„Wild­west­ka­pi­ta­lismus“ ist schuld an Sozialismus

Der Spiegel schafft es tat­sächlich, die Zustände in Maduros vene­zo­la­ni­schem Arbeiter- und Bau­ern­pa­radies als Aus­wüchse des ölpreis­ge­steu­erten Kapi­ta­lismus zu framen.

Man könnte es für ein typi­sches Rühr­stück von der Relo­ti­us­spitze halten, was der Spiegel über die Zustände in Maduros Arbeiter- und Bau­ern­pa­radies zu berichten weiß, wenn die geschil­derten Umstände nicht so ent­setzlich wären. Prot­agonist der Geschichte ist Carlos de Armas, ein Pro­fessor, der in Caracas einen Lehr­stuhl für Soziale Kom­mu­ni­kation innehat und von den Zuständen auf seinem rui­nierten Campus und über sein eigenes, von Zerfall, Ver­armung und Hunger zer­störtes Leben berichtet. Das Elend, welches er beschreibt, ist echt. Die Inter­pre­tation, die der Spiegel-Autor Marian Blasberg in seinem Artikel vor­nimmt, ist es nicht.

„Der Wild­west­ka­pi­ta­lismus in Vene­zuela lässt immer mehr Men­schen ver­armen. Staats­be­diens­teten, die nicht in Dollar bezahlt werden, fehlt oft das Geld für Lebens­mittel. Will die Maduro-Regierung kri­tische Stimmen aushungern?“

Man reibt sich ver­wundert die Augen und schaut in die aktu­ellen Schlag­zeilen aus dem süd­ame­ri­ka­ni­schen Land, welches vor gar nicht so langer Zeit das wohl­ha­bendste des ganzen Kon­ti­nents war. Ist die Boli­va­rische Revo­lution vorbei? Baumeln Maduro und seine Klep­to­kratie an Palmen und Laternen? Sind die Rechts­staat­lichkeit und Bür­ger­rechte wie­der­her­ge­stellt? Nichts von alledem! Wie kommt Marian Blasberg also dazu, in Vene­zuela den Kapi­ta­lismus auszurufen?

„Heute, mit 64, ist de Armas einer von Tau­senden vene­zo­la­ni­schen Intel­lek­tu­ellen, die ins Bodenlose stürzen.“

Sehen wir hier wirklich das unheil­volle Wirken des Kapi­ta­lismus? Sind nicht Kultur, Bildung und ein funk­tio­nie­rendes Staats­wesen vielmehr der Down­stream einer funk­tio­nie­renden und potenten Wirt­schaft? Nach der Welle von Ver­staat­li­chungen unter Maduros Vor­gänger und Vorbild Cháves fühlte sich Vene­zuela für kurze Zeit wie jenes Schla­raf­fenland an, von dem deutsche Jour­na­listen so gern träumen: Cuba Libre, Palmen, Zigarren, Rumba, Salsa, Cha-Cha-Cha und Con­chita – Ven­ce­remos! ¡El socia­lismo ganará! Vene­zuela war wie Kuba, nur mit jeder Menge Öl, um die Utopie zu bezahlen. Eine Weile jedenfalls…

Ohne Eigen­tums­rechte keine Investitionen

Groß­zügige Sozi­al­pro­gramme und ein wahrer Geld­regen ergossen sich über das Land. Die ent­eignete und ver­staat­lichte Ölin­dustrie arbeitete nur noch auf Ver­schleiß, denn Geld für die Moder­ni­sierung der Anlagen und für neue Boh­rungen gab es nicht. Niemand inves­tiert in die Infra­struktur eines Landes – am wenigsten die Revo­lu­tionäre, deren Beute es wurde –, in dem man kei­nerlei Eigen­tums­rechte und keine Ver­trags­si­cherheit hat. Die US-Sank­tionen auf­grund des staatlich ins Werk gesetzten Ent­eig­nungs­dieb­stahls taten ihr Übriges, denn die Raf­fi­nerien für das sehr spe­zielle Öl Vene­zuelas stehen in Texas.

Als erste ver­ließen die wohl­ha­benden Vene­zo­laner mit Aus­lands­ver­mögen das Land. Dann ver­schwanden die jungen und gut aus­ge­bil­deten Fach­kräfte, später alle, die stark oder ver­zweifelt genug waren, sich auf den Weg zu machen. Während die Wirt­schaft rasch zusam­men­brach, hielt sich der staat­liche Sektor, also auch das Bil­dungs­system, in dem Pro­fessor de Armas beschäftigt ist, noch etwas länger über Wasser. Zweimal im Jahr, so wird de Armas im Spiegel-Artikel zitiert, wurde sein Gehalt erhöht und schmolz doch wie Schnee in der Sonne. Da fand die Sonne in der ehemals freien Wirt­schaft des Landes schon längst keinen Schnee mehr.

„Im ganzen Land werden Pro­fes­soren, Dozenten und Intel­lek­tuelle zu Almo­sen­emp­fängern, weil die Hun­ger­löhne und Hun­ger­pen­sionen, die ihnen der Staat zuwirft, nicht aus­reichen zum Überleben.“

Die Abhän­gigkeit von staat­lichen Zuwen­dungen mag in guten Zeiten die Garantie für einen vollen Teller sein. Bricht das System aber zusammen, sind die staatlich Besol­deten die Letzten, die noch an Bord sind. Der Staat verließ sich auf ihre Loya­lität, während sie auf die Für­sorge des Staates ver­trauten. Zwei Ver­sprechen klammern sich hier wie Ertrin­kende anein­ander. Armer Staat Vene­zuela, armer Carlos de Armas.

„Zwei Jahr­zehnte lang hatten Hugo Chávez und, seit 2013, Nicolás Maduro das Land unter dem Banner einer sozia­lis­ti­schen Revo­lution immer näher an den Abgrund geführt. Allein in den letzten acht Jahren hat Vene­zuela 80 Prozent seiner Wirt­schafts­kraft verloren.“

Kor­rup­ti­ons­ver­seuchter Chavismus-Madurismus

Glimmt hier nicht ganz kurz der Gedanke auf, dass es womöglich nicht der Kapi­ta­lismus ist, der Vene­zuela zur Hölle machte? Kommt der Autor doch noch zur Vernunft?

„Zu zahl­losen ent­eig­neten Betrieben, zu Miss­wirt­schaft und Kor­ruption kamen der ein­bre­chende Ölpreis, die all­ge­meine Knappheit, die Schlangen vor den Super­märkten, in denen die Regale leer standen, weil die Regierung kaum noch Lebens­mittel importierte.“

Aber dann nimmt er doch noch die Aus­fahrt, die ihn weg vom kor­rup­ti­ons­ver­seuchten Cha­vismus-Madu­rismus zum ein­bre­chenden Ölpreis bringt. Der Ölpreis, also ein Markt­signal, das in den Medien wie kein zweites für die sinistren Mächte des Kapi­ta­lismus steht, ist das Lieb­lings­ar­gument jedes sozia­lis­ti­schen Wirt­schafts­miss­ver­stehers. Der Ein­bruch des Preises Ende 2008 war nur von kurzer Dauer und alle Ölför­der­länder waren glei­cher­maßen betroffen. Warum hat nur Vene­zuela sich nie von dem Ein­bruch erholt?

In der Blü­tezeit des Landes, den 1990er Jahren, war die Ölför­derung pro­fi­tabel. Und das bei einem Ölpreis zwi­schen 12 und 20 Dollar. Seit 2005 ist der Preis nie mehr unter 40 Dollar gefallen und ging mehrmals durch die 100-Dollar-Decke. Was jedoch gleich­zeitig massiv zurückging, war die För­der­menge in Vene­zuela! Die maroden Anlagen sind einfach am Ende. Das lange Zeit wie selbst­ver­ständlich vor­handene Öl ermög­lichte zudem den öko­no­mi­schen Leichtsinn.

Eine Diver­si­fi­zierung der Wirt­schaft oder der Ausbau eigener Kapa­zi­täten, das geför­derte Öl im Land zu ver­ar­beiten, fand nie statt. Ansätze dazu ver­glommen unter den Ver­staat­li­chungs­maß­nahmen der sozia­lis­ti­schen Regie­rungen von Cháves und Maduro. Man hätte ein ver­trau­ens­volles Klima für Inves­toren und Ver­trags­si­cherheit schaffen müssen – auch außerhalb der Ölin­dustrie – und staat­liche Ein­griffe zurück­fahren sollen. Statt­dessen wurde der Import ange­kurbelt und mit den immer dünner flie­ßenden Öldollars finanziert.

Sekun­där­wirt­schaft à la Don Corleone

„Irgendwann in dieser Zeit muss bei Maduro ein Umdenken begonnen haben. Auch wenn er immer noch vom Sozia­lismus sprach, suchte er die Rettung im Markt. Ohne Erklärung lockerte er Preis­kon­trollen, hob die Import­steuern auf und ließ geschehen, dass der Dollar den Bolívar nach und nach ver­drängte. Die Folgen sieht man in Caracas an jeder Ecke: Überall gibt es jetzt Läden, die inter­na­tionale Marken anbieten. In Vierteln wie Las Mer­cedes werden Bou­tiquen, Restau­rants, Ferrari-Shops eröffnet.“

Diese Schluss­fol­gerung Blas­bergs wäre selbst im Poli­tik­un­ter­richt einer Real­schule kaum mehr als eine „5“ wert. Nicht überall, wo die begehrten Waren und Marken des Westens auf­tauchen, wirken die Mecha­nismen des Marktes. Blasberg hätte wohl auch ange­sichts ver­ein­zelter Autos der Marke VW Golf, Mazda 323 oder Citroen oder der Aus­lagen der „Intershop“-Filialen in der DDR auf ein Umdenken Hon­eckers geschlossen. Nichts liegt oder lag den Tat­sachen ferner!

In beiden Ländern, der DDR wie in Vene­zuela, diente das Auf­tauchen begehrter Artikel dem Abschöpfen von Devisen bzw. dem Bei-Laune-Halten sys­tem­treuer Par­tei­kader. Bewegte sich der gegönnte west­liche Luxus der SED-Pro­minenz ange­sichts der geringen öko­no­mi­schen Mög­lich­keiten der DDR noch auf ver­gleichs­weise beschei­denem, ja, spieß­bür­ger­lichen Niveau – was hatte man auch zu ver­kaufen außer die eigenen Bürger –, darf es für das wenige noch flie­ßende Öl Vene­zuelas durchaus auch mal ein Ferrari sein. Die Gelder, welche geflohene Vene­zo­laner an ihre zu Hause im Elend sit­zenden Familien in der Heimat schicken, müssen ja auch noch abge­schöpft werden. Maduro hat ein­ge­sehen, dass nur, wenn der Dollar geduldete Zweit­währung im Land ist, die Bürger ihre Devisen auch her­vor­holen und damit ein­kaufen. Nur so pro­fi­tieren er und seine Clique von den wieder ins Land flie­ßenden Geldern. Aller­dings müssen erst Partei, Polizei und Militär bezahlt und bei Laune gehalten werden, bevor ein Pro­fessor und noch dazu ein Sozi­al­wis­sen­schaftler wie de Armas von dieser per­versen Sekun­där­wirt­schaft à la Don Cor­leone pro­fi­tieren kann.

Opfer eines Gesellschaftsexperimentes

Nir­gends gibt das sozia­lis­tische Schlachtross Maduro indes die Kon­trolle aus der Hand, nir­gends ist auch nur ansatz­weise so etwas wie „Markt“ oder „Kapi­ta­lismus“ am Werke. Außer natürlich in den Hirnen mancher Poli­tiker und Spiegel-Autoren, in denen alles, was nicht funk­tio­niert und zu unge­rechten Zuständen führt, auto­ma­tisch irgendeine ver­achtete Form von Kapi­ta­lismus zu sein hat. „Grüne“ Energie ver­teuert (dank Unzu­ver­läs­sigkeit, Par­al­lel­sys­temen und Sub­ven­tionen) die Strom­preise? Markt­ver­sagen! Mangel an bezahl­barem Wohnraum in Berlin? Gierige Miethaie und Immo­bi­li­en­kon­zerne machen Kasse, kurz, Markt­ver­sagen! Ad nauseam kann man solche dümm­lichen Unter­stel­lungen auf­zählen, die nichts anderes im Sinn haben, als die Fackeln zu wenden und von den tat­säch­lichen Ver­ur­sa­chern der Pro­bleme und ihren kom­mu­nis­ti­schen Hirn­ge­spinsten fernzuhalten.

„Das ist Vene­zuela heute: ein Wild­west­ka­pi­ta­lismus, in dem ein Drittel aller Bürger nicht genug zu essen hat, während ein paar Neu­reiche ein Ver­mögen fürs Fit­ness­studio hin­blättern, um sich das Fett abzutrainieren.“

Nicht einer dieser Neu­reichen ist durch Markt­me­cha­nismen, eine gute Geschäftsidee oder Grün­der­fleiß zu seinem Ver­mögen gekommen. Jede dieser Maden im schwind­süch­tigen Fleisch eines bank­rotten Landes ist fest ver­ankert im staat­lichen Kor­rup­ti­ons­ge­flecht und kann sich nur dank Maduros Wohl­wollen – und gegen Treueeide und Betei­ligung – dort halten, wo ihn die all­ge­meine Ver­armung des Landes hin­ge­spült hat. Zu dumm, dass die Mafia keine Ver­wendung für Pro­fes­soren für Sozi­al­wis­sen­schaften hat!

Kein echter Sozia­lismus in der DDR Tropical?

Ein Merk- und Lehrsatz aus der poli­ti­schen Öko­nomie des DDR-Sozia­lismus war, dass der Kapi­ta­lismus die voll­stän­digen öko­no­mi­schen Vor­aus­set­zungen für den Sozia­lismus schaffe. Heute drückt sich die Linke gern vor solch klaren Ansagen, machen sie doch das para­sitäre Ver­hältnis des einen Wirt­schafts­mo­dells zum anderen deutlich. In Vene­zuela hat die vom bösen Kapi­ta­lismus geschaffene Basis ziemlich genau zehn Jahre gereicht, bevor das Füllhorn ver­siegte und das Land end­gültig in die gesetzlose, klep­to­kra­tische Richtung abbog. Maduro hat sich abge­funden mit dem Ver­sagen seiner Politik, deren Über­reste nur noch dazu reichen müssen, ihn selbst und seine Clique am Leben zu halten.

Der zitierte „Wilde Westen“ endete in den Ver­ei­nigten Staaten übrigens mit dem Ent­stehen der Ölin­dustrie und der damit ein­her­ge­henden Indus­tria­li­sierung und Urba­ni­sierung. Vene­zuela geht gerade den umge­kehrten Weg. Der Kapi­ta­lismus kann folglich nicht als Erklärung her­halten für das, was der Spiegel zu sehen glaubt. Dem ver­armten, hun­gernden Pro­fessor Carlos de Armas nützt die Schuld­zu­schreibung des Spiegels ohnehin nichts. Er ist nur eines der Mil­lionen Opfer eines Gesell­schafts­expe­ri­ments, das sich mal wieder als „kein echter Sozia­lismus“ ent­puppt. Diesmal mit dem lächer­lichen Versuch des Spiegel, ihm nach Ablauf des Halt­bar­keits­datums einfach ein anderes Etikett zu verpassen.

Zuerst erschienen auf Achgut.com


Quelle: unbesorgt.de