das Recht auf Selbst­tötung nachdem das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, das Selbst­tö­tungs­verbot von §217 auf­ge­hoben hat, nun positiv regeln wollen, keine Sekunde darüber nach­ge­dacht haben, welche Motive eigentlich einem Selbstmord zugrunde liegen können. Für sie ist, das wird klar, wenn man den Gesetz­entwurf liest, nur vor­stellbar, dass Selbst­tötung für Men­schen in Frage kommt, die krank sind, sehr krank, die deshalb nicht mehr leben wollen. Dass man auch an seiner Gesell­schaft aus ganz anderen Gründen leiden kann, das ist den Abge­ord­neten offen­kundig nicht bekannt:

“Der vor­lie­gende Gesetz­entwurf soll das Recht auf einen selbst­be­stimmten Tod legis­lativ absi­chern und klar­stellen, dass die Hilfe zur Selbst­tötung straffrei möglich ist. Durch diesen Gesetz­entwurf soll der vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt dar­ge­botene Nor­mie­rungs­spielraum (BVerfG, Urteil vom 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 –, Rn. 1 bis 338) genutzt werden, um Men­schen, die ernstlich sterben möchten und diesen Wunsch frei und eigen­ver­ant­wortlich im Voll­besitz ihrer geis­tigen Kräfte gebildet haben, ebenso wie Per­sonen, die zur Hilfe bereit sind einen klaren Rechts­rahmen zu bieten. Der Entwurf for­mu­liert deshalb Vor­aus­set­zungen, damit sich Men­schen zukünftig einer Begleitung bis zum  Lebensende sicher sein können und auch Zugang zu Medi­ka­menten zur Selbst­tötung erhalten.”

Und so kommt es, dass die Abge­ord­neten um die beiden Spit­zen­leister Lau­terbach und Strack-Zim­mermann, Selbst­tötung zu einem unbe­dingten Recht erklären, das jedem zusteht, der aus “autonom gebil­detem, freiem Willen sein Leben beenden möchte”.

§ 1 Recht auf Hilfe zur Selbsttötung
Jeder, der aus autonom gebil­detem, freiem Willen sein Leben beenden möchte, hat das Recht, hierbei Hilfe in
Anspruch zu nehmen.

Kommt das eigentlich noch jemandem seltsam vor, wenn eine ur-indi­vi­dua­lis­tische Ent­scheidung wie die, sich das eigene Leben zu nehmen, zu etwas wird, was wohl­wol­lende Abge­ordnete zu einem Recht for­mu­lieren und den Bürgern, von denen sie natürlich Dank­barkeit erwarten, zuge­stehen? Kommt es noch jemandem seltsam vor, wenn Selbst­tötung nur mit Hilfe möglich ist. Hier ist offen­kundig erwei­terte Begriffs­magie am Werk, die dem, was getan werden soll, nicht gerecht wird. Hilfe zum Selbstmord kann man mit einem Erschie­ßungs­kom­mando leisten, mit Strychnin in ent­spre­chender Dosis, man kann das Seil halten, an dem sich einer Auf­knüpfen will, aber das ist mar­tia­lisch und wird dem zer­brech­lichen Gemüt derer, die anderen die Hilfe zur Selbst­tötung ermög­lichen wollen, nicht gerecht, natürlich mit Potions, die man ein­nimmt, um friedlich ein­zu­schlummern, die man selbst trinkt, damit es auch Selbst­tötung wird, die ein anderer ange­rührt hat, der dann die Hilfe zur Selbst­tötung geleistet hat. Einmal mehr klafft die unbe­dingte For­mu­lierung in §1 und die Ziel­gruppe, die die Abge­ord­neten wohl im Auge haben, aus­ein­ander. So, wie er da steht, gewährt § 1 das Recht auf Hilfe zur Selbst­tötung auch einem 18jährigen, der lebensmüde ist, aus den unter “fata­lis­ti­scher Selbstmord” genannten Gründen.

Ob das gewollt ist?
Wir ten­dieren zu der Ansicht, dass hier eine Meute von Abge­ord­neten wieder einmal ein Thema auf­ge­griffen hat, dass sie nicht über­schauen können. Das wird besonders deutlich an den Aus­füh­rungen zum “autonom gebil­deten freien Willen” in § 3:

(1) Ein autonom gebil­deter, freier Wille setzt die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbe­ein­flusst von einer akuten psy­chi­schen Störung bilden und nach dieser Ein­sicht handeln zu können. Es ist davon aus­zu­gehen, dass eine Person regel­mäßig erst mit Voll­endung des 18. Lebens­jahres die Bedeutung und Trag­weite einer Sui­zi­dent­scheidung voll­um­fänglich zu erfassen vermag.

Ein 17 Jahre und 364 Tage alter Mensch ist nicht in der Lage, die Bedeutung und Trag­weite einer Sui­zi­dent­scheidung voll­um­fänglich zu erfassen. Ein 17 Jahre und 366 Tage alter Mensch wohl. Wenn Büro­kra­ten­geister einen Akt wie einen Selbstmord regeln wollen, dann kommt dabei ein Ver­wal­tungswerk heraus, das man nur als Tra­vestie auf den Rege­lungs­ge­gen­stand ansehen kann. Wenn ein Selbstö­tungs­be­rech­tigter durch die “Fähigkeit, seinen Willen frei und unbe­ein­flusst … bilden und nach dieser Ein­sicht handeln zu können” aus­ge­zeichnet ist, wozu benötigt er dann HILFE zur Selbsttötung?

Aber es wird noch besser, in Absatz 2:

“(2) Dem Sui­zid­wil­ligen müssen alle ent­schei­dungs­er­heb­lichen Gesichts­punkte bekannt sein. Erfor­derlich ist, dass er über sämt­liche Infor­ma­tionen verfügt, die ihn befä­higen, auf einer hin­rei­chenden Beur­tei­lungs­grundlage rea­li­täts­ge­recht das Für und Wider abzu­wägen. Dies setzt ins­be­sondere voraus, dass der Sui­zid­willige Hand­lungs­al­ter­na­tiven zum Suizid kennt, ihre jewei­ligen Folgen bewerten kann und seine Ent­scheidung in Kenntnis aller erheb­lichen Umstände und Optionen trifft.”

Wir fürchten, das ist ernst gemeint. Damit ein Selbstö­tungs­be­rech­tigter auch Anspruch auf Hilfe zur Selbst­tötung anmelden kann, muss er eine Kal­ku­lation vor­legen, die zeigt, dass er sämt­liche Hand­lungs­al­ter­na­tiven “Selbst­tötung” und “am Leben ver­bleiben” mit sich erörtert hat, dass er die Nutzen und die Kosten, die sich mit beiden Hand­lungs­al­ter­na­tiven ver­binden, berechnet hat, und zwar unter Gewichtung der jewei­ligen Nutzen und Kosten mit ihrer jewei­ligen Ein­tritts­wahr­schein­lichkeit und dann, wenn er alles schön in seiner “Lebens­be­en­dungs­bilanz” zusam­men­ge­stellt hat, dann muss er den Saldo bilden und zu dem Schluss kommen, dass Hand­lungs­al­ter­native “Selbst­tötung” mehr Nutzen mit sich bringt als Kosten. Man kann der­ar­tigen Blödsinn nur erfinden, wenn man im Bun­destag eine ent­spre­chende “wir helfen Men­schen” Ver­dummung durch­ge­macht hat. Wenn ein Selbst­tö­tungs­wil­liger und ‑berech­tigter vor dem Aus­füllen von Form­blatt 20 noch mit einem Fuss im Zweifel des Lebens stand, dann hat er nach dem Ende dessen, was die Abge­ord­neten, die diesen wirklich irren Gesetz­entwurf zu ver­ant­worten haben, für ihn vor­ge­sehen haben, mit Sicherheit so viele Gründe gefunden, einen fata­lis­ti­schen Selbstmord zu bean­tragen, dass letz­terer im Schnell­ver­fahren umge­setzt wird …

Aber die Wort­magie, mit der Abge­ordnete den Geist der Ver­ant­wortung los­werden wollen, der sie unwei­gerlich treffen würde, wenn bekannt würde, dass sie die­je­nigen sind, die Selbst­tö­tungs­be­rech­tigten zur Hand gehen lassen wollen, ist damit noch nicht am Ende. Es wird noch besser:

“(3) Von einem autonom gebil­deten, freien Willen ist nur aus­zu­gehen, wenn der Ent­schluss zur Selbst­tötung ohne unzu­lässige Ein­fluss­nahmen oder Druck gebildet worden ist.”

Wir fragen jetzt nicht, was eine unzu­lässige Ein­fluss­nahme wäre und ver­weisen nicht darauf, dass im Gesetz­entwurf die Ein­fluss­nahme durch Selbst­tö­tungs­be­rater, also Selbst­mord­bei­helfer, vor­ge­sehen ist:

“(1) Jeder, der seinen Wohnsitz oder seinen gewöhn­lichen Auf­enthalt in Deutschland hat, hat das Recht, sich zu Fragen der Sui­zid­hilfe beraten zu lassen. Die Beratung ist ergeb­nis­offen zu führen und darf nicht bevormunden.”

Aber natürlich ist alles, was im Rahmen einer staatlich vor­ge­ge­benen Beratung erfolgt, per defi­ni­tionem frei von “unzu­läs­siger Ein­fluss­nahme”, handelt es sich doch um eben­falls qua defi­ni­tionem “zulässige Einflussnahme”.

Und wer nun denkt, der Wahnsinn der hier Gesetz­entwurf geworden ist, der sei nicht mehr zu steigern, der hat sich geirrt:

“(4) Von einem autonom gebil­deten, freien Willen kann nur dann aus­ge­gangen werden, wenn der Ent­schluss von einer gewissen Dau­er­haf­tigkeit und inneren Fes­tigkeit getragen ist. “

Eine Selbst­tö­tungs-Pro­bezeit: wer es schafft, seine Selbst­tö­tungs­ab­sicht für zwei Jahre auf­recht zu halten und nicht vor­zeitig – z.B. per Selbstmord – aus der Pro­bezeit aus­scheidet, dem wird Hilfe zur Selbst­tötung gewährt. Sind sie nicht drollig, diese Abgeordneten?

So etwas kann nur Polit-Dar­stellern ein­fallen, Leuten, deren Neu­ronen im Gehirn Amok rennen und gemeinhin an den Syn­apsen andocken, die am meisten dafür bekannt sind, an der Aus­schüttung von Adre­nalin und Sero­tonin beteiligt zu sein. Das Leben der anderen ist eben eine große Tombola, jeder darf mal losen. Falls Sie sich selbst um die Ecke bringen wollen, holen Sie sich Hilfe bei den bekannten Haus­mitteln, viele davon wachsen unbe­auf­sichtigt und den Geset­zes­aus­werfern im Bun­destag voll­kommen unbe­kannt, in hei­mi­schen Gärten und auf eben­solchen Wiesen.


Quelle: sciencefiles.org