Die Revo­lution der Türkei sieht aus wie die des Iran — aber in Zeitlupe

Die Trans­for­mation der Türkei in eine auto­ritäre isla­mis­tische Nation in den letzten 16 Jahren zu beob­achten war gespens­tisch — ähnlich dem schnellen Fall des Iran im Jahr 1979 — bloß in Zeitlupe. Während der Iran in wenigen Monaten von einem säku­la­ris­ti­schen ame­ri­ka­ni­schen Ver­bün­deten zu einem uner­bitt­lichen isla­mis­ti­schen Feind wurde, befindet sich die Türkei auf einem ähn­lichen Weg, der jedoch von einem vor­sich­ti­geren Isla­misten, Recep Tayyip Erdogan, ange­führt wird, der sich viel lang­samer bewegt hat.
Auf­stieg zur Macht
Schah Pahlevi aus dem Iran exi­lierte Ruhollah Kho­meini (in die Türkei, zufäl­li­ger­weise) 1964. Als er am 1. Februar 1979 in den Iran zurück­kehrte, ergriff Kho­meini fast sofort die absolute Macht. Als der Schah außerhalb des Landes war und Behandlung für seinen Krebs suchte, gab es wenig, was Kho­meini und seine kle­ri­kalen Ver­bün­deten auf­halten konnte. Er gründete rasch das Isla­mische Revo­lu­ti­ons­wacht­corps (Islamic Revo­lution Guard Corps IRGC), das bald die Geheim­po­lizei SAVAK des Schahs bei der Nie­der­schlagung innerer Feinde über­treffen sollte. Das berüch­tigte Evin-Gefängnis der SAVAK, das einst bis zu 5.000 der poli­ti­schen Feinde des Schahs fest­hielt, hielt bald über 15.000 von Kho­meini. Innerhalb weniger Wochen war Kho­meini Herr über eine Schre­ckens­herr­schaft, die selbst Robes­pierre bewundert hätte.
Der Sturz der Türkei in den Isla­mismus hin­gegen verlief viel lang­samer, geführt von Recep Tayyip Erdogan, bewusst und Schritt für Schritt durch eine Reihe von Wahlen hin­durch. Viel­leicht hat er von seinem Fehl­tritt gelernt, lang­samer zu gehen, als er 1998 als Bür­ger­meister von Istanbul seine Anhänger ver­sam­melte und ihnen erklärte: “Die Moscheen sind unsere Baracken, die Kuppeln unsere Helme, die Mina­rette unsere Bajo­nette und die Gläu­bigen unsere Sol­daten”. Infol­ge­dessen wurde Erdogan wegen Auf­sta­chelung zum Hass ver­ur­teilt — zu 10 Monaten Gefängnis und einem Verbot der Aus­übung eines öffent­lichen Amtes.
Erdogan war jedoch weit ent­fernt davon, in der Ver­senkung zu ver­schwinden. Er gründete eine poli­tische Partei namens AKP (Gerech­tig­keits- und Ent­wick­lungs­partei), die 2002 mit großem Stim­men­vor­sprung gewann. Bald darauf wurde das Verbot gegen ihn auf­ge­hoben und sein Comeback voll­endet, als er im März 2003 Pre­mier­mi­nister wurde.
Erdogan bewegte sich zunächst vor­sichtig und machte gele­gentlich isla­mi­sie­rende Schritte, wie die Beschlag­nahmung christ­licher Kirchen, die Änderung von Hid­schab-Gesetzen und die Ver­folgung von Nicht-Sunni-Mus­limen. Dann gaben ihm zwei ent­schei­dende Ereig­nisse die Mög­lichkeit, mehr Macht zu ergreifen: Der syrische Bür­ger­krieg 2011 und der geschei­terte angeb­liche Putsch­versuch gegen ihn 2016, wie Daniel Pipes es 2016 for­mu­lierte:
“Nach Jahren der Zurück­haltung und Beschei­denheit kam seine wahre Per­sön­lichkeit — groß­spurig, isla­mis­tisch und aggressiv — zum Vor­schein. Jetzt ver­sucht er, als Despot zu regieren.”
Erdogan sagte einmal: “Demo­kratie ist wie eine Stra­ßenbahn. Du fährst damit bis zum Ziel, dann steigst du aus.” Es scheint, dass er sein Ziel erreicht hat.
Reformen rück­gängig machen
Im Iran begann Ruhollah Kho­meini in dem Moment, als er aus Frank­reich (dem letzten Ort seiner Exil­jahre) kommend aus dem Flugzeug stieg, mit der Arbeit, den Säku­la­rismus zu besei­tigen, den der Schah durch die jahr­zehn­te­lange Ver­west­li­chung des Iran erreicht hatte. Die soge­nannte “Weiße Revo­lution” des Schahs, die im Januar 1963 auf Geheiß der Regierung Ken­nedys ein­ge­leitet wurde, war ein Reform­pro­gramm, das Quoten für Min­der­heiten und Frauen in Regie­rungsjobs fest­legte, Land an die Bauern übertrug, die es bear­bei­teten, und alle west­lichen und modernen Dinge umfasste. 1967 ermög­lichte das Fami­li­en­schutz­gesetz Frauen, auf Scheidung zu klagen, das Sor­ge­recht für ihre Kinder zu gewinnen und ihren Männern die Mög­lichkeit zu ver­weigern, mehrere Frauen zu nehmen. Es schaffte die “befristete Ehe” (eine schii­tische reli­giöse Auto­ri­sierung für die Pro­sti­tution) ab und hob das gesetz­liche Alter der Ehe von neun Jahren (nach dem Bei­spiel des Pro­pheten Mohammed) auf fünfzehn Jahre an.
Kho­meini ver­un­glimpfte das Ver­west­li­chungs­projekt des Schahs als “Wes­t­oxi­kation” (über­setzt aus dem Per­si­schen gharbzadegi). Anstatt eines tech­no­lo­gisch über­le­genen Riesen, der bereit war, die Früchte der Moderne mit seinem anti­kom­mu­nis­ti­schen Ver­bün­deten aus der Dritten Welt zu teilen, wurden die USA zum “großen Satan”, der dem Iran angeblich seinen Säku­la­rismus auf­zwang und seine isla­mische Kultur auslöschte.
In der Türkei hat Erdogan langsam und Schritt für Schritt die Frei­heiten der Bürger unter­graben. Wie Kho­meini wollte er das Ver­west­li­chungs­projekt seiner Vor­gänger aus seinem Land ent­fernen. Die Türkei stand einst abseits vom Rest der mus­li­mi­schen Welt, was zum großen Teil auf den Reformer Mustafa Kemal zurück­zu­führen war, einen tür­ki­schen General, der die Macht nach der Nie­derlage des Osma­ni­schen Reiches im Ersten Welt­krieg übernahm. Unter dem Namen Atatürk (“Vater der Türken”) schaffte er 1924 offi­ziell (wenn auch sym­bo­lisch) das isla­mische Kalifat ab und begann mit der Säku­la­ri­sierung und Ver­west­li­chung der Türkei. Fast 70 Jahre lang schien die Türkei immun gegen den Isla­mismus zu sein. Doch diese Immu­nität erscheint jetzt illusorisch.
Nachdem Erdogan Pre­mier­mi­nister geworden war, begann er, das Atatürk-System zu unter­graben. Als Prä­sident hat er es ver­nichtet. Dem einst mäch­tigen tür­ki­schen Militär wurde seine Unab­hän­gigkeit genommen. Die Min­der­hei­ten­rechte, ins­be­sondere die der Christen, sind ver­ringert worden. Erdogan hat sich darauf kon­zen­triert, Kirchen zu schließen und Moscheen zu bauen. Die Presse ist nicht mehr frei, und die tür­kische Wis­sen­schaft ist ein Schatten ihres frü­heren Selbst.
Regie­rungs­prinzip
Jeder Islamist, der regieren will, muss einen Weg finden, das kora­nische Dekret zu ratio­na­li­sieren, dass “Allah keine Partner hat”. 1991, als Ayman al-Zawahiri (der der­zeitige Anführer von Al-Qaida) die Mus­lim­bru­der­schaft für ihre Teil­nahme an den demo­kra­ti­schen Pro­zessen Ägyptens kri­ti­sierte, erklärte er:
“Das Ent­schei­dende an Demo­kratien ist, dass das Recht, Gesetze zu erlassen, jemand anderem als Allah dem Aller­höchsten gewährt wird. Das ist also Demo­kratie. Wer also damit ein­ver­standen ist, ist ein Ungläu­biger — denn er hat Götter an Stelle Allahs genommen.”
Die Schia-Version dieses Verbots schreibt vor, dass kein Mensch regieren kann, solange der Zwölfte Ver­borgene Imam ver­borgen bleibt, und jeder Versuch, dies zu tun, ist profan.
Kho­meinis Lösung war die Schaffung des valeyat-e-faqih — meist über­setzt als “Regie­rungs­prinzip des Rechts­ge­lehrten”. Diese Ver­ein­barung übertrug die täg­liche Füh­rungs­ver­ant­wortung unmit­telbar in die Hände der Kle­riker, deren strikte Ein­haltung der Scharia das Regime von der Ver­ant­wortung abgrenzte, “Partner mit Allah zu werden”. Sie regierten nicht wirklich, so das Argument, sondern hielten nur eine fromme Wache über die Dinge, bis der Zwölfte Imam aus dem Ver­steck komme.
Um die Über­wacher zu über­wachen, machte sich Kho­meini zum Rahbar (“Supreme Leader”). Er gab sich als der Weise aus und war nur ein wei­terer Dik­tator, der einen Weg gefunden hatte, die Bevöl­kerung zu täu­schen und zu bedrohen.
Erdogans schritt­weise Über­nahme wurde durch den demo­kra­ti­schen Prozess erreicht, der durch die Reformen von Atatürk ermög­licht wurde. Es ist nicht ganz dem gefürch­teten “ein Mann, eine Stimme, ein Mal” gleich­ge­kommen, doch mit jedem Wahlsieg, den Erdogan erzielte, wurde er auto­ri­tärer und isla­mis­ti­scher. Nach dem angeb­lichen Putsch­versuch 2016 eska­lierte er die Über­nahme. Erdogans knappe Siege beim Ver­fas­sungs­re­fe­rendum 2017 und bei den Prä­si­dent­schafts­wahlen 2018 erlaubten es ihm die Ver­fassung, auf­grund derer er an die Macht kam, abzu­ändern und zu igno­rieren, was ihn zum tür­ki­schen Kho­meini machte. Jetzt, da Erdogan nicht mehr Gefahr läuft in der Wahl­kabine zu ver­lieren, suche man nach Schein­wahlen, die er mit Arafat-Mehr­heiten gewinnen wird.
Außen­po­litik
Kho­meinis außen­po­li­ti­sches Ziel war einfach: Den Ein­fluss des Irans zu erweitern, seine Version des Isla­mismus zu ver­breiten und alle west­lichen Dinge zu bekämpfen.
Erdogans Außen­po­litik war von Anfang an auch feindlich gegenüber dem Westen, noch bevor er 2003 Pre­mier­mi­nister wurde. In der Zeit nach dem 11. Sep­tember ver­han­delte die Türkei mit den USA, um zusätz­liche 62.000 Sol­daten her­ein­zu­lassen, die die Truppen, die aus dem Norden in den Irak ein­mar­schierten, bilden würden. Es war eine Über­ein­kunft erzielt worden, die der Türkei 6 Mil­li­arden Dollar an Direkt­hilfen und zusätz­liche Kre­dit­bürg­schaften für weitere Mil­li­arden gebracht hätte. Doch nachdem Erdogans AKP-Partei bei den Wahlen im November 2002 die Kon­trolle über 60% des Par­la­ments erlangt hatte, übte sie genügend Ein­fluss aus, um den Deal zu stoppen.
Seit er Pre­mier­mi­nister und dama­liger Prä­sident der Türkei ist, ist Erdogans Politik immer feind­se­liger geworden gegenüber den Inter­essen der USA. Er setzte sich für die Gaza-Flot­tille ein, half dem Iran, Waffen nach Syrien zu trans­por­tieren und kämpfte gegen die kur­di­schen Ver­bün­deten Ame­rikas. Er hat nicht nur den 4‑Finger-Gruß der Bru­der­schaft popu­la­ri­siert — viel­leicht sogar erfunden -, sondern auch die Mus­lim­bru­der­schaft und ihre Art Isla­mismus will­kommen geheißen.
Geiseln
Zu den beun­ru­hi­gendsten aller Erdogan-Kho­meini-Par­al­lelen gehört die neue tür­kische Vor­liebe für Gei­sel­nahme. Am 4. November 1979 über­rannten die Streit­kräfte von Kho­meini die US-Bot­schaft in Teheran und hielten 444 Tage lang 52 Mit­ar­beiter, Diplo­maten und Zivi­listen der Bot­schaft als Geiseln. Nachdem sie frei­ge­lassen wurden, ergriff Kho­meini wei­terhin Ame­ri­kaner, haupt­sächlich durch seine ter­ro­ris­ti­schen Stellvertreter.
Der Begriff, den viele zur Beschreibung von Erdogans jüngstem Aus­rut­scher in den Kho­mei­nismus ver­wendet haben, ist “Gei­sel­di­plo­matie”. Der ame­ri­ka­nische Pastor Andrew Brunson wurde am 7. Oktober 2016 als Geisel genommen und wird seither als Schach­figur in Erdogans Version der Diplo­matie benutzt. Der “Chris­tia­ni­sierung” ange­klagt, wie es das neu von sich selbst über­zeugte isla­mis­tische Regime vor­sieht, ist Brunson nicht der einzige Ame­ri­kaner, der in der Türkei inhaf­tiert ist.
Was kommt als nächstes?
Man könnte argu­men­tieren, dass die USA jahr­zehn­telang die Gefahr des Sturzes des Schahs und des Auf­stiegs des schii­ti­schen Islams als poli­tische Kraft igno­rierten, aber sobald das geschah, ging der Iran rasch voran während der Amtszeit eines schwachen Prä­si­denten, der nichts tat, um dem Schah zu helfen und tat­sächlich seinen Untergang beschleu­nigte. Als Jimmy Carter erkannte, wie dumm es war, den Schah im Stich gelassen zu haben, war es zu spät. Doch die USA hatten mehr als genug Zeit und War­nungen, um zu sehen, was unter Erdogan in der Türkei pas­siert. Jetzt, da sich der Zeit­lupen-Nie­dergang beschleunigt, wird nichts als ein erfolg­reicher Mili­tär­putsch Erdogan daran hindern, voll Komeini zu werden.
Glück­li­cher­weise ist es nicht 1979, und man kann aus den Lehren jenes schreck­lichen Jahres lernen. Viele beginnen, die Mit­glied­schaft der Türkei in der NATO zu über­denken. Leider gibt es keinen Mecha­nismus, um ein Mit­glied aus der NATO aus­zu­schließen, aber es gibt keinen Grund, Dut­zende von ame­ri­ka­ni­schen tak­ti­schen B61-Atom­bomben auf der tür­ki­schen Luft­waf­fen­basis Incirlik zu behalten. Obwohl die Bomben (zu denen die Türkei keine Flug­zeuge besitzt, die in der Lage sind, sie ein­zu­setzen) in unter­ir­di­schen Gewölben gesi­chert und durch red­un­dante Start­code­pro­to­kolle geschützt sind, stellen sie im Falle ihrer Beschlag­nahmung immer noch eine große Bedrohung dar.
Stellen Sie sich vor, wie die Welt aus­sehen würde, wenn die USA vor Kho­meinis Macht­über­nahme Atom­waffen im Iran sta­tio­niert hätten. Stellen Sie sich vor, wie die Welt aus­sehen wird, wenn Erdogan die ame­ri­ka­ni­schen Atom­waffen beschlagnahmt.
 


A.J. Caschetta ist Ginsburg-Ingerman Fellow am Middle East Forum und Haupt­re­ferent am Rochester Institute of Technology.