Kofi Annan war von 1997 bis 2006 Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er starb am 18. August 2018. Die Presse trauert um ihn, spricht von ihm als “unüberhörbares Weltgewissen” und findet wundervolle Worte. Charisma habe er gehabt und eine gewichtige Stimme und sich immer, bis zuletzt, „eingemischt“. Er erhielt 2001 den Friedensnobelpreis, gemeinsam mit den Vereinten Nationen, für den „Einsatz für eine bessere Welt“. Es wird ihm von jedem Medium, das in Diensten des Systems steht, bescheinigt, diese Ehrung mehr als verdient zu haben, denn Frieden sei das Anliegen gewesen, dem er sein Leben gewidmet habe.
Ganz bescheiden, irgendwo in den Lobeshymnen, weiter hinten im Artikel — und meist nur ein kurzer Absatz – wird etwas von „Versäumnissen“ oder „Unzulänglichkeiten“ fabuliert und das liest sich dann im Allgemeinen so:
„Die Vereinten Nationen machte er durch sein Engagement zur Friedensinstanz, die mal mehr und mal weniger erfolgreich agierte. Bei seinem Amtsantritt als oberster UN-Diplomat im Jahr 1997 versprach Annan umfassende Reformen. Er kannte die Unzulänglichkeiten. Als Untergeneralsekretär für Friedenssicherung koordinierte Annan 16 UN-Missionen, darunter die in Ruanda im Jahr 1994, als vor den Augen der Weltbevölkerung binnen weniger Wochen 800.000 Menschen getötet wurden.“
Dann folgen noch ein paar Sätze, wie leid ihm das alles später getan habe, dass er das anders hätte machen müssen … und munter geht es weiter im strahlenden Lebenslauf des Weltgewissens.
Der ruandische Schriftsteller Gatete Ruhumuliza twitterte auf die Nachricht des Todes von Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annan: „Judas ist tot.“
Herrn Annans Herkunftsland Ghana ordnete anlässlich seines Todes eine Woche Staatstrauer an. In Ruanda dagegen vergisst man ihm nicht, wie er 1994 als damaliger Leiter der für Blauhelm-Einsätze zuständigen UN-Abteilung für Friedenssicherung (DPKO) sehenden Auges zuließ, dass etwa 800.000 Tutsis in Ruanda grausamst niedergemetzelt wurden. Kofi Annan hätte es verhindern können. Er befahl den Blauhelmen, still zu halten und schickte keine weiteren Truppen, um das Gemetzel abzustellen.
In Ruanda gab es schon immer Spannungen zwischen den Tutsi und den Hutu, auch unter belgischer Kolonialherrschaft. Die Belgier versuchten, durch die paritätische Besetzung von Verwaltungsposten mit den Hutu ein Gleichgewicht herzustellen. Die Tutsi waren mit ihrem Königtum Ruanda immer die herrschende Oberschicht, die Hutu aber weit in der Überzahl. Mit der Umbesetzung der Verwaltungs- und Bürgermeisterposten war die Verwaltungshierarchie jetzt teilweise den Hutu zugehörig und damit die Machtverhältnisse grundlegend geändert. Die Hutu propagierten nun die Abschaffung des Königtums und eine Republik und die Unabhängigkeit von Belgien. Sie arbeiteten teils mit Propaganda, teils mit Gewalt, um das Ende der Tutsi-Herrschaft zu erreichen (Hutu-Revolution). Viele Tutsi fühlten sich nicht mehr sicher und flohen schon vor der Unabhängigkeit (Juli 1962) zu Zehntausenden in Nachbarländer.
Sehr schnell etablierten die Hutus die Herrschaft in Ruanda und für die Tutsis im Land begann eine Zeit der Unterdrückung und Gewalt. Sie wurden aus verschiedenen Landesteilen vertrieben. Das allein kostete schon etwa 20.000 Tutsis das Leben, 30.000 weitere flohen. Tutsi-Politiker wurden ermordet. Es war also längst bekannt, welche Zeitbombe in Ruanda tickte.
Die UN-Truppen, die in Ruanda stationiert waren, sollten dazu beitragen, dass ein Friedensabkommen zwischen der Regierung des Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana und der Tutsi-Freiheitsarmee RPF (Ruandische Patriotische Front) zustande kommt und die Abläufe dazu überwachen. Es war damals absehbar, dass die Mehrheit der Hutu und das Umfeld des Hutu-Präsidenten Habyarimana alles daran setzen würde, dies zu verhindern. Zu diesem Zweck wurde die Hutu-Jugendmiliz „Interahamwe“ gegründet und aufgebaut, trainiert und ausgerüstet und gegen die Tutsis gehetzt.
Am 10. Januar 1954 wandte sich ein hochrangiger Ausbilder dieser Miliz an die Blauhelme unter dem kanadischen General Roméo Dallaire. Seine Informationen waren brisant: Die „Interhamwe-Miliz“ erfasse alle Tutsis und habe große, illegale Waffendepots angelegt. Gegen Schutz für seine Familie wollte der Informant die Standorte der Waffenlager nennen.
General Dallaire reagierte sofort und schickte einen Bericht an die UN-Friedensabteilung DPKO in den USA, an seinen Vorgesetzten Kofi Annan. General Dallaire empfahl, dem innerhalb von 36 Stunden nachzugehen und die Waffenlager auszuheben und die Waffen zu beschlagnahmen. Er fürchte die bevorstehende Vernichtung der Tutsi-Minderheit.
Roméo Dallaire hat seine Erinnerungen an das, was folgte, niedergeschrieben. Es ist das Trauma seines Lebens geworden. Bis heute leidet er unter dem, was er gesehen hat und ist ein kranker Mann. Die Antwort Kofi Annans auf General Dallaires Vorschlag traf ihn wie ein Hammerschlag: „Annan tadelte mich, dass ich auch nur daran gedacht habe, die Waffenlager zu konfiszieren. Er befahl mir, die Operation sofort zu stoppen.“ Im Übrigen solle die Information des Milizen-Ausbilders sofort an Präsident Habyarimana weitergegeben werden.
Dallaire konnte es nicht glauben. Die „Sicherung aller an Zivilisten verteilten Waffen“ war ja ausdrücklich Teil des Friedensabkommens, und die Weitergabe der Informationen würde den Miliz-Ausbilder samt seiner Familie das Leben kosten. Doch General Dallaire lief mit seinen Bemühungen bei Kofi Annan gegen die Wand. Kofi Annan lehnte kategorisch ab: Die UN Mission dürfe „Keine, wiederhole: KEINE aktive Rolle einnehmen“.
General Dallaire musste sich fügen.
Am Abend des 6. April 1994 gegen 20.20 erhielt General Dallaire einen Funkspruch, es habe eine Explosion am Flughafen Kigali gegeben. Schnell stellte sich heraus: Im Garten des Präsidentenpalastes lag ein mit zwei Raketen abgeschossenes Flugzeug, der Präsident tot, höchste Alarmbereitschaft, das Land stand unmittelbar vor der Katastrophe. Schon eine halbe Stunde später werden Tutsis auf offener Straße umgebracht.
In den frühen Morgenstunden des 07. April explodiert das Land. Die gemäßigte Premierministerin, Agathe Uwilingiyimana, die die Regierungsgeschäfte übernehmen müsste, wird ermordet. Die zehn belgischen Blauhelme, die zu ihrem Schutz abkommandiert waren, auch. General Dallaire sieht seine Männer erst als zusammengeschmissenen Leichenhaufen wieder. Belgien zieht sofort sein Truppenkontingent aus Ruanda ab. Dallaire verliert damit seine bestausgebildeten und ausgerüsteten Soldaten. Systematische Massenmorde an den Tutsi geschehen nun überall.
Ständig gehen Anrufe im Quartier der Blauhelme ein. Die Anrufer betteln um Hilfe und Schutz. Sie flüstern, sie jammern, sie schreien in höchster Todesangst. Dallaire beschreibt, wie surreal die Situation war: „Man hört Bekannte, die um Hilfe bitten … man sagt: unsere Männer sind auf dem Weg, dann diese Schreie und Schüsse, die Stille einer toten Telefonleitung. Du legst geschockt auf, das Telefon klingelt wieder.“
Die Blauhelm-Patrouillen kommen nicht durch die Straßensperren. Sie kommen nicht zu den nach Hilfe Schreienden. Schießen dürfen sie nur, wenn auf sie geschossen wird.
Im „Hôtel Des Milles Collines“ suchen 400 Tutsi Schutz. Die tunesischen Blauhelme erweisen sich als tapfer und mutig. Sie halten die Stellung und schützen die Tutsi mit ihrem eigenen Leben — im Gegensatz zu den Bangladeshi, die sich weigern, zur Verstärkung der tunesischen Kameraden anzurücken.
Am 8. April ruft General Dallaire bei Kofi Annan an, doch der verbietet ihm kategorisch, sich einzumischen. Das UN-Mandat verpflichte zu strikter Neutralität. Das Wichtigste sei die Evakuierung von ausländischem Zivilpersonal.
Dann geschieht, was General Dallaire nie wieder vergessen kann und was aus ihm einen kranken Mann mit zwei Selbstmordversuchen gemacht hat:
Internationale Militärbeobachter, darunter Dallaire, werden dazu gezwungen, in einer Kirche Augenzeugen eines Massakers unbeschreiblicher Brutalität zu sein. Zuerst trieben anwesende Polizisten die Tutsi ins Innere der Kirche, sammelten die Ausweise der Erwachsenen ein und verbrannten diese. Was dann folgte, beschreibt Dallaire in seinem Buch folgendermaßen:
„Dann riefen sie die zahlreichen zivilen, mit Macheten bewaffneten Milizionäre heran und übergaben die Opfer ihren Mördern. Methodisch und mit viel Prahlerei und Gelächter gingen die Milizionäre von Bank zu Bank und hieben und hackten mit ihren Macheten auf die Menschen ein. Einige starben sofort, andere, die bereits schreckliche Wunden davongetragen hatten, bettelten um ihr Leben oder um das ihrer Kinder. Niemand wurde verschont. Kinder flehten um ihr Leben, aber erlitten dasselbe Schicksal wie ihre Eltern.“
Überall im Land wird blindwütig massakriert, die Grausamkeit kennt keine Grenzen. Männer, Frauen, Kinder werden mit Macheten durch die Straßen gejagt und zerhackt. Ganze Familien werden direkt zum Friedhof transportiert und abgeschlachtet. Bei den Hutus herrscht Feierlaune.
Am 10. April erhält Dallaire einen Anruf des UN-Generalsekretärs, der sich erkundigt, was denn da in Ruanda los sei. Dallaire sagt ihm, dass er das Morden stoppen könne, wenn er 4000 (statt 2538) schlagkräftige Soldaten zur Verfügung habe. Stattdessen beschließt der UN-Sicherheitsrat am 21. April, den größten Teil des Blauhelm-Truppenkontingents aus Ruanda abzuziehen. Begründung: der Waffenstillstand sei als gescheitert anzusehen.
Amerikanische Soldaten rücken an und holen die Ausländer mit bewaffneten Autokonvois. Belgier, Italiener und Franzosen werden schleunigst ausgeflogen. Französische Soldaten holten ihre Landsleute aus einer von Milizen belagerten Schule. 2000 verzweifelte Tutsis in Todesangst nehmen sie nicht mit. Sie werden alle ermordet.
Ende April fischte man 40.000 Leichen aus dem Victoriasee. Die meisten davon waren Tutsi. Gleichzeitig flohen Hunderttausende Hutu in Panik nach Tansania. Eine große Rebellenarmee von Tutsis marschiert auf die Hauptstadt Kigali zu, angeführt von Paul Kagame. Sie wollen selbst das Morden an ihrem Volk beenden.
General Roméo Dallaire bleibt entgegen der Anweisung aus dem UN-Hauptquartier mit einer nur noch symbolischen Präsenz von 270 Soldaten in Kigali. Trotz seiner mehr als bescheidenen Mittel kann er Präsenz zeigen und eine kleine Sicherheitszone für Tutsis schaffen. Es sind nur kleine Rettungsaktionen. Hier eine Familie, dort ein paar Nonnen.
https://www.youtube.com/watch?v=DXdAhEs4bQ4
General Dallaire ist davon überzeugt, dass, hätten all die Soldaten, die die Evakuierung durchführten, unter seinem Kommando gestanden, der Völkermord hätte gestoppt werden können. Doch gerade Frankreich hatte eigene Pläne mit der neuen Hutu-Herrschaft: Die neuen Herren in Ruanda wurden von französischen Militärberatern und Waffenlieferanten unterstützt. Die 800.000 toten Tutsis interessieren nicht. Die UN lässt die Menschen allein und ein Land im Mordrausch untergehen. Hauptsache, die Interessen der Mächte wurden gewahrt, und Kofi Annan spielte mit.
Das tat er auch im Kosovo-Krieg. Das Massaker von Srebrenica, das sich vor 20 Jahren in Bosnien ereignete, verlief kaum anders, nur in kleinerem Format. Andere Menschen, ein anderer Ort, selbe Geschichte. Und wieder ließen Blauhelme zu, dass über 8.000 Menschen in einer UN-Schutzzone ermordet wurden. Nach 15 Jahren war erst die Hälfte der Opfer bestattet – oder was davon überhaupt noch übrig war. Jedes Jahr am 11. Juli war Beerdigungstag und jahrelang trugen die Familien jedesmal hunderte Särge auf die Friedhöfe.
Während des Bosnienkrieges, am 11. Juli 1995, fielen serbische Truppen unter General Ratko Mladic in die UN-Schutzzone Srebrenica ein. Sie ermordeten 8372 hauptsächlich Jungen und Männer. Die konnten sich nicht wehren. Sie hatten darauf vertraut, dass die niederländischen Blauhelme, die sogenannte Dutchbat-Truppe, sie beschützen würden. Dem war nicht so.
Auch hier standen politische Interessen und die Sicherheit der UN-Truppe im Vordergrund – nicht der Schutz der Bevölkerung. Auch hier wurde, als es brenzlig wurde, weder die Truppe, noch die Ausrüstung der 450 Blauhelme verstärkt, obwohl der UN-Sicherheitsrat im Vorfeld von der Offensive der Serben informiert worden war. Die serbischen Truppen konnten die Schutzzone am 11. Juli bei kaum nennenswertem Widerstand einnehmen: Die niederländischen Blauhelme schossen laut UN-Bericht absichtlich vorbei und gaben schnell kampflos auf, nachdem eine angeforderte Unterstützung durch die Luftwaffe sowohl vom französischen General Bernard Janvier als auch von niederländischen Generälen blockiert worden war.
Den wehrlosen Bosniern in der Sicherheitszone rieten die Dutchbats, zur UN-Basis nach Potocari zu flüchten. Doch auch da wurden nur sehr wenige in die schnell provisorisch errichtete Sicherheitszone gelassen. Zehntausende Flüchtlinge drängelten vor der Absperrung. Die Serben erreichten die Zone und die holländischen Blauhelme ließen die Menschen wieder im Stich.
Die serbischen Soldaten mordeten und vergewaltigten massenweise die Mädchen und Frauen und richteten in den nächsten Tagen tausende Jungen und Männer von 12 bis 77 Jahren hin, vor den Augen der niederländischen Dutchbat-Truppen.
Das war am 11. Juli 1995, ein bisschen mehr als ein Jahr nach Ruanda. Und wieder war Kofi Annan dafür mitverantwortlich.
Vier Jahre später legte Kofi Annan einen Bericht zu der katastrophalen UN-Mission vor. Er bezeichnete das Desaster als „die größte Schande in der Geschichte der UN“. Doch weder Kofi Annan, noch die UN, noch die Niederlande mussten sich je vor Gericht verantworten für das, was wegen der unterlassenen Hilfe der Blauhelme in Srebrenica geschehen war. Niemals hat sich einer der Befehlshabenden entschuldigt, genausowenig wie für Ruanda.
Mehr noch: Eine Sammelklage gegen die UN der Organisation „Mütter von Srebrenica“ wurde wiederholt abgewiesen. Die UN genieße Immunität, ließ Den Haag wissen. Man könne die UN nicht vor nationalen Gerichten verklagen. Der Anwalt der „Mütter von Srebrenica“, Axel Hagedorn, gibt nicht auf. „Die UN werden jeglicher gerichtlichen Kontrolle entzogen und verfügen damit über unbegrenzte Macht.“ Er kämpft nun gerichtlich um die Aufhebung der Immunität. Dabei will er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.
Kofi Annan wurden alle Ehren und höchste Preise zuteil. Durch diese beiden schrecklichen Völkermorde, die er hätte helfen können zu verhindern, wie er später selber zugab, klebt nicht nur viel Blut an seinen Händen. Auch die Einrichtung UN ist dadurch schwer beschädigt worden und hat an Glaubwürdigkeit verloren. Schutzzonen, die nicht verteidigt werden, sind Todesfallen für Naive, die der UN vertrauen. Das ist die Lektion der Völker, die sie daraus lernen.
Quellen:
https://www.stern.de/politik/ausland/voelkermord-in-ruanda-denn-sie-wussten–was-sie-taten-3067506.html
https://www.dgvn.de/fileadmin/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2014/Heft_2_2014/02_Eisele_VN_2-14_8‑4–2014.pdf
https://www.zeit.de/politik/ausland/2012–01/ruanda-voelkermord-praesident
http://www.spiegel.de/politik/ausland/ruanda-ueberlebende-des-voelkermords-erinnern-sich-an-genozid-1994-a-962596.html
https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_in_Ruanda
http://www.taz.de/!5528993/
https://www.bundestag.de/blob/414630/362cbc411de2b6127babe102503fd96d/wd‑2–029-07-pdf-data.pdf
https://www.sueddeutsche.de/politik/voelkermord-in-ruanda-chronik-des-versagens‑1.1929862
https://www.welt.de/politik/ausland/article181226976/Kofi-Annan-gestorben-Das-unueberhoerbare-Weltgewissen.html
https://www.focus.de/politik/ausland/tid-22487/srebrenica-der-mord-unter-dem-schutz-der-un_aid_631909.html
https://www.focus.de/politik/ausland/tid-22487/srebrenica-flucht-mit-dem-bus-die-maenner-werden-erschossen_aid_631910.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Rom%C3%A9o_Dallaire