„Schafft der Kapi­ta­lismus sich ab?“

Joachim Voth, Pro­fessor an der Uni­ver­sität Zürich, dis­ku­tiert in der FINANZ und WIRT­SCHAFT den Rückgang der Pro­duk­ti­vi­täts­fort­schritte. Ursachen und Folgen: 

  • „In den USA stieg die jähr­liche Wirt­schafts­leistung pro Stunde zwi­schen 1920 und 1970 um 2,8 %. Seit 1970 sind es nur noch 1,6 %, ein Rückgang um fast die Hälfte. Ein Blick auf die Fak­toren, die das Wachstum treiben, ist besonders beängs­tigend. In beiden Perioden trugen mehr Kapital und mehr Bildung ca. 1 % bei. Das aber heisst, dass die Pro­duk­ti­vität in den ver­gan­genen vierzig Jahren nur noch 0,65 % pro Jahr gewachsen ist – 1920 bis 1970 lag die Wachs­tumsrate noch dreimal so hoch.“
    Stelter: In der Tat ist das eine wichtige Frage. Ich denke, es liegt an der Zom­bi­fi­zierung der Wirt­schaft und an unzu­rei­chendem Wettbewerb.
  • „Damit fehlt dem Wirt­schafts­prozess aber das Elixier des Wohl­stands. Weder Bildung noch Kapital gibt es umsonst – beide stellen «Inves­ti­tionen» dar, für die jemand Zeit und Geld auf­wenden muss.“
    – Stelter: Beides sind also keine Extras, sondern Ergebnis von Entscheidungen.
  • „Pro­duk­ti­vi­täts­wachstum hin­gegen bedeutet, dass mit exis­tie­renden Res­sourcen mehr pro­du­ziert werden kann, ohne zusätz­liche Kosten. Genau daran, am tech­ni­schen Fort­schritt gemessen in Wirt­schafts­leistung, fehlt es zunehmend.“
    – Stelter: wobei dies auch mit der Brei­ten­bildung zusam­men­hängen sollte. 
  • „So sehr wir uns für den Unter­hal­tungswert neuer IT-Pro­dukte begeistern, so wenig sub­stan­ziell erscheint der Fort­schritt der letzten Jahr­zehnte im Ver­gleich zu frü­heren Durch­brüchen. Das Internet ist nett, doch ist es wich­tiger als die Elek­tri­fi­zierung? Sind Elek­tro­autos bedeut­samer als die Erfindung des Auto­mobils, Tele­me­dizin als Peni­zillin?“
    – Stelter: Das ist die Argu­men­tation von Robert Gordon.
  • „Öko­nomen vom MIT und von Stanford haben kürzlich unter­sucht, wie viel For­schungs- und Ent­wick­lungs­per­sonal nötig ist, um diesen steten Gewinn an Rechen­leistung zu pro­du­zieren. In den Sieb­zi­ger­jahren genügten ein paar Männer und Frauen in den For­schungs­ab­tei­lungen, um die Tran­sis­toren enger rücken zu lassen. Heute sind acht­zehnmal so viele Per­sonen not­wendig, um die gleiche Zunahme zu erreichen. (…) Immer mehr For­scher werden ein­ge­setzt, um bspw. in der Medizin die Tech­no­logien zu ver­bessern – und jeder Fort­schritt wird mit immer mehr Per­sonal erkauft.“
    – Stelter: Es gibt also einen Fort­schritt, der aber immer schwie­riger zu rea­li­sieren sein wird. 
  • „Eine oft über­sehene Tat­sache ist, dass der Wett­bewerb zwi­schen Unter­nehmen nur selten zu wirk­lichen Durch­brüchen Wenn Firmen um Markt­an­teile kämpfen und auf die Kosten achten müssen, fehlt häufig der lange Atem, um auf das «nächste grosse Ding» zu setzen.“
    – Stelter: Es ist beides. Wir brauchen mehr Wett­bewerb bei den „Alten“ und Mono­pol­ge­winne auf Zeit bei den „Neuen“.
  • „Es scheint also klar, dass grosse Durch­brüche häufig eher durch staat­liche Inter­vention und die lang­fristig aus­ge­richtete Grund­la­gen­for­schung von Quasi-Mono­po­listen erzielt werden. Der abklin­gende Fort­schritt seit 1970 ist so leichter erklärlich.“
    – Stelter: Der Fort­schritt bringt zahl­reiche Erfin­dungen im Zusam­menhang mit Rüs­tungs­an­stren­gungen. Ich denke aber, die großen Basis­in­no­va­tionen wie Flugzeug und Auto ent­standen aus einer Fülle an indi­vi­du­ellen Umfeld­fak­toren und es nicht ein­deutig, dass Basis­in­no­va­tionen wirklich nur im staat­lichen Umfeld ent­stehen können. Wenn dem aber so ist, dann können wir hier in Europa end­gültig das Licht aus­machen im Wett­bewerb mit China und den USA.
  • „Weniger Rüs­tungs­aus­gaben bedeu­teten oft mehr Sozi­al­staat, zugunsten sozialer Gerech­tigkeit; (…) Diese hand­festen Vor­teile aus dem Ende des Kalten Krieges und der Dere­gu­lierung wurden wegen des nach­ge­benden tech­ni­schen Fort­schritts mit einer ärmeren Zukunft. Der Kapi­ta­lismus schafft sich also nicht not­wen­di­ger­weise selbst ab; was fehlt, sind die rich­tigen, oft staatlich gelei­teten Inves­ti­tionen in die Grund­la­gen­for­schung.“
    – Stelter: Das mag so sein. Ich muss gestehen, dass ich nicht ganz davon über­zeugt bin. 

Fazit: Die Stei­gerung der Pro­duk­ti­vität müsste ganz oben auf der poli­ti­schen Agenda stehen. Noch fehlt uns das Instru­men­tarium, doch dürfte unstrittig sein, dass es mehr Inves­ti­tionen sind und weniger Konsum ist. 
FINANZ und WIRT­SCHAFT: „Schafft der Kapi­ta­lismus sich ab?“, 12. März 2018


Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com