(Roger Letsch)
Braucht die Welt ein „neues Twitter“? Das Kommentariat in Medien und Politik ist sich da sicher, seit der Gottseibeiuns Musk das Original kaufte und dort kaum ein ideologischer Stein auf dem andern blieb. War die Verwirrung anfangs groß, ist das beschämte Schweigen über die Enthüllungen der „Twitterfiles“ nun vorbei, welche einen ganze Sumpf aus Zensur, Erpressung und Manipulation durch Politik und Medien ans Licht brachte und Musk daran zweifeln ließ, ob er den Laden jemals in den Griff bekommen würde. Sicher ist das bis heute nicht. Schloss er ein Hintertürchen für die Gängelung der Benutzer, taten sich gleich zwei neue auf. Die Medien fühlten sich ihrer geliebten Spielwiese und ihre Statussymbole (Blauer Haken) beraubt. Der elitäre Nimbus ist nun nicht mehr Beziehungen zu verdanken oder wird unter der Hand meistbietend verkauft, stattdessen kann nun jeder für acht Dollar im Monat eine Echtheitsbestätigung und weitere Services kaufen. How dare you, Elon, journalistische Werkzeuge so billig zu verramschen!
Im Journalismus hofft man seit dem, es möge doch bitte rasch Gras über die Übernahme und die Begleitumstände gewachsen sein, so dicht und stark, dass es die neuen medialen Narrative tragen kann, die man sich für das einst geliebte und nun verhasste blaue Vögelchen ausgedacht hat. Die lauten nämlich etwa wie folgt: Vor Musks feindlicher Übernahme war Twitter ein Hort der Wahrheit, wo sich alle Ideen und Informationen frei entfalten konnten. Alle hatten sich lieb, Lamm und Löwe tauschten Salatrezepte aus und Geheimdienste aller Art zitterten vor den Enthüllungen tapferer, blaubesternter Journalisten.
Doch dann wurde alles anders, als der finstere und umstritten Multimilliardär… Sie können wieder hinter der Fichte hervorkommen, liebe Leser. Denn bekanntlich war es genau andersherum. Das hinderte die ZEIT freilich nicht daran, eine ihrer journalistischen Nachwuchshoffnung Sasan Abdi-Herrle damit zu beauftragen, genau solch einen Unsinn zu verfassen und die Frage vom Anfang laut zu stellen: Braucht die Welt ein neues Twitter?
„Lassen Sie uns mit einer weitreichenden Behauptung beginnen: Die Welt braucht ein soziales Netzwerk, das in Sekundenschnelle Informationen, Einordnung und Meinungen liefert. Und Threads von Mark Zuckerbergs Meta-Konzern könnte dieses Netzwerk sein.“
„Einordnungen“ ist die Kurzform von „was sie davon zu halten haben“ und bezeichnet diesen extra Klecks Meinungsbutter auf dem Graubrot der Nachricht. Irgendwo brennt es, Passanten werden gemessert, in einem Berliner Freibad „kocht“ das Gemüt…? Du lieber Himmel, wie soll man diese Nachrichten jemals verstehen, wenn sie nicht ein Profi für Feuer, Messer und Klimawandel anhand von aktuellen Studien und Umfragen einordnet und (s)eine Meinung dazu präsentiert? Man denke doch an das Wasser und die Mühlen! Wenn wir doch nur das alte, das gute Twitter wieder hätten!
„Zum Verständnis ein paar Fragen, die man sich zuletzt als an der Welt interessierter Mensch stellen konnte. 1) Was passiert in Russland während des Putschversuchs von Wagner? 2) Was sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur alarmierenden Erwärmung der Ozeane? 3) Wie läuft die politische Debatte über das Heizungsgesetz? 4) Sind die Kürzungen beim Elterngeld ein Schlag gegen die Gleichstellung oder doch ganz okay? Bis zur Übernahme durch Elon Musk hätte man auf Twitter zu diesen und vielen anderen Fragen ein Sammelsurium an Informationen und Antworten finden können.“
Wie bitte? Das alles hätten wir 2021 bei Twitter finden können? Das ist natürlich Unsinn. Zu 1) war die ganze Welt selbst 2023 ratlos, als es passierte. Zu 2) bemerken die Wissenschaftler verblüfft, dass die Ozeane (besonders der Pazifik) sich im Gegenteil immer noch abkühlen, statt wärmer zu werden, zu 3) und 4) machen weder das alte noch das neue Twitter irgendwelche Einschränkungen, was dem ZEIT-Autor offenbar missfällt. Doch machen wir es einfach wie er und reisen gedanklich durch die Zeit, zurück ins goldene Zeitalter, als Twitter noch nicht vom finsteren Musk unterjocht war. Und wir stellen Fragen, die Twitter schon damals hätte beantworten können, wenn es so frei und wunderbar gewesen wäre, wie uns Sasan Abdi-Herrle gern glauben lassen will.
Zurück ins Jahr 2020/21
1) Wie laufen die Ermittlungen des FBI bezüglich der Vorwürfe Bestechung, Nepotismus, Prostitution, Drogenhandel und Geheimnisverrat gegen Hunter, Jim und Joe Biden nach der Auswertung der Dokumente auf Hunters Laptop? 2) Wie erklärt „die Wissenschaft“ die zeitgleich zur ausschließlich anthropogenen Erderwärmung stattfindende Erwärmung der Marsatmosphäre? Sicher hat Musk da seine Finger im Spiel, schließlich will er da hin! 3) Warum war die Arktis auch in den Sommern der Jahre 2020/21 noch nicht eisfrei? Liest die denn keine Zeitung? Und schließlich 4), wie gut, effektiv und nebenwirkungsfrei sind eigentlich die Covid-Mittelchen, was genau haben deren Erfinder in ihren klinischen Studien getestet und was nicht? Woher kommt das Virus und wie gut schützt natürlich erworbene Immunität im Vergleich mit dem ersten, zweiten, dritten oder achten Piks?
Fragen über Fragen, auf die das alte Twitter entweder keine Antwort oder nur eine Antwort hatte, falls solche Fragen nicht sogleich zur Löschung der Frage und des Fragenden führte. Im besten Fall fand man als Reichweite schmarotzende Mistel dubiose Faktenchecks von Handlanger-NGOs angeheftet, sah sich in der Reichweite eingeschränkt und zog den Janhagel der Melder, Petzer und Verhetzer auf sich.
Oder anders in in Richtung Sasan Abdi-Herrle gefragt: was muss man morgens im Müsli oder abends im Tee haben, um das durchzensierte, ausspionierte, keine Privatsphäre respektierende und von FBI und CIA kontrollierte Twitter vor der Übernahme durch Musk als einen Hort der Freiheit zu zeichnen, als Quell eines Sammelsuriums feinster Informationen und Amphitheater des angeregten Diskurses?
Der journalistische Country Club
Die Trauer in Politik und Medien darüber, dass dieser Musk ihre schöne Blase aufgestochen hat, ist jedenfalls seit einiger Zeit mit Händen zu greifen.
„Und doch sollte man den Wert von Twitter und die Macht eines potenziellen Nachfolgers [gemeint ist natürlich Threads] nicht abtun. Denn auch wenn die Nutzerzahlen im Vergleich zu Facebook oder Instagram klein sind: Twitter wirkte [man beachte die Vergangenheitsform, Anm. d. Autors] über seine Grenzen hinaus. Statt in den klassischen Medien wurden Themen dort oft vor- und nachverhandelt. Politikerinnen und Politiker beriefen sich auf Tweets und machten ihre Entscheidungen zuerst auf Twitter publik; NGOs und Journalistinnen und Journalisten nutzten die Informationen für ihre Themensetzung und redaktionelle Entscheidungen. Was auf Twitter lief, konnte zumindest über Bande auch „normale Menschen“ betreffen.“
Normale Menschen, zumindest über Bande. Selten wurde Herablassung so unverblümt kommuniziert. Was wären „die Bürger da draußen“ auch ohne ihre Erklärer, Einordner und Meinungsgeber. Klein war Twitter, aber es gehörte ganz den Einordnern. Twitters Regeln schränkte sie nicht ein, seine Zensur betraf sich nicht, sondern schützte ihre Narrative und Glaubwürdigkeit und Reputation gab es in Form eines kleinen blauen Häkchens, das für „normale Menschen“ fast unmöglich zu erlangen war. Twitter war der journalistische Country Club und das Emblem am Revers sagte den „normalen Menschen“ vor den Schaufenstern: ihr gehört nicht dazu, ihr dürft nur zusehen.
Sterbende Plattform
„Nun ist Elon Musk beharrlich dabei, diese herausragende Rolle zu verspielen. Wer Twitter heute öffnet, findet eine sterbende Plattform vor. Viele einflussreiche Stimmen haben sie verlassen. Der Algorithmus liefert nicht mehr solide Informationen, sondern Ideologie und vor allem: sehr viel Bullshit. Hinzu kommen technische Schwierigkeiten und manche Verirrungen bei der Benutzeroberfläche. Musks Utopie von Meinungsfreiheit entpuppt sich zunehmend als libertäre Dystopie.“
Die sterbende Plattform erfreut sich seltsamerweise guter Gesundheit. Was den Traffic dämpft sind die Riegel, die man dort gerade dem Datamining vorgeschoben hat. Neue Funktionen wie die Möglichkeit, via Twitter Videos zu streamen, bringen reichweitenstarke Leute wie Tucker Carlson dazu, ihr Publikum zu finden. Viele von der Plattform verbannte einflussreiche Stimmen sind aus der Verbannung zurück, andere müssen gerade lernen, dass ihr Einfluss oft gar nicht so groß wie vorgegaukelt war. Der „solide Informationen“ liefernde Twitter-Algorithmus war nämlich ein Witz und derart manipuliert, dass er zum Schluss ausschließlich Ideologie und Bullshit lieferte und vor allem einem Zweck diente: wirkliche Trends zu kontrollieren und bei Bedarf (meist definiert von amerikanischen Drei-Buchstaben-Behörden) zu pushen oder zu verhindern. Musks libertäre Idee von Meinungsfreiheit gefällt mir jedenfalls deutlich besser als das von politischer Macht und Zensur bestimmte alte Journalistentwitter.
„Die so entstandene Lücke schmerzt – und Threads hat das Zeug, sie zu füllen. Ein Vorteil könnte sein, dass die Verantwortlichen das Rad nicht neu erfinden wollen. Threads sei eine „seriös geführte Version von Twitter“, teilte Meta vor dem Start bescheiden mit. Und tatsächlich fühlt sich die App, die durch die Verquickung mit Instagram binnen wenigen Tagen mehr als 100 Millionen Nutzer angezogen hat, wie eine aufgeräumte, zivilisierte Variante des blauen Konkurrenten an.“
War das alte Twitter noch die kleine, aber feine Blase hochwertiger Journalistik, ist Größe plötzlich ein Argument. Was von den rasant wachsenden Userzahlen bei Threads zu halten ist, wird man noch sehen. Die Anmeldung läuft via Instagram und Threads geht mit dem Insta-Konto eine feste Beziehung ein. Löscht man das Threads-Konto, ist auch das Insta-Konto weg. Viele werden sich schon deshalb angemeldet haben, um ihren Benutzernamen zu reservieren, doch ohne Hashtags, ohne Inhaltssuche, ohne Trends und Direktmessages ist die Verwendung noch sehr eingeschränkt. Nur auf Zensur müssen die Threads-Benutzer von Beginn an nicht verzichten. Da fühlt sich die Journaille gleich wieder wie zuhause bei Twittern.
Gegen EU-Regeln
Dabei ist die Threads-App in der EU noch nicht so ohne weiteres zu benutzen. Die 1–2‑Fix Übernahme von Daten eines anderen Netzwerkes (Instagram) zur Erstellung eines Threads-Kontos ist den Datenschützern nicht geheuer. Lustig ist, dass das durch Musk aus dem Twitterhimmel vertriebene Kommentariat sonst der EU und deren Regulierungswut und Bürgerbevormundung stets das Wort redet. Hier jedoch kann es gar nicht schnell genug gehen, dass die EU-Kommission endlich das „Go!“ für den ersehnten Twitter-Ersatz gibt. Ja, man bedient sich sogar allerlei Tricks und Kniffen, um sich unter Umgehung geltenden EU-Datenschutzrechts Zugang zu einem solchen Threads-Konto zu verschaffen. So viel Renitenz gegen den EU-Zentralismus und das Netzwerkdurchsetzungsgesetz hätte ich diesen Etatismus-Fans gar nicht zugetraut. Chapeau!
Unterdessen fegen die von Musk enttäuschten Journalisten auf Mastodon die Spinnenweben aus den engen, einsamen Blasen und schauen doch immer wieder auf Twitter vorbei. Und sei es nur, um sich über die Plebs mit den neuen blauen Twitter-Haken zu echauffieren, weil diese als Leistungspaket nun ganz offiziell verkauft werden, statt per Initiation an ausgewählte Adepten des geltenden Narrativs vergeben zu werden. Marktwirtschaft statt Vetternwirtschaft – und das von einem Kapitalisten! How dare you, Elon!
Doch die größten Kritiker der Haken, soll man nicht nach gestern fragen. Denn wenn auch ZEIT-Autor Sasan Abdi-Herrle wohl nie einen blauen Haken hatte, vermissen viele seiner Kollegen ihn doch so sehr. Ein kurzer Blick in die Vergangenheit hilft auch hier bei der korrekten Einordnung. Mit der Wayback-Machine, um die blauen Haken an den Profilen von gestern zu suchen.
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