Foto: https://pixabay.com/de/photos/klöße-thüringer-klöße-essen-kloss-892464/

Das Wahl­er­gebnis als Angebot, das man auch ablehnen kann

Wahlen gelten für gewöhnlich als das Hochamt der Bür­ger­be­tei­ligung in demo­kra­tisch ver­fassten Staaten und die Eliten der­selben bilden sich oft eine Menge darauf ein, dass sie ihre Macht durch Wahlen legi­ti­mieren lassen. Was nicht bedeutet, dass man dem großen Lümmel Volk keine Grenzen setzen würde, indem man die Kon­trolle darüber behält, wer sich zur Wahl stellen darf oder wie das Ergebnis einer Wahl zu inter­pre­tieren ist.

Denn es kommt in west­lichen Staaten gar nicht gut an, wenn man sich eines Kan­di­daten durch Gewalt ent­ledigt, wenn er das Macht­gefüge ernsthaft in Frage stellt. Also geht man, wenn der Wähler nicht gehorcht, den Weg durch die Rechts­in­stanzen. Schließlich ist man nicht nur eine Demo­kratie, sondern auch ein Rechts­staat. In Bra­silien ver­hängte das obsterste Gericht 2022 gegen den unter­le­genen Jair Bol­sonaro ein Poli­tik­verbot. In den USA ver­suchten ein­zelne Bun­des­staaten, Donald Trump als „ver­ur­teiltem Ver­brecher” den Eintrag auf Wahl­zettel zu ver­weigern. Die Ver­ur­tei­lungen selbst ließen sich nur durch geschickte Inter­pre­tation von Ver­gehen und die rück­wir­kende Ver­än­derung von Ver­jäh­rungs­fristen bewerk­stel­ligen. Eben­falls in den USA ver­wei­gerte man Robert F. Kennedy junior in manchen Bun­des­staaten, in denen es für die Demo­kra­tische Partei sehr knapp werden kann, zunächst den Eintrag auf die Wahl­zettel. Nachdem er aus dem Rennen aus­ge­schieden war, ver­wei­gerte man ihm die Strei­chung seines Namens.

Und dann ist da natürlich noch Thü­ringen, wo nach der rück­gängig gemachten Wahl des Thomas Kem­merich (FDP) im Jahr 2020 nun zum zweiten Mal die Krei­de­linien auf dem Spielfeld der Demo­kratie neu gezogen wurden. Diesem kleinen Bun­desland steht in der glo­balen Maggi-Küche der Demo­kratie-Geschmacks­ver­stärker offenbar eine Vor­rei­ter­rolle zu.

Die PDF-Datei, in welcher das Urteil des Thü­ringer Ver­fas­sungs­ge­richts­hofes aus­ge­reicht wurde, trägt den wun­dervoll dop­pel­deu­tigen Namen „24–00036_Beschluss_nicht_barrierefrei“ und ist beein­dru­ckende 36 Seiten lang, wenn man bedenkt – oder unter­stellt – dass das Gericht keine 24 Stunden Zeit hatte, sie zu dis­ku­tieren, zu ver­fassen, zu prüfen und mit Quellen und Zitaten anzu­rei­chern. Und Bar­rieren enthält es in der Tat! Die juris­tische Ein­ordnung muss ich als Laie natürlich den Ver­fas­sungs­rechtlern über­lassen. Doch da sich auch juris­tisch dilet­tie­rende Poli­tiker, zu deren Gunsten das Urteil aus­ge­fallen war, mit Wer­tungen nicht zurück­halten, erlaube ich mir doch einige Anmer­kungen und Inter­pre­ta­tionen. Man darf auch davon aus­gehen, dass die Thü­ringer Wähler bei ihrem eigenen Dafür­halten nicht auf Anwei­sungen aus der Staats­kanzlei warten werden. Also, was haben wir.

1) Die Tra­dition, kon­sti­tu­ie­rende Sit­zungen in deut­schen Par­la­menten von Alters­prä­si­denten leiten zu lassen, neigt sich end­gültig dem Ende zu. Die „Gefahr“, dass ein Schwe­felbube auch nur für eine Stunde eine par­la­men­ta­rische Sitzung leiten könnte, um bei der Gele­genheit die „Macht zu ergreifen“, begegnet man ja bereits im Bun­destag dadurch, dass der Abge­ordnete mit den meisten par­la­men­ta­ri­schen Berufs­jahren die Ehre hat. Par­tei­neu­grün­dungen oder Par­teien, deren Abge­ordnete ihr Mandat eher als Berufung, denn als dau­er­haften Beruf ver­stehen, sind folglich auf absehbare Zeit aus dem Spiel.

2) Der Vorwurf, die AfD habe Alters­prä­sident Treutler mit Bedacht auf­ge­stellt und plat­ziert, um so die Gunst der Stunde zur Macht­er­greifung zu nutzen, ist nicht sehr glaubhaft: Treutler gehört dem Thü­ringer Landtag als gewählter Direkt­kan­didat seines Wahl­kreises an, nicht über eine nach par­tei­in­ternem Ver­wen­dungs­zweck mani­pu­lier­barer Kan­di­da­ten­liste. Man beschwere sich also bei seinen Wählern, wenn man die Reak­tionen ertragen kann. Vor­würfe gegen Treutler, er sei zu inkom­petent und zu par­teiisch, um die Sitzung zu leiten, sind auch haltlos, weil die Geschäfts­ordnung außer den zähl­baren Jahren und einem erreichten Mandat eben keine Anfor­de­rungen an einen Alters­prä­si­denten stellt. Viel muss er ja auch nicht tun.

3) Tat­sächlich wäre der Landtag in seiner ersten Sitzung auf ein mög­liches Patt zuge­steuert, weil die Geschäfts­ordnung in Thü­ringen nicht vorsah, dass, sollte sich der Kan­didat der stärksten Fraktion einmal nicht nach einigen Wahl­gängen durch­setzen können, andere Frak­tionen dann ihrer­seits Vor­schläge hätten machen können. An dieser Stelle hätte das Ver­fas­sungs­ge­richt sinnvoll ein­greifen und eine ent­spre­chende Regelung in der Geschäfts­ordnung erlassen können. Immer unter der Maßgabe, genau solche Patt-Situa­tionen zu ver­meiden, nicht etwa bestimmte Par­teien. Übrigens hatten aus­ge­rechnet die Grünen dies offenbar vor­her­ge­sehen und in der letzten Legis­la­tur­pe­riode eine Änderung der Geschäfts­ordnung bean­tragt. Die CDU – in der irrigen Annahme, am Ende doch noch irgendwie stärkste Kraft zu werden – lehnte den Antrag ab. Andreas „Das ist Macht­er­greifung!“ Bühl von der CDU erklärte, man habe damals keinen drin­genden Hand­lungs­bedarf gesehen. Da lacht das Ana­lys­tenherz, denn wenn die Schwe­fel­partei immer nur dann zur Geißel des Faschismus erklärt wird, wenn die Plätze an den Fleisch­töpfen neu ver­teilt werden, sagt das mehr über die Nascher an den Fleisch­töpfen als über die Geißel des Faschismus aus.

4) Die AfD hatte also einige Ver­an­lassung, zu glauben, dass die alten Spiel­regeln noch Geltung hätten. Und es brauchte die insze­nierte Empörung über einen Antrag zur Tages­ordnung, um endlich das Ver­fas­sungs­ge­richt hin­zu­ziehen zu können. Dort ent­schied man wie gehofft, dass nicht nur Anträge zur Tages­ordnung, sondern auch Anträge zur Änderung der Geschäfts­ordnung jederzeit möglich sind. Das Urteil könnte eines Tages als Bumerang zu den Initia­toren zurück­eilen, sollte sich in Zukunft ein mit noch grö­ßerer Mehrheit aus­ge­stat­teter Wahl­sieger über die Rechte von anderen Frak­tionen hin­weg­setzen wollen.

5) Das Gericht hätte das Vor­schlags­recht der stärksten Fraktion erhalten und eine Regel ergänzen können, dass nach drei erfolg­losen Wahl­gängen die anderen Frak­tionen ein Vor­schlags­recht haben. Doch war man sich dieses Patts im Par­lament nicht so ganz sicher. Offenbar trauten die Abge­ord­neten der soge­nannten demo­kra­ti­schen Par­teien sich gegen­seitig nicht über den Weg und ver­mu­teten, in geheimer Abstimmung könne der eine oder andere sein Kreuzchen bei der AfD machen, so dass jemand gewählt würde, der nicht gewählt werden darf.

6) Aus Sicht des Gerichtes haben die Land­tags­frak­tionen so wie wir sie kennen, ihre Bedeutung ver­loren. Relativ stärkste Kraft in einem Landtag zu sein, berechtigt zukünftig zu über­haupt nichts mehr. Der Zugriff auf Ämter und Posi­tionen ist ab sofort an eine absolute Mehrheit gekoppelt und die wird in Thü­ringen gebildet von einer Meta-Fraktion aus Kon­ser­va­tiven und Kom­mu­nisten. In der Folge haben wir es in Deutschland nicht nur fak­tisch, sondern jetzt auch juris­tisch mit der Aus­prägung eines dys­funk­tio­nalen Zwei-Par­teien-Systems zu tun, in dem die eine Seite dank ihrer Stärke von etwa zwei Dritteln sich für die nächsten Wahl­pe­rioden Zeit gekauft hat. Zeit, diese eine letzte und nicht mehr über die Geschäfts­ordnung anzu­he­bende Hürde zur Macht zu „schützen“: 50% + X. Der Countdown für ein auf Fakten biegen und Gesetze brechen her­bei­ge­zerrtes Ver­bots­ver­fahren gegen die AfD ist jeden­falls laut­stark gestartet.

Wie das ganze wirkt, wenn man es von außen betrachtet, ist den trei­benden Kräften offen­sichtlich längst egal. Die „Würde des hohen Hauses“, die sonst in jeder Rede beschworen wird, ist in Erfurt unter die Räder gekommen, jedes Dekorum demo­kra­tisch legi­ti­mierter Rede ver­schwunden. Man bittet auch nicht mehr – wie es seit der Ver­sammlung in der Pauls­kirche Tra­dition ist – den Sit­zungs­leiter um das Wort. Das Wort wird ergriffen, nicht erteilt. Die Prä­to­ria­ner­garde der Macht, also die Ver­waltung des Land­tages, ergriff aus Angst um ihre Jobs sogar selbst Partei, indem sie Mikrofone nach Gusto offen ließ oder abre­gelte. Um Ulb­richt zu para­phra­sieren: Wir haben es kaum noch in der Hand und demo­kra­tisch sieht es schon lange nicht mehr aus!

Nach dem raschen Urteil des Thü­ringer Ver­fas­sungs­ge­richts­hofes, in dem der Alters­prä­sident Dienst­an­wei­sungen von der Justiz erhielt, konnte am 28.9. die Sitzung doch noch wei­ter­gehen. Und zwar mit der Ernennung zweier vor­läu­figer Schrift­führer, wozu der Sit­zungs­leiter zwei Tage zuvor dank der gekonnt insze­nierten Empörung des Plenums nicht gekommen war. Der Thü­ringer Landtag schritt nun nach neuen Regeln zur Wahl und bestimmte seinen Prä­si­denten „aus seiner Mitte“, wie das im Neu­sprech heißt. Als Kan­didat der neu gebil­deten Block­partei aus CDU, BSW, Linke und SPD erhielt Thadäus König (CDU) die not­wen­digen Stimmen und viel­leicht macht er seine Sache ja sogar ganz gut.

Dennoch haftet an ihm der Makel oder das Miss­trauen – je nachdem wie man das sehen möchte – dass er der gemein­samer Kan­didat von Par­teien ist, die nichts ver­bindet als ihr fak­tisch schlecht begrün­deter Kampf gegen die AfD. Die ver­blie­benen Wähler der CDU dürften in ihren Über­zeu­gungen weit weniger promisk sein als ihre Poli­tiker und schauen leicht miss­trauisch auf den Kurs ihrer Partei, gerade mit Blick auf die anste­hende Bundestagswahl.

Über den Wert dieses Sieges der neuen Block­partei über die AfD wird sicher noch viel geredet werden. Eine will­kommene Abwechslung, denn so bleibt viel weniger Zeit, über die tat­säch­lichen Pro­bleme des Landes zu sprechen. Und ich rede nicht nur von der poli­tik­ge­machten wirt­schaft­lichen Rezession, in die wir geradezu hin­ein­rennen. Viel gefähr­licher als ein dräu­ender Par­la­ments­prä­sident der AfD in Thü­ringen ist nach meiner Meinung die sich aus­brei­tende Schluss­fol­gerung vieler Wähler, dass sie von „diesem System“ nichts mehr zu erwarten haben. Dass sie ihm nicht trauen können, weil es stets wort­reiche Begrün­dungen findet, während des Spiels nach Belieben die Regeln zu ändern, um seine Macht zu sichern die Wähler vor ihren schlechten Ent­schei­dungen zu schützen.

In Thü­ringen ist das jeder dritte.

Zuerst erschienen bei unbesorgt.de.