Gemaßregelt, gejagt, gespalten, observiert, manipuliert, diffamiert. Wir leben in äußerst anstrengenden Zeiten, und ein Ende dieses Alptraums ist nicht abzusehen, im Gegenteil, das Ganze nimmt wieder an Fahrt auf, und alle Zeichen deuten darauf hin, dass uns erneut ein Winter mit massiven Einschränkungen bevorsteht. Mit wem ich auch spreche, die Stimmung ist gedrückt, für viele fühlt es sich an, als sollte die Lebensfreude unter Strafe gestellt werden. Immer wieder frage ich mich, was uns die Kraft gibt, diesen Wahnsinn ohne Blessuren an Körper, Geist und Seele zu überstehen. Es muss wohl Resilienz sein, also die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigungen zu überstehen. Vor kurzem begegnete mir eine Frau, der die Resilienz offenbar in die Wiege gelegt wurde, sonst wäre sie an den unzähligen Herausforderungen in ihrem Leben zerbrochen. Es war eine Begegnung, die mir Mut gemacht hat in dunklen Zeiten.
Ich lernte Dietlind Schachner an meinem Kraftort kennen, einem idyllischen See mitten im Grünen, und schon im ersten Moment spürte ich, dass diese Begegnung kein Zufall, sondern ein Geschenk des Himmels war. Ihr Aussehen und ihre Ausstrahlung waren außergewöhnlich. Das Haar seitlich und am Hinterkopf kurz geschoren, das Haupt gekrönt von einem burschikosen Pferdeschwanz. Ein klarer Blick aus leuchtenden Augen, ein Lächeln. Ich wunderte mich, warum sie an einem warmen Sommertag dicke Lederstiefel zu ihrem gehäkelten Kleid trug. Sie zog die Boots und das Kleid aus und ging vorsichtig über das nach monatelangen Regenfällen schlammige Ufer ins Wasser. Ein paar Schwimmzüge, fröhliches Jauchzen, und sie kehrte wieder zurück ans Ufer. „Ich habe ein Problem mit meinen Füßen und dem Gleichgewicht, deswegen kann ich nicht so lange im Wasser bleiben.“, erklärte sie. Neugierig fragte ich nach, und Dietlind Schachner erzählte, dass sie in ihrem Leben mehrere Stürze überlebt hat. Und nicht nur das…
„Als Kind habe ich mich aufgehoben und geliebt gefühlt, aber ich habe mich auch immer anders gefühlt.“, erzählt Dietlind, und tatsächlich verlief ihr Leben auch anders als das der Anderen. Traumatische Erfahrungen, lebensbedrohliche Unfälle. Dietlind ist fünf Jahre alt, als sie aus einem Fenster im zweiten Stock neun Meter in die Tiefe stürzt. Sie überlebt, zieht sich jedoch eine offene Oberschenkelfraktur zu, die genagelt wird. Als der Nagel entfernt wird, zeigt sich, dass Wachstumsfugen verletzt wurden. Ein Bein ist 3,5 cm länger. Doch Dietlind kann wieder laufen. Der nächste Sturz im Alter von 13 Jahren: Dietlind, eine kleine Revoluzzerin auf Klassenfahrt, sieht nicht ein, warum sie den Nachmittag in der Jugendherberge verbringen soll und klettert mit zwei Freundinnen durch das einzige, nicht vergitterte Fenster in der Jungen-Toilette. Sie läuft auf einen Abhang zu, als sie am Rand des Felsens steht, ruft ihre Freundin: „Fall bloß nicht!“ In diesem Moment bricht ein Felsbrocken ab, Dietlind stürzt in die Tiefe. Auch diesen Sturz überlebt sie wie durch ein Wunder. Ein Fuß steht seltsam ab. „Ich glaube, der ist ab.“, sagt Dietlind. Ihre Freundin versucht, zu ihr zu klettern, stürzt ebenfalls in die Tiefe und bricht sich beide Hände. Bei Dietlind ist der Fuß noch dran, doch beide Beine sind gebrochen und werden sechs Wochen eingegipst, insgesamt sind 22 Knochen gebrochen.
Abb. 1: Dietlind in Gips
Wegen der starken Schmerzen muss Dietlind Morphium nehmen, es haben sich Haarrisse gebildet, das Bein wird nochmals gebrochen. Als der Gips entfernt wird, sind Beine und Füße deformiert. „Du wirst nie mehr laufen können.“, sagt der Arzt. „Das ist MEINE Verletzung.“, sagt sich Dietlind, „und ich werde wieder laufen.“ Sie trainiert eisern, macht eineinhalb Jahre fünfmal die Woche Krankengymnastik, setzt das Morphium ab. An Weihnachten geht sie die ersten vier Schritte. Dietlind läuft, obwohl sie Probleme mit dem Gleichgewicht hat und ihre Füße instabil sind. Sie braucht spezielle Schuhe, die ihr Halt geben, hat aber keine Lust auf diese hässlichen orthopädischen Kassenmodelle. Sie sucht nach einem außergewöhnlichen Modell und … findet es. 47 Jahre sind seit dem Sturz aus dem Fenster vergangen, seitdem trägt Dietlind Schachner diese Boots draußen wie drinnen, dies ist übrigens erst das zweite Paar. Die Stiefel sind ihr Markenzeichen geworden.
Abb. 2: Dietlind vor Selbstportrait, nicht ohne ihre Stiefel
Nicht nur körperliche Verletzungen ziehen sich wie ein roter Faden durch Dietlinds Leben, sondern auch traumatische Erfahrungen. Im Alter von 11 Jahren wird sie von einem jungen Mann vergewaltigt, im Alter von 24 erlebt sie die zweite Vergewaltigung. Dietlind hadert mit ihrem Schicksal, möchte nicht mehr auf dieser Welt sein, beginnt eine Therapie, bricht sie ab, setzt sich intensiv mit den Vergewaltigungen auseinander und beschließt: „Ich lasse niemanden Macht über mich haben.“ Trotz der traumatischen Erfahrungen lebt Dietlind eine erfüllte Sexualität. Sie glaubt an Karma und Reinkarnation und begibt sich auf die Spur früherer Leben. „Im 11. oder 12. Jahrhundert war ich ein Hunnenkönig, der brutal gemordet und vergewaltigt hat. Deswegen bin ich in diesem Leben voller Liebe und Verständnis, ich muss etwas wiedergutmachen.“ Dietlind sieht auch zwei positive Leben in der Vergangenheit. „Deswegen führe ich ein Leben der Liebe. Ich bin gewachsen, fühle mich gesegnet.“ Ihr künstlerisches Schaffen ist eine kreative Verarbeitung ihrer Verletzungen und ihrer Verletzlichkeit.
Abb. 3: Dietlind Schachner begegnet sich in ihren Bildern selbst
Mit 35 Jahren der nächste Unfall: Sie springt in einen See und landet auf einem Stein. Drei Mal werden am Knöchel Drainagen gelegt, dadurch bohrt sich ein Leberfleck in die Epidermis der Hauptschlagader, die Diagnose: schwarzer Hautkrebs. Die Ärzte geben Dietlind 6,7 Prozent Überlebenschance. (Wie konnten die Halbgötter in Weiß das eigentlich so exakt auf die Kommastelle berechnen???) Empfohlen wird das Übliche: „Fünf Ärzte wollten mir eine Chemotherapie verkaufen.“ Dietlind lehnt dankend ab, sagt sich: „Es ist meine Krankheit, auch darüber gebe ich niemandem die Macht.“ Ein Jahr lang spritzt sie sich selbst ein Mistelpräparat, der Krebs verschwindet und kommt nicht wieder.
Abb. 4: Trotz aller Schicksalsschläge hat Dietlind nie ihr Urvertrauen verloren
Dann kommt die Zeit, in der die Schmerzgrenze für die gesamte Menschheit ständig überschritten wird, die Epidemie. Dietlind empfindet das Ganze als bedrückend und ermüdend, verliert jedoch nie die Zuversicht und begegnet dem täglichen Wahnsinn mit Humor und Kreativität.
Abb. 5: Während der Pandemie ist Dietlind beim Einkaufen mit selbst gefilzter Affenmaske unterwegs
Abb. 6: Bei den Montagsdemos zeigt sie Gesicht.
Dietlind lässt sich nicht impfen, ihre beiden erwachsenen Söhne tun es. Ihre Mutter wird von der besten Freundin heimlich zur Gentherapie abgeholt. Einen Tag nach der ersten Spritze kann sie nicht mehr laufen, die einst sportliche, gesunde Frau wird immer schwächer, nach dem Booster wird ein handtellergroßer Tumor zwischen Gebärmutter und Blase festgestellt – Turbokrebs. Die Mutter stirbt, Dietlind ist an ihrer Seite bis zum Schluss. Sie schaut zurück in Trauer, aber ohne Groll, sie macht der Freundin ihrer Mutter keinen Vorwurf. „Ich schaue mir alles an, was mir vor die Füße fällt.“ … und dann geht sie weiter in ihrem Häkelkleid und ihren Lederboots und überwindet den Schmerz. „Diese Geister, die da ständig bei mir leben, sind die, die MIR meine Freiheit geben.“
Kontakt: dieterlinde1@web.de
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